| # taz.de -- Aus dem taz-magazin: "Zug der Erinnerung" trotz Widerstand | |
| > Ein ehrenamtliches Projekt zeigt, wie die Reichsbahn von | |
| > Holocaust-Deportationen profitierte. DB-Chef Mehdorn war dagegen und | |
| > verdient nun daran. | |
| Bild: Die Deportationen fanden in der Regel in aller Öffentlichkeit statt. | |
| Zärtlich fast schichtet Manuel Jußen mit schwarzen, schweren Händen kleine | |
| Holzscheite in den Bollerofen seines Waggons. Ganz klar, der Mann ist vom | |
| Fach. Auf der Herdfläche des Ofens brutzelt ein Pfannkuchen, gut zwei | |
| Finger dick. Langsam weicht die Winterkälte im Waggon auf Gleis 24 des | |
| Leipziger Hauptbahnhofs wohliger Wärme - und wenn man den Zweimetermann, | |
| das Gesicht voll Ruß, in seinem ölgetränkten Blaumann so anschaut, wagt man | |
| seiner knappen Anordnung nicht zu widersprechen. Jetzt solle man sich doch | |
| endlich an das Tischchen setzen und Pfannkuchen essen. Der 35-jährige | |
| Heizer der Dampflok - man ahnt es - kann auch ganz anders. Und Bahnchef | |
| Hartmut Mehdorn hat das wohl zu spüren bekommen. | |
| Manuel Jußen hat nämlich mit seiner Dampflok den "Zug der Erinnerung" auf | |
| die Schiene gebracht, ein Projekt, das wahrzunehmen Mehdorn sich jahrelang | |
| scheute wie, sagen wir, Eis auf der Oberleitung, um in der Sprache des | |
| störrischen Bahnchefs zu bleiben. Der Boss der Deutschen Bahn AG, Oberster | |
| von gut 230.000 Mitarbeitern, befehdete die rollende Ausstellung, als sei | |
| sie ihm eine persönliche Schande. Dabei will sie nur dem Gedenken an die | |
| während der nationalsozialistischen Zeit von der Reichsbahn deportierten | |
| Kinder und Jugendlichen aufhelfen. Mehdorn aber wollte diese Ausstellung | |
| nicht, und das mit einer Verbissenheit, die selbst Freunde der Bahn ratlos | |
| machte. Aber schlimmer noch für die Bahn, die Nachfolgerin der Reichsbahn: | |
| Mehdorn vermochte es bisher nicht, die Fahrt durch finanzielle Forderungen | |
| unmöglich zu machen. Nun bewegt sich dieser "Zug der Erinnerung" doch - und | |
| wie! | |
| "Mehdorn hat gesagt, ihr fahrt nicht - ich habe gesagt, wir fahren", sagt | |
| Jußen bissig mit einem Seitenblick auf seine Pfannkuchen. "Mehdorn hat | |
| einen Sturkopf - den habe ich auch, und deshalb fahren wir jetzt." Was sich | |
| anhört wie der Größenwahn eines kleinen Eisenbahners, kommt im Großen und | |
| Ganzen hin. Denn dem Heizer Jußen, der früher Medizin studiert hat, gehört | |
| die "preußische P8 '2455 Posen' ". Von der Rumänischen Staatsbahn hatte er | |
| vor zehn Jahren fünf Dampflokomotiven, mehr oder weniger Schrott, gekauft, | |
| vier an deutsche Eisenbahnmuseen weiterverkauft und mit diesem Erlös die | |
| fünfte behalten. Mit viel Liebe hat er sie wieder fahrtüchtig gemacht, | |
| allein das hat über eine halbe Million Euro verschlungen. Nun schnauft sie | |
| wieder, seine P8, eine Lokomotive unter Dampf, die bei ihrer Fertigstellung | |
| im März 1919 mit 1.150 PS und einer Spitzengeschwindigkeit von hundert | |
| Stundenkilometern die stärkste Personenzuglok Preußens war. | |
| Jußen vermietet mit seinem Unternehmen "Länderbahnreisen" sein fauchendes | |
| Ungeheuer. Die "2455 Posen" und seine Dienste bot er zum Vorzugspreis dem | |
