# taz.de -- Aneignung Berlins von unten: Noch Parken oder schon besetzen? | |
> Der Künstler Jakob Wirth bespielt noch bis zum Wochenende verschiedene | |
> Parkplätze in Berlin: „Parasite Parking“ will sich die Stadt von unten | |
> aneignen | |
Bild: Der Künstler auf dem Ikea-Parkplatz in Lichtenberg | |
BERLIN taz | Eine Frau, die gerade auf dem Ikea-Parkplatz ein paar braune | |
Pakete in ihren grauen Mittelklassewagen geladen hat und den Heimweg | |
antreten will, traut sich nicht loszufahren. Vor ihrem Auto steht Marleen | |
Dahms, die ihre Posaune auf das Auto richtet und seltsame Töne produziert. | |
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragt die Autofahrerin und zieht lachend | |
die Schultern hoch. „Einfach losfahren“, antwortet die Musikerin zwischen | |
zwei Rülpsern ihres Instruments und lacht ebenfalls. | |
Das Auto und die Posaune glitzern im Abendlicht auf dem Parkplatz des | |
Möbelhauses in Lichtenberg. Der Künstler, Aktivist und Soziologe Jakob | |
Wirth, der die Musikerin zusammen mit Julian Schenk am Kontrabass und | |
Rafael García am Saxofon zum Kunstprojekt Parasite Parking geladen hat, | |
sieht sehr zufrieden aus. | |
Es ist Mittwochabend und damit der sechste von insgesamt zehn Tagen, in | |
denen Jakob Wirth ohne Genehmigung, aber mit viel Hilfe seines | |
„Kollaborateurs“ Alexander Sacharow auf verschiedenen Parkflächen in der | |
Stadt wohnt, zuerst auf dem [1][Mariannenplatz], dann hier in Lichtenberg, | |
ab Freitag (25. Mai) inklusive Filmvorführung in einem Parkhaus in | |
Neukölln. | |
Den genauen Standort seiner Parkplatzbesetzungen gibt Wirth kurzfristig auf | |
seiner Website unter „[2][parasite-parking.net]“ und auf Instagram unter | |
„[3][@parasite_parking]“ bekannt. Für die Raumnahme hat er ein 2,40 Meter | |
mal 4,80 Meter großes Podest inklusive Bett und Regalelementen, aus | |
Sperrholz gebaut, grau verputzt, mit weißen Parkplatzmarkierungen umrandet, | |
außen mit Spiegelfolie beklebt, darunter kleine Räder, davor ein | |
Nummernschild mit der Aufschrift „Parasite“. | |
## Silberne Satinwäsche | |
Das Bett, in dem Jakob Wirth seit sechs Tagen schläft, ist mit silbern | |
glänzender Satinwäsche bezogen, in einem der kleinen Regale steht farblich | |
abgestimmt eine Espressomaschine und ein Edelstahlkanister fürs Wasser. | |
„Vieles von dem, was man hier sieht, stammt noch vom „Penthaus à la | |
Parasit“, berichtet er – einem kleinen Haus auf einem Neuköllner Mietshaus, | |
das Wirth mit einem Kollegen 2019 gebaut und eine Weile bewohnt hat | |
[4][(taz berichtete)]. „Während die Diskussion um die Enteignung der | |
Deutsche Wohnen gerade erst anläuft, wollten wir schon mal anfangen“, sagte | |
er damals und sprach vom Recht auf Stadt und temporärer Aneignung von oben. | |
Inzwischen ist viel passiert in Berlin: Die [5][Deutsche Wohnen wurde nicht | |
enteignet,] die Mieten sind weiter gestiegen, die Stadt wird von einer | |
CDU-SPD-Koalition regiert, die gerade das Ende der Verkehrswende einläutet, | |
es gibt Razzien bei Klimaaktivist*innen, die ebenfalls gern die Straße | |
okkupieren. Es ist auch viel passiert im Leben von Jakob Wirth. Er hat sein | |
Studium an der Bauhaus-Universität in Weimar und das an der Kunsthochschule | |
Weißensee beendet. Und es geht ihm jetzt eher um Aneignung von unten. | |
Gekommen ist Wirth die Idee [6][mit der Parkraumbesetzung in Chicago], wo | |
derzeit viel Parkraum privatisiert wird. Dort besetzte er temporär erste | |
Parkplätze und erregte [7][damit viel Aufmerksamkeit], ihm sei sogar | |
Gefängnis angedroht worden, wenn er nicht in fünf Minuten weg sei. Aber: | |
„In Berlin ist der Parkraum viel umkämpfter“, meint er. | |
Darum findet er es umso produktiver, noch einmal mit dem komplexen, ja | |
schillernden Begriff Parasit zu arbeiten. „Parasiten“, erklärt er bei einer | |
guten Tasse Kaffee auf seinem Holzpodest am Nachmittag vor dem | |
Parkplatzkonzert, „waren lange negativ konnotiert“. Viele, erklärt er, | |
denken als Erstes an Schmarotzer und Schädlinge, aber auch an die | |
Vereinnahmung des Begriffs durch Sozialdarwinismus und | |
nationalsozialistische Rassenideologie. | |
## In der richtigen Nische andocken | |
Seit den Achtzigern aber, erklärt Wirth, wurde der Parasit von Philosophen | |
wie Jacques Derrida und Michel Serres als Grenzfigur entdeckt. Der Parasit | |
kann einfach nur provozieren und wieder entfernt werden. Wenn er aber gut | |
ist, wenn er wie das glamouröse Stadtmöbel von Jakob Wirth in der richtigen | |
Nische andockt und geschickt seine Oberfläche tarnt, wird er auch | |
integriert und bewirkt Verschiebungen im befallenen System. | |
Im Fall von Ikea, so Wirth, ist die Sache noch nicht ganz entschieden. | |
Zuerst wurde sehr freundlich nachgefragt, dann brachte man ihm Kaffee und | |
sogar einen Schirm. „Ich denke, ich habe es nun mit einer Art Duldung zu | |
tun“, sagt Wirth und lächelt. Anders als am Mariannenplatz, wo er inklusive | |
Karaoke bis zur Erschöpfung in die Nachbarschaft integriert worden sei, | |
begegneten ihm die meist autofahrenden Konsument*innen vorm Möbelhaus | |
eher schuldbewusst. | |
Am Abend, als das Konzert beginnt, ist leicht zu sehen, was Wirth meint. | |
Viele der Passant*innen scheinen einfach nur erschöpft und nach Hause zu | |
wollen. Andere setzen sich mit ernsten Gesichtern zur kleinen Gruppe dazu, | |
die sich um die Musiker*innen versammelt hat. Die Band spielt freien | |
Jazz. Um sie herum parken noch wenige Autos, es ist sinnlos viel Platz | |
entstanden, wie in den leeren Gemälden von Edward Hopper. Ein paar Meter | |
neben den Musiker*innen steht ein Schild von Ikea. Darauf steht: „Doch | |
mehr als Teelichter gekauft? Miete dir einen Transporter.“ | |
26 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Erinnerung-an-den-Fotografen-Paul-Glaser/!5843035 | |
[2] http://www.parasite-parking.net | |
[3] https://www.instagram.com/parasite_parking/?hl=de | |
[4] /Auf-Neukoellner-Daechern/!5596869 | |
[5] /Regierungsbildung-in-Berlin/!5918290 | |
[6] https://art.newcity.com/2021/10/06/a-public-disturbance-a-review-of-parasit… | |
[7] https://theurbanactivist.com/idea/parking-spaces-the-battleground-of-the-fu… | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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