# taz.de -- Archiv für Street Art zu verkaufen: „Eben Kunst auf Zeit“ | |
> Seit 48 Jahren dokumentiert Norbert Martins Street Art in Berlin. Erst im | |
> Westen, dann im Osten. Ein Gespräch über die Vergänglichkeit von | |
> Wandbildern. | |
Bild: Großflächiges Mural vom Berliner Künstler Tank an der Manteuffelstraß… | |
taz: Herr Martins, wie sind Sie zur Fotografie von Wandmalerei gekommen? | |
[1][Norbert Martins:] Ich habe bei einem Spaziergang, das war 1975, das | |
erste Wandbild von Ben Wagin gesehen. „Weltbaum I – Grün ist Leben“ – … | |
Bild, das er 1975 am S-Bahnhof Tiergarten gemalt hat. Es hat mich sehr | |
beeindruckt. Ich habe dann an den damaligen Bausenator geschrieben und er | |
hat mir ein Liste von Malern geschickt, denn es gab einen Wettbewerb zur | |
Wandmalerei. Ich habe eine Liste mit zwölf Adressen bekommen. Dadurch habe | |
ich die Künstler kennengelernt und sie bei der Arbeit fotografiert. Und bin | |
immer mehr in die Szene hineingewachsen. | |
Was ist ihr Lieblingsbild? | |
Von Gert Neuhaus die gebrochene Fassade in Kreuzberg in der Obentrautstraße | |
30. Weil es für mich die perfekte Illusionsmalerei ist. | |
Was ist Ihr Beruf? | |
Ich bin Elektroniker und war bei der Bewag (Berliner Städtische | |
Elektrizitätswerke, heute Vattenfall; Anm. d. Red.) beschäftigt. | |
Also Westberliner? | |
Ja. | |
Die Fotografie der Wandbilder wurde dann mehr und mehr Ihre Leidenschaft? | |
Ja. Die Künstler riefen mich mit der Zeit rechtzeitig an, wenn sie wieder | |
einen Auftrag ausführten. Ich war immer bestens informiert. Und so bin ich | |
in diese Szene hineingekommen. 1989 kam dann mein erstes Buch | |
„Giebelphantasien“ über Wandmalerei in Berlin heraus. Dann fiel die Mauer. | |
Und Sie entdeckten Ostberlin neu. Gab es dort viele Wandbilder? | |
Dort war es so, dass immer, wenn öffentliche Gebäude errichtet wurden, drei | |
Prozent der Bausumme für Künstler gedacht waren. Das heißt für Mosaike, | |
Plastiken, Wandmalereien. Und dadurch gab es dort sehr viele Wandbilder. | |
Gibt es einen Unterschied zwischen der Wandmalerei Ost und West? | |
Den gibt es. Im Osten wurden nicht – wie ich zunächst dachte – sehr viele | |
politische Bilder gemalt, sondern es sind dort viele grafische Wandbilder | |
zu sehen. Das lag auch daran, dass die Künstler nicht so viele Farben | |
bekamen. Also sagen wir mal im Jahr fünf Farben und die haben sie dann in | |
grafischen Elementen umgesetzt. Es gab kaum politische Bilder. Im Westen | |
waren mehr politische Bilder zu sehen. | |
[2][Street Art] hat ja einen Touch von Illegalität, Kunst von unten. Bei | |
Ihren Fotografien zur Wandmalerei geht es allerdings sehr ordentlich zu. | |
In meinen Büchern sind keine illegalen Malereien zu sehen. | |
Warum? | |
Da ich eine Datenbank angelegt habe, um zu wissen, wer was gemalt hat, ist | |
es schwierig, illegale Künstler zu finden, die dazu stehen, was sie gemalt | |
haben. In meiner Datenbank ist immer zu lesen, wer ist der Künstler, wer | |
hat mitgewirkt, wer war der Auftraggeber. | |
Das war Ihnen wichtig? | |
Mich hat interessiert, wo kommt diese Wandmalerei überhaupt her. Es war ja | |
am Anfang Protestmalerei und dann kamen die politischen Bilder, also die | |
der Berliner Hausbesetzerszene. Diese Bilder waren nicht staatlich | |
gefördert. Aber wenn ich wusste, wer das Bild gemalt hat, wurde es in mein | |
Archiv aufgenommen. Viele Künstler wohnten damals im Kulturzentrum Kuckuck | |
am Anhalter Bahnhof. | |
Und wo kommt die Wandmalerei her? | |
[3][Diego Rivera] war der erste, der politische Wandbilder in Mexiko außen | |
an Wände malte. Er war Kommunist. Diese Malerei ist dann nach 1972 über die | |
USA (Rockfeller Center) und England nach Deutschland gekommen. Bremen war | |
die erste deutsche Stadt, die anfing, Wände zu bemalen. Dort wurden | |
Zivilschutzbunker, die man schwer weg sprengen konnte, von Künstlern als | |
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bemalt. | |
Haben Sie Sympathie für die politische Wandmalerei? | |