| "Zug der Erinnerung" an, einem Projekt mehrerer Bürgerinitiativen. Zusammen | |
| mit anderen Idealisten booteten sie so den desinteressierten Mehdorn aus. | |
| Denn seit der Bahnreform von 1994 dürfen auch private Unternehmen auf den | |
| Gleisen der Eisenbahnen des Bundes verkehren. Der Bahnchef musste sich | |
| fügen. Doch auf auf kaltem Wege, wie lächerlich, drangsaliert er das | |
| Projekt wie eh und je. | |
| Ebendies erschließt sich jedem auf Anhieb, sobald man aus dem nun mollig | |
| warmen Technikwaggon Jußens am Ende des "Zuges der Erinnerung" steigt und | |
| auf das zugige Gleis 24 des Leipziger Hauptbahnhofs tritt. Es liegt am | |
| Randes des größten Kopfbahnhofs Europas. Kein Plakat wirbt an den | |
| Haupteingängen des Gründerzeitgebäudes für die Schau. Die rollende | |
| Ausstellung, seit November 2007 auf deutschen Gleisen, macht jeweils ein | |
| paar Tage in Bahnhöfen größerer Städte halt. Am 8. Mai dieses Jahres soll | |
| sie in Auschwitz enden. Wenn alles klappt. Denn nach Auskunft von | |
| Hans-Rüdiger Minow, einem Sprecher des "Zugs der Erinnerung", wird die | |
| Dampflok mit ihren beiden Ausstellungswaggons von der Bahn massiv | |
| behindert. Die Deutsche Bahn AG fordert von den Initiatoren des "Zugs der | |
| Erinnerung" eiskalt und berechnend "Trassengebühren" und "Stationspreise", | |
| also Gebühren für die Nutzung der Schienen und Gleise - während der Fahrt | |
| und in den Bahnhöfen. Nach Auskunft der Initiatoren kostet sie der | |
| Aufenthalt auf den Bahnsteigen je nach Bedeutung eines Bahnhofs zwischen | |
| 225 und 450 Euro - zu zahlen an die Bahn AG. | |
| Bis Anfang Mai wird die Deutsche Bahn also bis zu achtzigtausend Euro durch | |
| den "Zug der Erinnerung" eingenommen haben. In Mannheim beispielsweise | |
| forderte der Konzern neunhundert Euro für den Strom und dreihundert Euro | |
| obendrein für den Gebrauch von Stromkabeln. "So geht das hier am laufenden | |
| Band", sagt Projektsprecher Minow, "man hat alles getan, um die Fahrt zu | |
| verhindern." Dennoch haben bisher etwa 85.000 Besucher die Schau gesehen - | |
| und das, obwohl die Initiatoren aus Geldmangel nicht viel Werbung für sie | |
| machen können. Die Forderungen der Bahn sind umso bitterer, als diese Schau | |
| ja daran erinnert, wie sehr die Reichsbahn, ihre Vorläuferin also, am | |
| Transport der Juden in die Vernichtungslager profitierte. | |
| Trocken schreibt Susanne Kill, offizielle Konzernhistorikerin, in einer | |
| bahneigenen Publikation zu den Deportationen: "Die Kosten für die | |
| Transporte stellte die Reichsbahn den Auftraggebern, dem | |
| Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und der Sicherheitspolizei, in Rechnung. | |
| Grundlage der Berechnung war der Tarif für die Personenbeförderung in der | |
| 3. Klasse, der 1942 vier Pfennig pro 'Personenkilometer' betrug. Kinder | |
| unter zehn Jahren zahlten die Hälfte, Kinder unter vier fuhren umsonst." | |
| Mengenrabatt gewährte die Reichsbahn auch: "Ab 400 Personen wurden | |
| Preisnachlässe für die Sonderzüge, die für ihre Insassen den Tod | |
| bedeuteten, gewährt. In Deutschland waren die Fahrtkosten von den Juden | |
| selbst zu entrichten, d. h. an die Gestapo abzuführen." Etwa drei Millionen | |
| Menschen transportierte die Bahn laut NS-Forschern in die | |
