# taz.de -- Arzt zu Rückgang bei Organspenden: „Nichtspenden ist der Normalf… | |
> Deutschland profitiert von Ländern mit höherer Organspendebereitschaft. | |
> Axel Rahmel von der Stiftung Organstransplantation fordert eine neue | |
> Debatte. | |
Bild: Eine kombinierte Leber- und Milztransplantation im Universitätsklinikum … | |
taz: Herr Rahmel, Sie haben in dieser Woche aktuelle Zahlen zu | |
Organtransplantationen veröffentlicht. Gut sehen die nicht aus, oder? | |
Axel Rahmel: Wir hatten zu Beginn des vergangenen Jahres einen starken | |
Einbruch bei den Organspendezahlen, der sicher auch mit der Coronapandemie | |
zu tun hatte. Ansonsten stagnieren die realisierten Organspenden seit | |
Jahren auf zu niedrigem Niveau. | |
Und das, obwohl 2020 eine gesetzliche Neuregelung beschlossen wurde, die | |
für mehr Organspenden sorgen sollte. | |
Auf der strukturellen Ebene hat sich tatsächlich etwas getan, die Position | |
des Transplantationsbeauftragten in den Kliniken wurde gestärkt. Es | |
wurden sogar etwas mehr potenzielle Spender gemeldet. Wenn man sich dann | |
die Fälle anschaut, in denen die Spende nicht realisiert werden konnte, | |
dann ist bei der Hälfte eine fehlende Zustimmung der Grund. | |
Der potenzielle Spender wollte also keine Organspende? | |
Das war nur bei einem Viertel der Fall. In über 75 Prozent der Fälle haben | |
die Angehörigen entschieden, weil keine Willensäußerung dazu bekannt war. | |
Und wenn die Familie überhaupt nicht weiß, was der Verstorbene dazu gedacht | |
hat, entscheiden sie sich eher gegen eine Organspende. Das ist in anderen | |
Ländern ganz anders. In Deutschland ist das Nichtspenden der Normalfall. | |
Dabei ist doch in Umfragen die Zustimmung zur Organspende immer sehr hoch. | |
In Umfragen stehen tatsächlich über 80 Prozent der Deutschen hinter der | |
Organspende. Es wurden Millionen Organspendeausweise verteilt. Da muss man | |
nur ein paar Kreuze machen, niedrigschwelliger geht es nicht. Aber die | |
Realität ist, dass wir nur bei 15 Prozent der potenziellen Spender etwas | |
Schriftliches finden – entweder einen Organspendeausweis oder eine | |
Patientenverfügung. | |
Was ist denn aus dem [1][Organspenderegister] geworden, das im März 2022 | |
eingeführt werden sollte? | |
Die Idee dahinter ist, dass möglichst jeder Bundesbürger, jede | |
Bundesbürgerin sich mit der Frage auseinandersetzt und diese Entscheidung | |
dann in einem Online-Register dokumentiert. Aber das verzögert sich | |
offenbar, eine zugleich sichere und bedienungsfreundliche Lösung ist | |
bestimmt nicht unkompliziert. Am Ende hat das Register aber das gleiche | |
Problem wie die Organspendeausweise – die Menschen müssen es auch tun. | |
Das Gesetz sieht auch vor, dass die Hausärzt*innen ihre | |
Patient*innen an eine Entscheidung erinnern. Mich hat mein Hausarzt | |
noch nie dazu angesprochen. | |
Da gibt es jetzt relativ neu den zusätzlichen Anreiz, dass Hausärzte diese | |
Art von Gesprächen alle zwei Jahre abrechnen können. Bei dieser Maßnahme | |
kann ich mir am ehesten vorstellen, dass sie etwas bringt. Erfreulich ist, | |
dass bereits sehr viele Hausärzte Informationsmaterial von der | |
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung angefordert haben. | |
Ist es nicht auch so, dass in Deutschland weniger potenzielle Spender | |
identifiziert werden als in anderen Ländern? | |
Das stimmt, auch da gibt es noch Verbesserungsbedarf. Die | |
Transplantationsbeauftragten sind zwar flächendeckend eingeführt worden, | |
aber deren Schulungen wurden in der Coronazeit eher zurückgestellt. Es ist | |
wichtig, zu wissen, dass es keine allgemeinen Kontraindikationen für eine | |
Organspende gibt. Auch keine Altersgrenzen. Man muss jeden einzelnen | |
individuellen Spender sehr sorgfältig betrachten. | |
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagt nun angesichts Ihrer Zahlen, | |
das Gesetz sei gescheitert und wir bräuchten erneut die Diskussion über die | |
Widerspruchslösung, bei der jede Person grundsätzlich als Organspenderin | |
gilt, solange sie nicht widerspricht. | |
Wenn Sie das Verhältnis von Patienten auf der Warteliste zu den zur | |
Verfügung stehenden Organen sehen, dann ist das weiterhin dramatisch. Jedes | |
Jahr versterben Menschen auf der Warteliste. Und das ist noch gar nicht | |
alles. | |
Wie meinen Sie das? | |
Es gibt in Deutschland geschätzt mehr als 80.000 Dialysepatienten. Auf der | |
