# taz.de -- Antisemitische Straßennamen in Berlin: Kronprinz adé | |
> Ist das Dossier zu antisemitisch belasteten Straßennamen der Auftakt | |
> einer neuen „Cancel Culture“ auf dem Stadtplan? Ein Wochenkommentar. | |
Bild: Klang doch immer so fromm: Martin Luther auf dem Straßenschild in Schön… | |
Die Fülle habe auch ihn erstaunt, sagte der Leipziger | |
Politikwissenschaftler Felix Sassmannshausen am vergangenen Montag bei der | |
[1][Vorstellung eines Dossiers zu Berliner Straßennamen], die vom | |
Antisemitismusbeauftragten des Senat angefordert worden war. Nach | |
Sassmannshausens Rechnung liegen bei 290 der fast 10.000 Straßen und Plätze | |
antisemitische Bezüge unterschiedlicher Tragweite vor – mit denen, so sein | |
Urteil, durchaus unterschiedlich umzugehen sei: Mal führe an einer | |
Umbenennung nichts vorbei, mal könne es genügen, die namensgebende Person | |
mit einer Hinweistafel oder auch einem Informationsangebot im Internet zu | |
„kontextualisieren“. | |
Diese Expertise (im Grunde eine Fleißarbeit, die vorher einfach noch nie in | |
Auftrag gegeben worden war) wird bestimmte gesellschaftliche Gruppen | |
gehörig schmerzen. Allen voran die Hohenzollern-Dynastie, die zuletzt mit | |
ihren Entschädigungsforderungen den Reputationskarren schon ordentlich in | |
den Dreck gefahren hatte: Gleich mehrere ihrer mehr oder weniger | |
bedeutenden Mitglieder – darunter Kaiser Wilhelm Zwo oder dessen längst | |
vergessener Sohn Eitel Friedrich – gehören zur Verhandlungsmasse. | |
Beim „Kronprinzen“, dem Bruder des Letzteren, der Hitler 1932 bei der | |
Reichspräsidentenwahl unterstützte und später in die SA eintrat, lautet die | |
Empfehlung unumwunden: Runter vom Schild (am Kronprinzendamm in | |
Charlottenburg und der Friedrich-Wilhelm-Straße in Reinickendorf). | |
Auch bei der Evangelischen Kirche wird – zumindest hinter verschlossenen | |
Türen – ein Jammern und Wehklagen anheben: Nicht nur für den notorischen | |
Judenhasser Martin Luther wäre es gemäß den Empfehlungen des Dossiers (die | |
der Antisemitismusbeauftrage des Senat, Samuel Salzborn, nach eigener | |
Aussage grundsätzlich unterstützt) vorbei. Auch Figuren wie der Bischof | |
Otto Dibelius und der Pastor Martin Niemöller sind betroffen, deren | |
antisemitische Einstellungen und Äußerungen eigentlich längst bekannt sind, | |
die in der Öffentlichkeit aber meistens durch ihre Gegnerschaft zu Hitler | |
als rechtschaffen gelten. | |
Dass der Antisemitismusbeauftragte das Dossier dieses Jahr in Auftrag | |
gegeben hat, liegt dabei nicht nur an wachsender „Awareness“ und der | |
Tatsache, dass auch schon eine [2][Initiative die Umbenennung der | |
Martin-Luther-Straße fordert]: Vielmehr gibt es erst seit einem Jahr auch | |
die Möglichkeit der Umbenennnung von Straßen, die historische Figuren | |
ehren, deren Wirken nicht direkt – oder wegen der zeitlichen Distanz: gar | |
nicht – mit dem NS-Regime verknüpft war. Das ist den postkolonialistischen | |
AktivistInnen zu verdanken, die sich in den vergangenen Jahren unermüdlich | |
für den [3][Austausch von Straßennamen] etwa im Afrikanischen Viertel | |
eingesetzt haben. | |
## Und wer kommt dann? | |
Nun mögen sich manche fragen: Reißt das jetzt ein? Ist das der Auftakt zu | |
einer Cancel Culture auf dem Stadtplan? Sind als nächstes die preußischen | |
Generäle dran, die Napoleon aus dem Land getrieben haben? Und wer kommt | |
dann? Die Antwort dürfte komplex sein: In etlichen Fällen wird es gerade | |
beim Thema Antisemitismus nichts geben, was zur Ehrenrettung der | |
Gewürdigten genügen würde. Zumal diese Ideologie ja nicht Geschichte, | |
sondern weiterhin bedrohlich lebendig ist. In anderen Fällen, auch das | |
haben Sassmannshausen und Salzborn anklingen lassen, wird es ausreichen, | |
die nötige Distanz per „Kontextualisierung“ zu schaffen. Vor allen Dingen | |
aber wollen sie eine Debatte lostreten – und das ist auch sehr gut so. | |
Denn erstens entscheidet sich an diesen Fragen „nicht der Umgang mit | |
Geschichte im Allgemeinen“, wie der Autor des Dossiers bemerkte. Es geht | |
nicht um „Auslöschung“ historischer Personen – was einem Sich-zurecht-L�… | |
gleichkäme –, sondern darum, wer vorbildhaft genug war, um einen festen | |
Platz im Stadtbild zu verdienen. Das Ergebnis wird da oft nicht von | |
vorneherein feststehen. Ohnehin bleibt es die Aufgabe der einzelnen | |
Bezirke, diese Debatten in der BVV öffentlich auszutragen. Das kann | |
eigentlich nur der politischen Bildung dienen und ist insofern eine | |
großartige Chance. | |
18 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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