| Vernichtungslager. Man tritt gewiss niemandem zu nahe, stellt man kühl | |
| fest: De facto verdiente die Deutsche Bahn früher - und sie tut es heute | |
| wieder - am Holocaust. Damals an den Deportationen, heute an der Erinnerung | |
| an sie. | |
| Aber wird diese Sichtweise der Bahn wirklich gerecht? An der Basis des | |
| Konzerns zumindest, so erzählen es Minow und der Heizer Jußen | |
| übereinstimmend, wird der "Zug der Erinnerung" von den mehr oder weniger | |
| einfachen Eisenbahnern unterstützt, ja überhaupt erst möglich gemacht. | |
| Einer von ihnen ist wahrscheinlich der Chef des Leipziger Bahnhofs, der | |
| gerade auf dem Gleis 24 steht - genauer ist das nicht zu sagen, denn der | |
| wackere Mann will zu der ganzen Kontroverse über die Gebühren gar nichts | |
| sagen. Immerhin, er ist da, gewiss auch, um an diesem Tag den sächsischen | |
| Ministerpräsidenten Georg Milbradt zu begrüßen. Der stattet dem "Zug der | |
| Erinnerung" einen offiziellen Besuch ab. Nach etwas Klezmermusik eines | |
| Geigers am Bahnsteig, gestört durch Bahnhofslärm, hält der eher schüchterne | |
| Landeschef eine Rede vor den ochsenblutroten Waggons des "Zugs der | |
| Erinnerung". Lobt die Ausstellung und warnt vor Neonazis - den Streit über | |
| die "Trassengebühren" erwähnt er mit keiner Silbe. | |
| Hierauf angesprochen, weicht der CDU-Politiker aus, das müsse "die Bahn | |
| selber entscheiden", er wolle sich "nicht dazu äußern". Die Bahn sei ja | |
| "kein Staatsunternehmen mehr" und überhaupt sei das Ganze eine | |
| "bundespolitische Angelegenheit". Außerdem habe der Freistaat das Projekt | |
| ja mit 25.000 Euro unterstützt. Ende der Durchsage. | |
| Mutiger waren da bisher der thüringische Verkehrsminister Andreas | |
| Tautvetter und sein Ministerpräsident Dieter Althaus, beide ebenfalls | |
| Männer der Union. Ersterer forderte den Bahnvorstand dazu auf, auf seine | |
| Mietforderungen für das ehrenamtliche Projekt zu verzichten, Letzterer | |
| übernahm die Schirmherrschaft über die Fahrt durch Thüringen. Unter Druck | |
| gesetzt wurde Mehdorn auch von sieben Bundestagsabgeordneten aller | |
| Parteien, die ihm mehr als deutlich nahelegten, dem Gedenkzug doch | |
| wenigstens den Betrag zu spenden, der für den Gebrauch von Trassen und | |
| Bahnhöfen nötig sei. | |
| Denn das ist das einzige, allerdings ziemlich schwache Argument der Bahn | |
| für die Mietforderungen: Man sei gesetzlich dazu verpflichtet. | |
| Andererseits: Gibt es angesichts des Millionenwerbeetats der Bahn wirklich | |
| nicht genug Geld, um zumindest per Spende den "Zug der Erinnerung" zu | |
| unterstützten? Auch diese Zahl mag die Absurdität dieses Falls bilanzieller | |
| Engherzigkeit verdeutlichen: Mehdorns Gage beläuft sich auf drei Millionen | |
| Euro pro Jahr - die "Trassengebühren" machen etwa drei Prozent dieser Summe | |
| aus. | |
| Neben Milbradt steht am Gleis 24 als eine Art Ehrengast auch Rolf | |
| Isaacsohn, ein zurückhaltender Mann von 74 Jahren. Der frühere Vorsitzende | |
| der Jüdischen Gemeinde Leipzigs wurde als Elfjähriger zusammen mit seinem | |
| Vater von hier aus nach Theresienstadt deportiert. Es war der letzte | |
| Transport aus Leipzig am 14. Februar 1945. Vom tags zuvor bombardierten | |
