| # taz.de -- Angriff auf Gedenken: Mehr als nur ein paar Bäume | |
| > Der Bau einer S-Bahn-Strecke gefährdet das Berliner Denkmal für ermordete | |
| > Sinti und Roma. Nicht nur Vertreter der Minderheit wehren sich dagegen. | |
| Bild: Gedenkstätte für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma im Berline… | |
| Berlin taz | „Wir haben keine Wahl“, sagt Noa Karavan-Cohen. „Jahrelang | |
| haben wir für dieses Mahnmal geworben und gearbeitet. Wir werden nicht | |
| tatenlos zusehen, wie es jetzt einem Akt der Gewalt und des Vandalismus zum | |
| Opfer fällt.“ Noa Karavan-Cohen ist eine der beiden Töchter des | |
| israelischen Künstlers Dani Karavan, der das Denkmal für die im | |
| Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin gestaltet hat. Im | |
| Jahr [1][2012 wurde es feierlich eröffnet]. Etwas mehr als zehn Jahre | |
| später ist es in Gefahr. | |
| Das Denkmal befindet sich in einem unscheinbaren Winkel am äußersten Rand | |
| des Berliner Tiergartens. Tausende Touristen strömen dort auf dem Weg vom | |
| Brandenburger Tor zum Reichstag täglich vorbei. Sie können es leicht | |
| übersehen, denn nur ein schmales Tor in einer Wand aus milchglasfarbenen | |
| Glasplatten führt auf das Gelände. Dort, von gläsernen Informationstafeln | |
| umringt, befindet sich ein runder Brunnen und in dessen Mitte ein | |
| dreieckiger Stein, auf dem eine frische Blume liegt. Das Dreieck soll an | |
| den Häftlings-Winkel erinnern, den Sinti und Roma in den deutschen | |
| Konzentrationslagern tragen mussten. Die Blume auf dem Stein wird | |
| regelmäßig erneuert – als „Symbol des Lebens, der Trauer und der | |
| Erinnerung“, wie der 2021 verstorbene Künstler Dani Karavan vor seinem Tod | |
| verfügte. | |
| Schätzungsweise [2][eine halbe Million Sinti und Roma] – Männer, Frauen und | |
| Kinder – ermordeten die Nationalsozialisten bis 1945. Im kollektiven | |
| Gedächtnis der Deutschen ist der Porajmos (Romanes für „das Verschlingen“… | |
| der Völkermord an den Sinti und Roma Europas, [3][aber wenig verankert]. | |
| Das zeigt sich jetzt wieder: Die Deutsche Bahn plant in der Hauptstadt eine | |
| neue S-Bahn-Strecke, deren Tunnel am Denkmal entlang verlaufen soll. | |
| Ursprüngliche Pläne gingen so weit, das Denkmal für die Bauarbeiten | |
| temporär abzubauen und zu schließen. Jetzt schlägt die Bahn eine | |
| alternative Trassenführung vor, die den Ort aber immer noch einschneidend | |
| verändern würde. | |
| „Das würde das Denkmal ruinieren“, sagt Noa Karavan-Cohen. „Manche sagen: | |
| Es geht doch nur um sieben Bäume. Aber ohne die Bäume wäre der Ort nicht | |
| mehr der gleiche.“ Denn sieben Bäume wären nur innerhalb des | |
| Mahnmal-Geländes selbst betroffen. Aber außerhalb des Geländes müssten 40 | |
| weitere Bäume gefällt werden. Und: Wenn der Tunnel wie vorgesehen gegraben | |
| wird, kann man dort keine Bäume dieser Größe mehr einsetzen, sondern | |
| bestenfalls noch ein paar Büsche. „Mehr gäbe der Boden dann nicht her“, | |
| sagt Karavan-Cohen. Das würde den Charakter des Gedenkorts stark verändern. | |
| „Es ist wie ein geschlossener Garten. Man sieht und hört die Stadt um sich | |
| herum nicht“. Ohne die Bäume würde der Platz offener daliegen und den Blick | |
| auf die Umgebung freigeben. | |
| ## Denkmal wurde „weitgehend übersehen“ | |
| Das sieht auch die Historikerin Jana Mechelhoff-Herezi so. Sie arbeitet bei | |
| der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Das vom | |
| Architekten Peter Eisenman entworfene und 2005 eröffnete Stelenfeld mit | |
| Museum unweit des Brandenburger Tors ist weltweit bekannt und ein | |
