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# taz.de -- Aus dem taz-magazin: "Zug der Erinnerung" trotz Widerstand
> Ein ehrenamtliches Projekt zeigt, wie die Reichsbahn von
> Holocaust-Deportationen profitierte. DB-Chef Mehdorn war dagegen und
> verdient nun daran.
Bild: Die Deportationen fanden in der Regel in aller Öffentlichkeit statt.
Zärtlich fast schichtet Manuel Jußen mit schwarzen, schweren Händen kleine
Holzscheite in den Bollerofen seines Waggons. Ganz klar, der Mann ist vom
Fach. Auf der Herdfläche des Ofens brutzelt ein Pfannkuchen, gut zwei
Finger dick. Langsam weicht die Winterkälte im Waggon auf Gleis 24 des
Leipziger Hauptbahnhofs wohliger Wärme - und wenn man den Zweimetermann,
das Gesicht voll Ruß, in seinem ölgetränkten Blaumann so anschaut, wagt man
seiner knappen Anordnung nicht zu widersprechen. Jetzt solle man sich doch
endlich an das Tischchen setzen und Pfannkuchen essen. Der 35-jährige
Heizer der Dampflok - man ahnt es - kann auch ganz anders. Und Bahnchef
Hartmut Mehdorn hat das wohl zu spüren bekommen.
Manuel Jußen hat nämlich mit seiner Dampflok den "Zug der Erinnerung" auf
die Schiene gebracht, ein Projekt, das wahrzunehmen Mehdorn sich jahrelang
scheute wie, sagen wir, Eis auf der Oberleitung, um in der Sprache des
störrischen Bahnchefs zu bleiben. Der Boss der Deutschen Bahn AG, Oberster
von gut 230.000 Mitarbeitern, befehdete die rollende Ausstellung, als sei
sie ihm eine persönliche Schande. Dabei will sie nur dem Gedenken an die
während der nationalsozialistischen Zeit von der Reichsbahn deportierten
Kinder und Jugendlichen aufhelfen. Mehdorn aber wollte diese Ausstellung
nicht, und das mit einer Verbissenheit, die selbst Freunde der Bahn ratlos
machte. Aber schlimmer noch für die Bahn, die Nachfolgerin der Reichsbahn:
Mehdorn vermochte es bisher nicht, die Fahrt durch finanzielle Forderungen
unmöglich zu machen. Nun bewegt sich dieser "Zug der Erinnerung" doch - und
wie!
"Mehdorn hat gesagt, ihr fahrt nicht - ich habe gesagt, wir fahren", sagt
Jußen bissig mit einem Seitenblick auf seine Pfannkuchen. "Mehdorn hat
einen Sturkopf - den habe ich auch, und deshalb fahren wir jetzt." Was sich
anhört wie der Größenwahn eines kleinen Eisenbahners, kommt im Großen und
Ganzen hin. Denn dem Heizer Jußen, der früher Medizin studiert hat, gehört
die "preußische P8 '2455 Posen' ". Von der Rumänischen Staatsbahn hatte er
vor zehn Jahren fünf Dampflokomotiven, mehr oder weniger Schrott, gekauft,
vier an deutsche Eisenbahnmuseen weiterverkauft und mit diesem Erlös die
fünfte behalten. Mit viel Liebe hat er sie wieder fahrtüchtig gemacht,
allein das hat über eine halbe Million Euro verschlungen. Nun schnauft sie
wieder, seine P8, eine Lokomotive unter Dampf, die bei ihrer Fertigstellung
im März 1919 mit 1.150 PS und einer Spitzengeschwindigkeit von hundert
Stundenkilometern die stärkste Personenzuglok Preußens war.
Jußen vermietet mit seinem Unternehmen "Länderbahnreisen" sein fauchendes
Ungeheuer. Die "2455 Posen" und seine Dienste bot er zum Vorzugspreis dem
"Zug der Erinnerung" an, einem Projekt mehrerer Bürgerinitiativen. Zusammen
mit anderen Idealisten booteten sie so den desinteressierten Mehdorn aus.
Denn seit der Bahnreform von 1994 dürfen auch private Unternehmen auf den
Gleisen der Eisenbahnen des Bundes verkehren. Der Bahnchef musste sich
fügen. Doch auf auf kaltem Wege, wie lächerlich, drangsaliert er das
Projekt wie eh und je.