| Dresden sahen die Verschleppten durch die Schlitze des Waggons nur den | |
| Widerschein der brennenden Stadt am Horizont - die Transporte der letzten | |
| Juden Leipzigs in ein Vernichtungslager waren den Nazis wichtiger als die | |
| Hilfe für Dresden. | |
| Fast fünf Tage war Isaacsohn unterwegs, zusammen mit vierzig anderen | |
| Personen in dem Viehwaggon. Der Wagen wurde nicht ein einziges Mal | |
| geöffnet, nur ein Eimer stand für die Notdurft der Deportierten in einer | |
| Ecke. "Nach einem Tag war der ", sagt Isaacsohn, und schweigt. Sein Vater | |
| und er haben "glücklicherweise überlebt", wie er sagt, eine Oma, eine | |
| Cousine und eine Tante wurden in Treblinka ermordet. Die Gebühren der Bahn | |
| für den "Zug der Erinnerung" sind ihm "unverständlich", sagt Isaacsohn | |
| vorsichtig, das seien doch "geringe Kosten". Und außerdem: "Die Bahn hat ja | |
| damals daran verdient." Dann rückt er seine Brille zurecht und wendet sich | |
| der Ausstellung zu, still. | |
| Schneller und lauter quetschen sich Schülerinnen und Schüler aus Leipzig | |
| durch die Schau. An manchen Tafeln hängen verblühte Rosen und Nelken, | |
| Zeichen der Anteilnahme. Die Neunt- und Zehntklässer des Johannes-Kepler- | |
| und des Geschwister-Scholl-Gymnasiums sind cool - oder wollen es zumindest | |
| sein. Einsilbig reagieren sie auf die Frage, was sie von der Ausstellung | |
| halten, und vielleicht haben sie recht, dass solche Fragen auch irgendwie | |
| doof sind. "Cool", sagt immerhin die vierzehnjährige Sarah, sei die | |
| Ausstellung, "sehr bewegend", schiebt sie nach, als sie merkt, dass "cool" | |
| vielleicht nicht ganz das richtige Attribut ist. Ihre Großeltern, sagt sie, | |
| erzählten ja so gut wie nichts von der Nazizeit, dabei könne man "davon | |
| eigentlich nicht genug wissen". Sarah wirkt eher unbeschwert und etwas | |
| frech. Aber auch sie hat von den "Trassengebühren" für die Schau in der | |
| Zeitung gelesen und versteht nicht, "dass die deutsche Bahn dagegen ist". | |
| Sarah hat sich mit anderen Schülerinnen und Schülern ihres Gymnasiums in | |
| einer Projektgruppe darum gekümmert, ein paar Namen und Geschichten von | |
| deportierten Kindern und Jugendlichen aus Leipzig zu recherchieren und sie | |
| in der Ausstellung auf eigens angefertigten Tafeln vorzustellen - außerhalb | |
| des Unterrichts. | |
| Ute Becker, ihre Klassen- und Geschichtslehrerin, ist stolz auf ihre | |
| Schülerinnen und Schüler, die so eifrig waren: "Sie waren begierig, das so | |
| ordentlich wie möglich zu machen", sagt die 47-Jährige, die eine weiße Rose | |
| in der Ausstellung zurücklässt. Gut funktioniere der Ansatz der Schau, die | |
| Geschichte der Deportationen an den Schicksalen von Kindern und | |
| Jugendlichen aus ganz Europa zu erzählen, sagt sie, immer wieder höre sie | |
| Reaktionen wie: "Mensch, die war so alt wie ich", berichtet die Lehrerin, | |
| "schon das bewegt." | |
| Anne Berghoff, geboren 1965, erzählt Ähnliches. Sie ist eine von zwei | |
| pädagogischen Mitarbeitern, die seit Wochen unter schlichtesten Bedingungen | |
| auf dem Zug mitfahren und den Besuchern als Ansprechpartner dienen. Die | |
| meisten seien "sehr betroffen", sagt sie im Technikwaggon Jußens, viele | |