| Besuchermagnet. Das Roma-Denkmal ist eines von drei weiteren Denkmälern, | |
| das von ihrer Stiftung betreut werden, [4][Mechelhoff-Herezi ist dafür | |
| zuständig]. Das Roma-Denkmal sei bei den Planungen anfangs „weitgehend | |
| übersehen“ worden, sagt sie. Fest stand nur, dass die S-Bahn-Trasse nicht | |
| zu nah am Reichstag oder am Holocaust-Mahnmahl entlangführen sollte. Das | |
| Roma-Denkmal sei dagegen als vernachlässigbare Größe behandelt worden – und | |
| im Grunde gelte das bis heute. | |
| „Würde man am Holocaust-Denkmal herumgraben, dann gäbe es sicher heftigere | |
| Reaktionen“, meint sie. Zudem habe sich der Zentralrat der Sinti und Roma | |
| sehr entgegenkommend gezeigt – aus Furcht, andernfalls antiziganistische | |
| Reaktionen zu provozieren. „Der Zentralrat war lange der einzige | |
| Ansprechpartner der Politik“, sagt Mechelhoff-Herezi. Er [5][spräche aber | |
| nicht für die Mehrheit der Sinti und Roma] in Deutschland. Zudem habe das | |
| Denkmal europäische Relevanz. Schließlich lebt die Mehrheit der Sinti und | |
| Roma in Osteuropa und in Spanien. | |
| Der Musiker und Politiker Romeo Franz vertritt die Bundesvereinigung der | |
| Sinti und Roma und sitzt für die Grünen im EU-Parlament. Mehrere seiner | |
| Angehörigen starben einst in Konzentrationslagern, seinem in Auschwitz | |
| ermordeten Großonkel ist am Denkmal eine Tafel gewidmet. Romeo Franz hat | |
| auch eine Melodie komponiert und eingespielt, die man hört, wenn man den | |
| Gedenkort betritt. | |
| Sollte der Berliner Senat an den Plänen der Deutschen Bahn festhalten, wäre | |
| das „ein Schlag ins Gesicht“ der Betroffenen, sagt Franz, eine „Ohrfeige | |
| sondergleichen“. Dass dem Roma-Denkmal gegenüber nicht so viel Sensibilität | |
| wie dem Holocaust-Mahnmahl entgegengebracht werde, empfindet er als | |
| „Missachtung“ seiner Minderheit. Sollte keine andere Trassenführung | |
| gefunden werden, „dann wird es sicher Proteste geben“, sagt Franz voraus. | |
| „Dann kann sich die Senatorin auf heftigen Gegenwind gefasst machen, auch | |
| auf europäischer Ebene“. Er hoffe aber, dass es noch anders komme. | |
| Ende September lud der Berliner Senat zu einem Krisengespräch, an dem | |
| Vertreter verschiedener Roma-Organisationen, der Denkmalsstiftung sowie Noa | |
| Karavan-Cohen teilnahmen. Dort präsentierte die Deutsche Bahn ihre Pläne | |
| als letztlich alternativlos. Noa Karavan-Cohen, Romeo Franz und andere | |
| wandten sich darauf Mitte Oktober in einem offenen Brief an die zuständige | |
| Senatorin Manja Schreiner (Verkehr) und ihren Kollegen Joe Chialo (Kultur), | |
| beide in der CDU, und pochten erneut auf eine alternative Route. Dass | |
| ausgerechnet die Deutsche Bahn – als Nachfolgerin der [6][Reichsbahn, die | |
| Sinti und Roma einst zu Tausenden in den Tod deportierte] – die Zukunft des | |
| Denkmals bedroht, stößt ihnen besonders bitter auf. Unterzeichnet haben den | |
| Brief zahlreiche Fachleute und Prominente, darunter der Dirigent Daniel | |
| Barenboim, Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die Schauspielerin Iris | |
| Berben und der Regisseur Wim Wenders. | |
| Zum Stand der Planungen hüllen sich die zuständigen Senatoren Schreiner und | |
| Chialo seitdem in Schweigen: Man wolle sich nicht äußern, weil man noch mit | |
| allen Beteiligten im Gespräch sei. Es sei aber „davon auszugehen, dass der | |
| Senat zeitnah eine Entscheidung fällt“, heißt es aus dem Haus der | |
| Verkehrssenatorin. | |
| Die neue Bahnstrecke sei „ein wichtiger Baustein für ein zukunftsfähiges | |
| Berliner S-Bahn-System“, erklärte indes ein Bahnsprecher der taz. Der | |