Ebendies erschließt sich jedem auf Anhieb, sobald man aus dem nun mollig
warmen Technikwaggon Jußens am Ende des "Zuges der Erinnerung" steigt und
auf das zugige Gleis 24 des Leipziger Hauptbahnhofs tritt. Es liegt am
Randes des größten Kopfbahnhofs Europas. Kein Plakat wirbt an den
Haupteingängen des Gründerzeitgebäudes für die Schau. Die rollende
Ausstellung, seit November 2007 auf deutschen Gleisen, macht jeweils ein
paar Tage in Bahnhöfen größerer Städte halt. Am 8. Mai dieses Jahres soll
sie in Auschwitz enden. Wenn alles klappt. Denn nach Auskunft von
Hans-Rüdiger Minow, einem Sprecher des "Zugs der Erinnerung", wird die
Dampflok mit ihren beiden Ausstellungswaggons von der Bahn massiv
behindert. Die Deutsche Bahn AG fordert von den Initiatoren des "Zugs der
Erinnerung" eiskalt und berechnend "Trassengebühren" und "Stationspreise",
also Gebühren für die Nutzung der Schienen und Gleise - während der Fahrt
und in den Bahnhöfen. Nach Auskunft der Initiatoren kostet sie der
Aufenthalt auf den Bahnsteigen je nach Bedeutung eines Bahnhofs zwischen
225 und 450 Euro - zu zahlen an die Bahn AG.
Bis Anfang Mai wird die Deutsche Bahn also bis zu achtzigtausend Euro durch
den "Zug der Erinnerung" eingenommen haben. In Mannheim beispielsweise
forderte der Konzern neunhundert Euro für den Strom und dreihundert Euro
obendrein für den Gebrauch von Stromkabeln. "So geht das hier am laufenden
Band", sagt Projektsprecher Minow, "man hat alles getan, um die Fahrt zu
verhindern." Dennoch haben bisher etwa 85.000 Besucher die Schau gesehen -
und das, obwohl die Initiatoren aus Geldmangel nicht viel Werbung für sie
machen können. Die Forderungen der Bahn sind umso bitterer, als diese Schau
ja daran erinnert, wie sehr die Reichsbahn, ihre Vorläuferin also, am
Transport der Juden in die Vernichtungslager profitierte.
Trocken schreibt Susanne Kill, offizielle Konzernhistorikerin, in einer
bahneigenen Publikation zu den Deportationen: "Die Kosten für die
Transporte stellte die Reichsbahn den Auftraggebern, dem
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und der Sicherheitspolizei, in Rechnung.
Grundlage der Berechnung war der Tarif für die Personenbeförderung in der
3. Klasse, der 1942 vier Pfennig pro 'Personenkilometer' betrug. Kinder
unter zehn Jahren zahlten die Hälfte, Kinder unter vier fuhren umsonst."
Mengenrabatt gewährte die Reichsbahn auch: "Ab 400 Personen wurden
Preisnachlässe für die Sonderzüge, die für ihre Insassen den Tod
bedeuteten, gewährt. In Deutschland waren die Fahrtkosten von den Juden
selbst zu entrichten, d. h. an die Gestapo abzuführen." Etwa drei Millionen
Menschen transportierte die Bahn laut NS-Forschern in die
Vernichtungslager. Man tritt gewiss niemandem zu nahe, stellt man kühl
fest: De facto verdiente die Deutsche Bahn früher - und sie tut es heute
wieder - am Holocaust. Damals an den Deportationen, heute an der Erinnerung
an sie.
Aber wird diese Sichtweise der Bahn wirklich gerecht? An der Basis des
Konzerns zumindest, so erzählen es Minow und der Heizer Jußen
übereinstimmend, wird der "Zug der Erinnerung" von den mehr oder weniger
einfachen Eisenbahnern unterstützt, ja überhaupt erst möglich gemacht.
Einer von ihnen ist wahrscheinlich der Chef des Leipziger Bahnhofs, der
gerade auf dem Gleis 24 steht - genauer ist das nicht zu sagen, denn der
wackere Mann will zu der ganzen Kontroverse über die Gebühren gar nichts
sagen. Immerhin, er ist da, gewiss auch, um an diesem Tag den sächsischen
Ministerpräsidenten Georg Milbradt zu begrüßen. Der stattet dem "Zug der
Erinnerung" einen offiziellen Besuch ab. Nach etwas Klezmermusik eines
Geigers am Bahnsteig, gestört durch Bahnhofslärm, hält der eher schüchterne
Landeschef eine Rede vor den ochsenblutroten Waggons des "Zugs der
Erinnerung". Lobt die Ausstellung und warnt vor Neonazis - den Streit über
die "Trassengebühren" erwähnt er mit keiner Silbe.