| bedankten sich für die Ausstellung, manche müssten "um Fassung ringen", ja | |
| versuchten vor lauter Hilflosigkeit "Körperkontakt herzustellen". Genau | |
| genommen erzähle die Ausstellung ja "keine neue Geschichte". Aber offenbar | |
| sei der Zugang zu dieser Schau im fast öffentlichen Raum, in dem bekannten | |
| und alltäglichen Umfeld eines Bahnhofs und dank der Biografien von Kindern | |
| und Jugendlichen so "niederschwellig", dass sie die Leute berühre. "Die | |
| meisten" hätten geradezu ein Bedürfnis, ihr "totales Unverständnis" für das | |
| Vorgehen der Bahn zu äußern. Martin Rapp, ein Kollege, macht immer öfter | |
| die gleichen Erfahrungen. Am Ende der Ausstellung sitzt er auf einem | |
| schiefen Stuhl und wird wieder und wieder auf das verstockte Verhalten der | |
| Bahn gegenüber der Schau angesprochen. | |
| Brigitte Richter und Annerose Tuttas, 1942 als Zwillinge geboren, müssen | |
| Rapp unbedingt von ihrem Vater erzählen, der hier im Leipziger Güterbahnhof | |
| in letzter Minute eine Familie vor der Deportation rettete. Brigitte | |
| Richter war früher bei der Bahn - "eine Berufung, wenn man das richtig | |
| macht", schwärmt sie. Die Händel um die Gebühren für den "Zug der | |
| Erinnerung" machen sie giftig: "Jetzt lassen sie sichs noch mal bezahlen. | |
| Da muss man doch Haltung zeigen." | |
| Die Deportationen der Juden fanden in Deutschland in aller Öffentlichkeit | |
| statt, auch deshalb ist den Initiatoren eine Ausstellung an den öffentlich | |
| zugänglichen Bahnhöfen wichtig. Unter dem Decknamen DA - das für "David" | |
| stand oder für "Deutsche Aussiedler" - fuhren die Deportationszüge durch | |
| ganz Europa, oft am helllichten Tag. Schon während der meist tagelangen | |
| Fahrt starben viele in den überfüllten Waggons. Manchmal standen die Züge | |
| stundenlang auf Abstellgleisen und Bahnhöfen, mitten in Deutschland, ohne | |
| dass irgendjemand half. | |
| Zitiert wird eine Postkarte der 1943 ermordeten Niederländerin Hertha | |
| Aussen, die sie noch im "Sonderzug" schreiben konnte und irgendwie den Weg | |
| zu ihren Lieben fand. Darauf schreibt sie: "Mein liebes Nettchen, die | |
| letzte Abschiedskarte bekommst Du aus dem Zug. So wie Du sehen kannst. Wir | |
| sitzen hier mit vierzig Menschen und Gepäck, und es ist sehr stickig in dem | |
| Viehwaggon. Wir sind voll guter Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen in | |
| unserem geliebten, kleinen Holland. Leb wohl, ein Kuss, Hertha." | |
| Die Ausstellung im "Zug der Erinnerung" thematisiert schmerzlich auch die | |
| Mitarbeit der Eisenbahner an der Deportation - und ihre nach 1945 nahtlos | |
| weiterlaufende Karriere bei der Bundesbahn. So etwa erklärte der | |
| Fahrplanorganisator der "Ostbahn", Walter Stier, Treblinka sei für ihn | |
| einfach "ein Ziel" gewesen, "weiter nichts". Er leitete die Gruppe | |
| "Sonderzüge", blieb aber nach Kriegsende straffrei und war bei der | |
| Bundesbahn in Frankfurt am Main dann ebenfalls Spezialist für "Sonderzüge", | |
| dieses Mal für sogenannte Gastarbeiter. Ein anderer war Martin Zabel, der | |
| vor 1945 Fahrplananordnungen für Züge ins KZ unterschrieb und sich nach dem | |
| Krieg mit der Aussage behalf: "Ich habe zwar mal meine Unterschrift | |