Ich mache da keinen Unterschied. Hauptsache ich bekomme die Information und | |
es ist eine Auftragsarbeit. Ich freue mich über jedes Wandbild. Ich | |
dokumentiere alles. Manche Bilder passen allerdings nicht ins Stadtbild. | |
Manches fand auch die Bevölkerung nicht so gut. | |
Wie umfangreich ist Ihr [4][Archiv] mittlerweile? | |
Mein Archiv umfasst ungefähr 1.100 Wandbilder und 20.500 Fotos. Ich habe | |
auch dokumentiert, wenn die Bilder wieder verschwunden sind. | |
Gibt es Stadtbezirke mit besonders viel Wandmalerei? | |
Kreuzberg. Dort mache ich auch Führungen. In den letzten Jahren hat sich | |
auch Marzahn hervorgetan. Aber da muss man sehr weite Wege laufen. Und | |
jetzt wurden in der Bülowstraße in Schöneberg, wo das Urban Nation Museum | |
ist, eine ganze Menge Wandbilder neu erstellt. | |
Von der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag gefördert. | |
Die Gewobag gründete die Stiftung Berliner Leben und hatte dadurch die | |
Möglichkeit, unabhängig von den Mieteinnahmen Künstler zu bezahlen. | |
Warum fördert die Gewobag Wandmalerei? | |
Die Wohnungsbaugesellschaften haben deshalb Interesse, weil sie bemalte | |
Häuser auch in schlechteren Lagen besser vermieten können. Sie wollen auch | |
das Umfeld verbessern, die Nachbarschaft fördern. | |
Hat sich die Street Art Szene verändert? | |
Ja. Das liegt daran, dass am Anfang, also 1975, mit einem Gerüst gearbeitet | |
wurde und man hat dann sehr genau gemalt. Da dauerte ein Bild circa | |
anderthalb Monate. Das war Illusionsmalerei wie der Reißverschluss in der | |
Zillestraße oder die Gebrochene Fassade in der Obentrautstraße, beide von | |
Gert Neuhaus. | |
Und heute? | |
Heute arbeiten die Künstler überwiegend mit Spraydosen. Sie brauchen für | |
ein Wandbild nur noch sieben bis zehn Tage. Sie brauchen auch kein Gerüst, | |
weil sie Hebebühnen verwenden. Durch die Sprayer sind die Wandbilder zu | |
Graffiti-Malerei geworden. Die Künstlergruppe die Dixons und einige andere | |
Künstler haben so 2019 ihr Wandbild, die riesige Mona Lisa, an der | |
Giebelwand des East Side Hotel an der Mühlenstraße, Ecke Warschauer Straße | |
angebracht. Das Bild verschwand leider nach nur zwei Monaten. | |
Ihr Archiv, das Sie seit 48 Jahren führen, wollen Sie nun aber verkaufen? | |
Es gestaltet sich schwierig. Vor fünf Jahren hatte sich das Denkmalamt | |
dafür interessiert. Wir hatten verhandelt. Der neue Chef wollte es dann | |
nicht haben. Dann war ich mit dem Kultursenator Klaus Lederer in Kontakt. | |
Er hat das Grußwort für mein 2020 veröffentlichtes Buch „Street Art Galery… | |
geschrieben. Ich suche immer noch jemanden, der sagt, wir nehmen Ihr | |
Archiv. Aber überall fehlt es anscheinend an Leuten, die mein Archiv in | |
ihre Datenbank einpflegen könnten. | |
Was ist mit dem [5][Urban Nation Museum] oder der [6][Stiftung Berliner | |
Leben]? Dort passt Ihr Archiv doch hervorragend hin. | |
Natürlich habe ich schon lange dort vorgesprochen. Ich mache dort ja auch | |
Führungen. Doch auch hier scheitert es nach deren Angaben an Leuten, die es | |
betreuen könnten – und am Geld. | |
Tut es Ihnen weh, wenn der Senat eine Baulücke schließt und ein Bild | |
verschwindet? | |
Hundertprozentig tut es mir nicht weh, weil diese Malerei nicht unter | |
Denkmalschutz steht. Wenn so ein Bild 15 oder 18 Jahre da ist, dann kommen | |
woanders neue Wandbilder. | |
Eine vergängliche Kunst? | |
Kunst auf Zeit eben. So ein Wandbild geht auch kaputt. Und die | |
fortschreitende Wärmedämmung der Häuser trägt ihres dazu bei. | |
1 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] http://norbert-martins-wandbilder-berlin.de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Streetart | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Diego_Rivera | |
[4] http://norbert-martins-wandbilder-berlin.de/ | |
[5] https://urban-nation.com/de/ | |
[6] https://www.stiftung-berliner-leben.de/ | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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