Hierauf angesprochen, weicht der CDU-Politiker aus, das müsse "die Bahn
selber entscheiden", er wolle sich "nicht dazu äußern". Die Bahn sei ja
"kein Staatsunternehmen mehr" und überhaupt sei das Ganze eine
"bundespolitische Angelegenheit". Außerdem habe der Freistaat das Projekt
ja mit 25.000 Euro unterstützt. Ende der Durchsage.
Mutiger waren da bisher der thüringische Verkehrsminister Andreas
Tautvetter und sein Ministerpräsident Dieter Althaus, beide ebenfalls
Männer der Union. Ersterer forderte den Bahnvorstand dazu auf, auf seine
Mietforderungen für das ehrenamtliche Projekt zu verzichten, Letzterer
übernahm die Schirmherrschaft über die Fahrt durch Thüringen. Unter Druck
gesetzt wurde Mehdorn auch von sieben Bundestagsabgeordneten aller
Parteien, die ihm mehr als deutlich nahelegten, dem Gedenkzug doch
wenigstens den Betrag zu spenden, der für den Gebrauch von Trassen und
Bahnhöfen nötig sei.
Denn das ist das einzige, allerdings ziemlich schwache Argument der Bahn
für die Mietforderungen: Man sei gesetzlich dazu verpflichtet.
Andererseits: Gibt es angesichts des Millionenwerbeetats der Bahn wirklich
nicht genug Geld, um zumindest per Spende den "Zug der Erinnerung" zu
unterstützten? Auch diese Zahl mag die Absurdität dieses Falls bilanzieller
Engherzigkeit verdeutlichen: Mehdorns Gage beläuft sich auf drei Millionen
Euro pro Jahr - die "Trassengebühren" machen etwa drei Prozent dieser Summe
aus.
Neben Milbradt steht am Gleis 24 als eine Art Ehrengast auch Rolf
Isaacsohn, ein zurückhaltender Mann von 74 Jahren. Der frühere Vorsitzende
der Jüdischen Gemeinde Leipzigs wurde als Elfjähriger zusammen mit seinem
Vater von hier aus nach Theresienstadt deportiert. Es war der letzte
Transport aus Leipzig am 14. Februar 1945. Vom tags zuvor bombardierten
Dresden sahen die Verschleppten durch die Schlitze des Waggons nur den
Widerschein der brennenden Stadt am Horizont - die Transporte der letzten
Juden Leipzigs in ein Vernichtungslager waren den Nazis wichtiger als die
Hilfe für Dresden.
Fast fünf Tage war Isaacsohn unterwegs, zusammen mit vierzig anderen
Personen in dem Viehwaggon. Der Wagen wurde nicht ein einziges Mal
geöffnet, nur ein Eimer stand für die Notdurft der Deportierten in einer
Ecke. "Nach einem Tag war der ", sagt Isaacsohn, und schweigt. Sein Vater
und er haben "glücklicherweise überlebt", wie er sagt, eine Oma, eine
Cousine und eine Tante wurden in Treblinka ermordet. Die Gebühren der Bahn
für den "Zug der Erinnerung" sind ihm "unverständlich", sagt Isaacsohn
vorsichtig, das seien doch "geringe Kosten". Und außerdem: "Die Bahn hat ja
damals daran verdient." Dann rückt er seine Brille zurecht und wendet sich
der Ausstellung zu, still.
Schneller und lauter quetschen sich Schülerinnen und Schüler aus Leipzig
durch die Schau. An manchen Tafeln hängen verblühte Rosen und Nelken,
Zeichen der Anteilnahme. Die Neunt- und Zehntklässer des Johannes-Kepler-
und des Geschwister-Scholl-Gymnasiums sind cool - oder wollen es zumindest
sein. Einsilbig reagieren sie auf die Frage, was sie von der Ausstellung
halten, und vielleicht haben sie recht, dass solche Fragen auch irgendwie
doof sind. "Cool", sagt immerhin die vierzehnjährige Sarah, sei die
Ausstellung, "sehr bewegend", schiebt sie nach, als sie merkt, dass "cool"
vielleicht nicht ganz das richtige Attribut ist. Ihre Großeltern, sagt sie,
erzählten ja so gut wie nichts von der Nazizeit, dabei könne man "davon
eigentlich nicht genug wissen". Sarah wirkt eher unbeschwert und etwas
frech. Aber auch sie hat von den "Trassengebühren" für die Schau in der
Zeitung gelesen und versteht nicht, "dass die deutsche Bahn dagegen ist".