| gegeben, aber zuständig war ich nicht." Zabel wurde nach 1945 Vizepräsident | |
| der Bundesbahndirektion Kassel. | |
| Der einzige Bahner, der jemals wegen Beteiligung am Massenmord in der | |
| Bundesrepublik vor Gericht stand, war der 1905 in Passau geborene Albert | |
| Ganzenmüller, seit 1942 Vizereichsbahngeneraldirektor und mit den | |
| Deportationen "persönlich befasst". Der Prozess gegen ihn wurde 1977 "wegen | |
| Verhandlungsunfähigkeit" eingestellt, er starb 1996. Besonders krass | |
| leugnete der Reichsbahner Albrecht Zahn, der Fahrpläne für Transporte in | |
| das Konzentrationslager Treblinka unterzeichnete, jede Schuld. Er erklärte: | |
| "Möglich, dass die Fahrplananordnung 565 meine Unterschrift trägt, aber sie | |
| geriet sicherlich nur versehentlich in meinen Aktenstapel und ist nichts | |
| ahnend von mir unterschrieben worden." Zahn wurde nach dem Krieg | |
| Bundesbahndirektor in Stuttgart. Schnell wird klar, warum der "Zug der | |
| Erinnerung" der Bahn unliebsam ist. | |
| Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, die Nacht wird kurz. Um vier Uhr soll es | |
| losgehen, von Leipzig nach Braunschweig. Mit einer Dampflok! Auch das ist | |
| für manche ein Anreiz, zur Ausstellung zu kommen. Eigentlich, erklärt der | |
| Heizer Jußen, sei der Gebrauch von Dampfloks teurer als der von Diesel- | |
| oder Elektroloks. Da aber Letztere stundenweise auch beim Stehen bezahlt | |
| würden, sei die Dampflok am Ende billiger - auch dies ein Argument für | |
| seine qualmende Lokomotive. | |
| Jußen ist so aufgedreht wie müde. Wenn er oben auf dem Führerstand seiner | |
| Lok steht, um sie für die Fahrt vorzubereiten, schauen immer wieder | |
| Eisenbahnfans unten vom Gleis aus sehnsüchtig hinauf. Nachdem sie jeden | |
| Zentimeter der Lokomotive fotografiert haben, versuchen sie, ihn in ein | |
| Gespräch zu verwickeln und durch kluge Fragen zur Maschine ihre | |
| Kennerschaft unter Beweis zu stellen. Jußen, der auf seiner Homepage | |
| ausführlich für den "Zug der Erinnerung" wirbt und Fotos von deportierten | |
| Kindern hineingestellt hat, spricht verächtlich über das | |
| "Fotofuzzigesindel" und über die Eisenbahntraditionsvereine, die nur die | |
| Technikgeschichte interessiert. Die Geschichte der Bahn sei immer auch | |
| Politik- und Gesellschaftsgeschichte, betont er mehrmals - und diese | |
| Ausstellung "eine Chance, aus der Technikfreakecke auszubrechen und etwas | |
| zu machen, was Bedeutung hat". Viele Bahner "wollen sich mit diesen Sachen | |
| nicht beschäftigen". Anstrengend sei das und es störe die Nostalgie. Eher | |
| selten anzutreffen sei das historische Verantwortungsgefühl eines Ulmer | |
| Traditionsvereins, der mit seiner "58er"-Dampflok zeitweise den "Zug der | |
| Erinnerung" zog. Diese Lok hatte auch Deportationszüge nach Auschwitz | |
| gefahren: "Ein Zeitzeuge, aber im negativen Sinne", sagt Jußen, "ein | |
| technisches Denkmal." | |
| Pünktlich um vier Uhr morgens steht Jußen vor dem Ofen seiner Lok und | |
| schippt Kohle vom Tender in den Feuerkessel. Wie ein erwachter Drache | |
| schnauft und zischt die P8, das "Ruhefeuer" im Bahnhof ist beendet, das | |
| Feuer und die Glut in der "Feuerkiste" kontrastierten perfekt mit der | |