| Schutz des Denkmals nehme „eine Schlüsselrolle“ ein. Ein endgültiges Votum | |
| für eine konkrete Bauvariante stehe aber noch aus. | |
| Noa Karavan-Cohen ist skeptisch. In dieser Woche könnte eine endgültige | |
| Entscheidung fallen, hat sie gehört. „Mein Eindruck ist: Die Deutsche Bahn | |
| will nicht von ihren Plänen abrücken. Sie besteht darauf. Und wir können | |
| das nicht akzeptieren.“ Sollte sich der Berliner Senat dafür entscheiden, | |
| den Plänen der Bahn zu folgen, werde sie dagegen vor Gericht ziehen. „Es | |
| ist unsere Verantwortung und Pflicht, das Kunstwerk zu bewahren.“ | |
| 13 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Mahnmal-fuer-den-Genozid-an-Sinti-und-Roma/!5081121 | |
| [2] /Historiker-ueber-Deportationen-im-Norden/!5876226 | |
| [3] /Denkmal-fuer-ermordete-Sinti-und-Roma/!5886987 | |
| [4] /Zum-Roma-Day-in-Berlin/!5583449 | |
| [5] /Sinti-und-Roma-Verbaende-einigen-sich/!5947150 | |
| [6] /Aus-dem-taz-magazin/!5186575 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Bax | |
| ## TAGS | |
| Sinti und Roma | |
| Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti | |
| Zentralrat Deutscher Sinti und Roma | |
| Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti | |
| Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti | |
| Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma | |
| Kolumne Die Woche | |
| S-Bahn Berlin | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Antiziganismus | |
| NS-Verfolgte | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Erinnerung an ermordete Sinti und Roma: Protest gegen Baupläne am Mahnmal | |
| Für eine Bahnstrecke soll das Mahnmal für die im NS ermordeten Sinti*zze | |
| und Rom*nja in Berlin beschädigt werden. Verbände rufen für Samstag zur | |
| Demo auf. | |
| Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Die Aushöhlung des Gedenkens | |
| Unter dem Mahnmal des Porajmos in Berlin ist ein S-Bahn-Tunnel geplant. | |
| Hinterbliebene fürchten um das Gedenken. Doch Senat und Bahn wiegeln ab. | |
| Sinti- und Roma-Mahnmal in Berlin: Baumgroße Erinnerungslücken | |
| Der S-Bahn-Bau unter dem Tiergarten bedeutet Rodungen am Mahnmal für die | |
| von den Nazis ermordeten Sinti und Roma. Organisationen wehren sich. | |
| Kiffen, Kinder und Kritik am ÖRR: Gedankenlosigkeit und Denkmäler | |
| Cannabis wird teillegalisiert, der Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung | |
| stößt auf Kritik und manche wünschen sich neue Öffentlich-Rechtliche. | |
| Denkmal für ermordete Sinti und Roma: Umstrittene S21 kann kommen | |
| Der Senat gibt grünes Licht für Tunnelprojekt unter dem Tiergarten. Scharfe | |
| Kritik kommt von einem Sinti- und Roma-Funktionär. | |
| Kelly Laubinger über Diskriminierung: „Genug Rassismus für alle da“ | |
| Die Sinteza und Aktivistin Kelly Laubinger sah als Kind, wie die Polizei | |
| ihre Puppen durchsuchte. Ein Gespräch über das Leben unter Generalverdacht. | |
| Grabstätten von Roma und Sinti: Endlich ist Ruhe | |
| Gräber von Sinti und Roma fallen auf: Groß, kitschig, raumgreifend. Doch | |
| eine spezifische Bestattungskultur gibt es nicht – dafür viele Klischees. | |
| Antiziganismus in Hannovers Verwaltung: Rassismus von Amts wegen | |
| Eine zwei Jahre alte Studie macht plötzlich Furore. Sie weist Hannover | |
| antiziganistische Strukturen nach. Dabei ist die Stadt nur ein Beispiel. | |
| Initiatorin über Deportierten-Denkmal: „Ein richtiger Ort des Gedenkens“ | |
| Die Forschung ist noch nicht abgeschlossen: In Flensburg erinnert nun ein | |
| kleiner Platz an deportierte Sinti und Roma – mit Platz für weitere Namen. |