Sarah hat sich mit anderen Schülerinnen und Schülern ihres Gymnasiums in
einer Projektgruppe darum gekümmert, ein paar Namen und Geschichten von
deportierten Kindern und Jugendlichen aus Leipzig zu recherchieren und sie
in der Ausstellung auf eigens angefertigten Tafeln vorzustellen - außerhalb
des Unterrichts.
Ute Becker, ihre Klassen- und Geschichtslehrerin, ist stolz auf ihre
Schülerinnen und Schüler, die so eifrig waren: "Sie waren begierig, das so
ordentlich wie möglich zu machen", sagt die 47-Jährige, die eine weiße Rose
in der Ausstellung zurücklässt. Gut funktioniere der Ansatz der Schau, die
Geschichte der Deportationen an den Schicksalen von Kindern und
Jugendlichen aus ganz Europa zu erzählen, sagt sie, immer wieder höre sie
Reaktionen wie: "Mensch, die war so alt wie ich", berichtet die Lehrerin,
"schon das bewegt."
Anne Berghoff, geboren 1965, erzählt Ähnliches. Sie ist eine von zwei
pädagogischen Mitarbeitern, die seit Wochen unter schlichtesten Bedingungen
auf dem Zug mitfahren und den Besuchern als Ansprechpartner dienen. Die
meisten seien "sehr betroffen", sagt sie im Technikwaggon Jußens, viele
bedankten sich für die Ausstellung, manche müssten "um Fassung ringen", ja
versuchten vor lauter Hilflosigkeit "Körperkontakt herzustellen". Genau
genommen erzähle die Ausstellung ja "keine neue Geschichte". Aber offenbar
sei der Zugang zu dieser Schau im fast öffentlichen Raum, in dem bekannten
und alltäglichen Umfeld eines Bahnhofs und dank der Biografien von Kindern
und Jugendlichen so "niederschwellig", dass sie die Leute berühre. "Die
meisten" hätten geradezu ein Bedürfnis, ihr "totales Unverständnis" für das
Vorgehen der Bahn zu äußern. Martin Rapp, ein Kollege, macht immer öfter
die gleichen Erfahrungen. Am Ende der Ausstellung sitzt er auf einem
schiefen Stuhl und wird wieder und wieder auf das verstockte Verhalten der
Bahn gegenüber der Schau angesprochen.
Brigitte Richter und Annerose Tuttas, 1942 als Zwillinge geboren, müssen
Rapp unbedingt von ihrem Vater erzählen, der hier im Leipziger Güterbahnhof
in letzter Minute eine Familie vor der Deportation rettete. Brigitte
Richter war früher bei der Bahn - "eine Berufung, wenn man das richtig
macht", schwärmt sie. Die Händel um die Gebühren für den "Zug der
Erinnerung" machen sie giftig: "Jetzt lassen sie sichs noch mal bezahlen.
Da muss man doch Haltung zeigen."
Die Deportationen der Juden fanden in Deutschland in aller Öffentlichkeit
statt, auch deshalb ist den Initiatoren eine Ausstellung an den öffentlich
zugänglichen Bahnhöfen wichtig. Unter dem Decknamen DA - das für "David"
stand oder für "Deutsche Aussiedler" - fuhren die Deportationszüge durch
ganz Europa, oft am helllichten Tag. Schon während der meist tagelangen
Fahrt starben viele in den überfüllten Waggons. Manchmal standen die Züge
stundenlang auf Abstellgleisen und Bahnhöfen, mitten in Deutschland, ohne
dass irgendjemand half.