| Schwärze der Lok und dem Dunkel der Nacht. Es fällt nicht schwer, zu | |
| verstehen, warum diese alte Technik noch heute überall so viele begeistert. | |
| Die beiden Lokführer Holger Kames und Torsten Ratke steigen zu, | |
| ehrenamtlich helfen sie dem "Zug der Erinnerung". Jetzt geht es los, mit | |
| einem Pfeifen, natürlich. | |
| Jußen schaufelt Kohle und überprüft den Druck - weniger als etwa acht Bar | |
| darf es im Kessel nicht geben. In dieser Nacht wird Jußen Kohle im Wert von | |
| tausend Euro verfeuern, insgesamt fünf Tonnen, alles mit einer einfachen | |
| Schaufel und mit viel Schwung in den Ofen geworfen. Kames fährt die Lok bis | |
| Magdeburg, Ratke macht weiter bis Braunschweig. Sobald es hell wird, stehen | |
| überall in den Bahnhöfen Eisenbahnfans, um den Zug zu fotografieren. | |
| Irgendwo hinter Köthen kommt Kames ungefragt auf die Mitschuld der Bahn am | |
| Holocaust zu sprechen. Er sei ja schon einmal in Israel in der | |
| Holocaustgedenkstätte Jad Vaschem gewesen. Als "bekennender Christ" sei es | |
| ihm unfassbar, was Menschen anderen Menschen zufügen könnten. Für ein | |
| längeres Gespräch ist es auf dem Führerstand zu kalt. Und es gibt zu viel | |
| zu tun. | |
| Diese Eisenbahner duzen sich untereinander, der Umgang ist kumpelhaft, | |
| schroff, aber herzlich. Die Fahrdienstleiter der jeweiligen | |
| Streckenabschnitte, zugeschaltet per Funk, unterstützen den Zug, wo es | |
| geht, drücken beide Augen zu, wenn er zu spät ist. Immer wieder muss der | |
| Zug auf Seitengleise fahren, damit schnellere Züge überholen können. Mehr | |
| als siebzig Stundenkilometer sind heute nicht drin - und selbst in diesem | |
| Tempo ruckelt und ächzt die Lok beängstigend. | |
| Doch wenn die Sonne am Morgen ab und zu aus den Wolken bricht und der Dampf | |
| wie eine flüchtende Herde Schafe über die Waggons jagt, lächeln die beiden | |
| Lokführer und der Heizer manchmal. In Eilsleben, dreißig Kilometer westlich | |
| von Magdeburg, steht der "Zug der Erinnerung" eine Stunde im Bahnhof, zu | |
| viel Schlacke verstopft die Sauerstoffzufuhr in den Kessel, der Druck ist | |
| zu niedrig. Jußen flucht und schwitzt, der örtliche Fahrdienstleiter lässt | |
| lobende Worte über die Lok verlauten, dem Heizer und Eigentümer der Lok tut | |
| das gut. An den Gleisrändern grüßen Streckenarbeiter den Zug, Ratke lässt | |
| die Lok pfeifen. Was waren das für Leute, die die "Sonderzüge" nach | |
| Auschwitz fuhren? Wie konnten sie vorne im Führerstand heizen, während | |
| hinten in den Viehwaggons schon Kinder, Alte und Kranke krepierten? | |
| Um zwanzig nach elf, mit zwei Stunden Verspätung, fährt der "Zug der | |
| Erinnerung" in Braunschweig auf Gleis 1 ein. Auf dem Bahnsteig warten schon | |
| zwei Dutzend junge Leute. Nach über sieben Stunden Fahrt fällt die | |
| Anspannung von Heizer Jußen und Lokführer Ratke nun ab. Der rußverschmierte | |
| Ratke ruft einem blonden Mädchen in weißer Hose zu: "Die Hose würde ich | |
| jetzt gern mal anfassen." Die ersten Besucher der Schau steigen in die | |
| Waggons. Sie beklagen sich nicht über die Verspätung. Es geht hier nicht um | |
| sie. | |
| 16 Feb 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Gessler | |
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