Warteliste sind aber nur rund 6.600 Menschen, die auf eine Spenderniere | |
warten. Das ist im internationalen Vergleich ein extrem niedriger Anteil | |
und bedeutet, dass ein Teil der Dialysepatientinnen und -patienten gar | |
nicht mehr auf der Warteliste landet. Vor allem ältere Menschen überleben | |
die Wartezeiten von bis zu 10 Jahren oftmals ohnehin nicht. | |
Sollten wir jetzt nicht erst einmal warten, bis das Gesetz von 2020 richtig | |
umgesetzt ist, oder sprechen Sie sich wie Lauterbach für eine erneute | |
Debatte zur Widerspruchslösung aus? | |
Das ist keine Frage von „oder“. Wir brauchen so oder so ein Online-Register | |
und wir brauchen die Unterstützung der Hausärzte. Aber nur die | |
Widerspruchslösung bringt einen Wandel in der Kultur des Organspendens mit | |
sich. Wenn der Bundestag die Organspende zum Normalfall erklärt, ist das | |
ein starkes positives Zeichen. | |
Kritiker*innen bemängeln, dass der freie Wille damit beschnitten wird. | |
Es gibt bei der Widerspruchslösung überhaupt keinen Zwang zur Organspende. | |
Jeder kann sich dagegen aussprechen, seinen Willen immer wieder ändern und | |
auch die Angehörigen werden noch einmal gefragt. Es entsteht sicher ein | |
gewisser Druck, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Aber das ist ja auch | |
nötig, gerade vor dem Hintergrund, dass täglich Menschen auf der Warteliste | |
versterben. | |
Die Stiftung Patientenschutz sagt, alle Argumente seien schon vor der | |
[2][Gesetzesänderung 2020] ausgetauscht worden, und lehnt eine neue Debatte | |
ab. | |
Die Stiftung Patientenschutz sollte nicht vergessen, dass sie auch die | |
Patienten und Patientinnen vertritt, die auf eine Organspende warten. | |
Vielleicht wirkt immer noch der Organspendeskandal von 2012 nach und | |
erschüttert das Vertrauen? | |
Das war kein Organspende-, sondern ein Transplantationsskandal. | |
In einzelnen Kliniken wurden Patientendaten manipuliert, um bessere Chancen | |
auf eine Transplantation zu haben. | |
Bei den Organspendern haben wir eine Transparenz, die im europäischen | |
Vergleich beispielhaft ist. Auch bei der Erfassung der Empfänger auf den | |
Wartelisten wurde schon vor Jahren für verbesserte Strukturen und | |
transparente Abläufe gesorgt. Regelmäßige Kontrollen in den | |
Transplantationszentren bestätigen das. | |
Apropos europäischer Vergleich: Deutschland ist Teil von Eurotransplant, | |
einem Netzwerk mehrerer europäischer Länder zur besseren Versorgung mit | |
Spenderorganen. Wie viele dieser Länder haben eine Widerspruchslösung? | |
Deutschland ist das einzige Land mit der Entscheidungsregelung. Slowenien | |
hat so eine Art Mischlösung. Alle anderen – Österreich, Belgien, Ungarn, | |
Kroatien – haben die Widerspruchslösung. Die Niederlande haben sie gerade | |
neu eingeführt. | |
Wie viele Organspenden hat Deutschland aus den anderen | |
Eurotransplant-Ländern bekommen und wie viele selbst abgegeben? | |
Wir haben bei allen Organgruppen mehr erhalten für Patienten in deutschen | |
Kliniken, als wir an Spenderorganen abgegeben haben. Deutschland hat 2022 | |
zum Beispiel 96 Herzen importiert und 50 Spenderherzen abgegeben. Insgesamt | |
kommen wir auf 135 Organe, die wir in Deutschland mehr transplantiert | |
haben, als ins Ausland gespendet wurden. | |
Wir profitieren also von den Ländern, bei denen die Widerspruchslösung | |
gilt? | |
Ganz genau. Und in allen diesen Ländern ist die Spendebereitschaft höher | |
als in Deutschland. Ob das allein an der Widerspruchslösung liegt oder | |
generell an einer unterschiedlichen Kultur, kann ich nicht beantworten. | |
Aber es zeigt sich auch in anderen Ländern, dass bei Einführung der | |
Widerspruchslösung nach einer gewissen Zeit kontinuierlich die | |
Organspendezahlen ansteigen. | |
Glauben Sie, dass Ihre Zahlen die Diskussion um eine Widerspruchslösung | |
jetzt noch einmal in Gang bringen können? | |
Die Zahlen sind immer abstrakt, das weiß ich. Das ganze Thema ist abstrakt. | |
Bis es einen betrifft. Man muss gar nicht selbst ein Spenderorgan brauchen. | |
Wenn Sie jemanden kennen, der dreimal die Woche zur Dialyse muss oder eine | |
so starke Herzmuskelschwäche hat, dass er keine zwei Treppenstufen mehr | |
schafft und den ganzen Tag im Bett verbringt, dann ändert das Ihre | |
Einstellung. | |
19 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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