Zitiert wird eine Postkarte der 1943 ermordeten Niederländerin Hertha
Aussen, die sie noch im "Sonderzug" schreiben konnte und irgendwie den Weg
zu ihren Lieben fand. Darauf schreibt sie: "Mein liebes Nettchen, die
letzte Abschiedskarte bekommst Du aus dem Zug. So wie Du sehen kannst. Wir
sitzen hier mit vierzig Menschen und Gepäck, und es ist sehr stickig in dem
Viehwaggon. Wir sind voll guter Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen in
unserem geliebten, kleinen Holland. Leb wohl, ein Kuss, Hertha."
Die Ausstellung im "Zug der Erinnerung" thematisiert schmerzlich auch die
Mitarbeit der Eisenbahner an der Deportation - und ihre nach 1945 nahtlos
weiterlaufende Karriere bei der Bundesbahn. So etwa erklärte der
Fahrplanorganisator der "Ostbahn", Walter Stier, Treblinka sei für ihn
einfach "ein Ziel" gewesen, "weiter nichts". Er leitete die Gruppe
"Sonderzüge", blieb aber nach Kriegsende straffrei und war bei der
Bundesbahn in Frankfurt am Main dann ebenfalls Spezialist für "Sonderzüge",
dieses Mal für sogenannte Gastarbeiter. Ein anderer war Martin Zabel, der
vor 1945 Fahrplananordnungen für Züge ins KZ unterschrieb und sich nach dem
Krieg mit der Aussage behalf: "Ich habe zwar mal meine Unterschrift
gegeben, aber zuständig war ich nicht." Zabel wurde nach 1945 Vizepräsident
der Bundesbahndirektion Kassel.
Der einzige Bahner, der jemals wegen Beteiligung am Massenmord in der
Bundesrepublik vor Gericht stand, war der 1905 in Passau geborene Albert
Ganzenmüller, seit 1942 Vizereichsbahngeneraldirektor und mit den
Deportationen "persönlich befasst". Der Prozess gegen ihn wurde 1977 "wegen
Verhandlungsunfähigkeit" eingestellt, er starb 1996. Besonders krass
leugnete der Reichsbahner Albrecht Zahn, der Fahrpläne für Transporte in
das Konzentrationslager Treblinka unterzeichnete, jede Schuld. Er erklärte:
"Möglich, dass die Fahrplananordnung 565 meine Unterschrift trägt, aber sie
geriet sicherlich nur versehentlich in meinen Aktenstapel und ist nichts
ahnend von mir unterschrieben worden." Zahn wurde nach dem Krieg
Bundesbahndirektor in Stuttgart. Schnell wird klar, warum der "Zug der
Erinnerung" der Bahn unliebsam ist.
Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, die Nacht wird kurz. Um vier Uhr soll es
losgehen, von Leipzig nach Braunschweig. Mit einer Dampflok! Auch das ist
für manche ein Anreiz, zur Ausstellung zu kommen. Eigentlich, erklärt der
Heizer Jußen, sei der Gebrauch von Dampfloks teurer als der von Diesel-
oder Elektroloks. Da aber Letztere stundenweise auch beim Stehen bezahlt
würden, sei die Dampflok am Ende billiger - auch dies ein Argument für
seine qualmende Lokomotive.
Jußen ist so aufgedreht wie müde. Wenn er oben auf dem Führerstand seiner
Lok steht, um sie für die Fahrt vorzubereiten, schauen immer wieder
Eisenbahnfans unten vom Gleis aus sehnsüchtig hinauf. Nachdem sie jeden
Zentimeter der Lokomotive fotografiert haben, versuchen sie, ihn in ein
Gespräch zu verwickeln und durch kluge Fragen zur Maschine ihre
Kennerschaft unter Beweis zu stellen. Jußen, der auf seiner Homepage
ausführlich für den "Zug der Erinnerung" wirbt und Fotos von deportierten
Kindern hineingestellt hat, spricht verächtlich über das
"Fotofuzzigesindel" und über die Eisenbahntraditionsvereine, die nur die
Technikgeschichte interessiert. Die Geschichte der Bahn sei immer auch
Politik- und Gesellschaftsgeschichte, betont er mehrmals - und diese
Ausstellung "eine Chance, aus der Technikfreakecke auszubrechen und etwas
zu machen, was Bedeutung hat". Viele Bahner "wollen sich mit diesen Sachen
nicht beschäftigen". Anstrengend sei das und es störe die Nostalgie. Eher
selten anzutreffen sei das historische Verantwortungsgefühl eines Ulmer
Traditionsvereins, der mit seiner "58er"-Dampflok zeitweise den "Zug der
Erinnerung" zog. Diese Lok hatte auch Deportationszüge nach Auschwitz
gefahren: "Ein Zeitzeuge, aber im negativen Sinne", sagt Jußen, "ein
technisches Denkmal."
Pünktlich um vier Uhr morgens steht Jußen vor dem Ofen seiner Lok und
schippt Kohle vom Tender in den Feuerkessel. Wie ein erwachter Drache
schnauft und zischt die P8, das "Ruhefeuer" im Bahnhof ist beendet, das
Feuer und die Glut in der "Feuerkiste" kontrastierten perfekt mit der
Schwärze der Lok und dem Dunkel der Nacht. Es fällt nicht schwer, zu
verstehen, warum diese alte Technik noch heute überall so viele begeistert.
Die beiden Lokführer Holger Kames und Torsten Ratke steigen zu,
ehrenamtlich helfen sie dem "Zug der Erinnerung". Jetzt geht es los, mit
einem Pfeifen, natürlich.
Jußen schaufelt Kohle und überprüft den Druck - weniger als etwa acht Bar
darf es im Kessel nicht geben. In dieser Nacht wird Jußen Kohle im Wert von
tausend Euro verfeuern, insgesamt fünf Tonnen, alles mit einer einfachen
Schaufel und mit viel Schwung in den Ofen geworfen. Kames fährt die Lok bis
Magdeburg, Ratke macht weiter bis Braunschweig. Sobald es hell wird, stehen
überall in den Bahnhöfen Eisenbahnfans, um den Zug zu fotografieren.
Irgendwo hinter Köthen kommt Kames ungefragt auf die Mitschuld der Bahn am
Holocaust zu sprechen. Er sei ja schon einmal in Israel in der
Holocaustgedenkstätte Jad Vaschem gewesen. Als "bekennender Christ" sei es
ihm unfassbar, was Menschen anderen Menschen zufügen könnten. Für ein
längeres Gespräch ist es auf dem Führerstand zu kalt. Und es gibt zu viel
zu tun.
Diese Eisenbahner duzen sich untereinander, der Umgang ist kumpelhaft,
schroff, aber herzlich. Die Fahrdienstleiter der jeweiligen
Streckenabschnitte, zugeschaltet per Funk, unterstützen den Zug, wo es
geht, drücken beide Augen zu, wenn er zu spät ist. Immer wieder muss der
Zug auf Seitengleise fahren, damit schnellere Züge überholen können. Mehr
als siebzig Stundenkilometer sind heute nicht drin - und selbst in diesem
Tempo ruckelt und ächzt die Lok beängstigend.
Doch wenn die Sonne am Morgen ab und zu aus den Wolken bricht und der Dampf
wie eine flüchtende Herde Schafe über die Waggons jagt, lächeln die beiden
Lokführer und der Heizer manchmal. In Eilsleben, dreißig Kilometer westlich
von Magdeburg, steht der "Zug der Erinnerung" eine Stunde im Bahnhof, zu
viel Schlacke verstopft die Sauerstoffzufuhr in den Kessel, der Druck ist
zu niedrig. Jußen flucht und schwitzt, der örtliche Fahrdienstleiter lässt
lobende Worte über die Lok verlauten, dem Heizer und Eigentümer der Lok tut
das gut. An den Gleisrändern grüßen Streckenarbeiter den Zug, Ratke lässt
die Lok pfeifen. Was waren das für Leute, die die "Sonderzüge" nach
Auschwitz fuhren? Wie konnten sie vorne im Führerstand heizen, während
hinten in den Viehwaggons schon Kinder, Alte und Kranke krepierten?
Um zwanzig nach elf, mit zwei Stunden Verspätung, fährt der "Zug der
Erinnerung" in Braunschweig auf Gleis 1 ein. Auf dem Bahnsteig warten schon
zwei Dutzend junge Leute. Nach über sieben Stunden Fahrt fällt die
Anspannung von Heizer Jußen und Lokführer Ratke nun ab. Der rußverschmierte
Ratke ruft einem blonden Mädchen in weißer Hose zu: "Die Hose würde ich
jetzt gern mal anfassen." Die ersten Besucher der Schau steigen in die
Waggons. Sie beklagen sich nicht über die Verspätung. Es geht hier nicht um
sie.
16 Feb 2008
## AUTOREN
Philipp Gessler
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