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# taz.de -- Analysen von Ruth Klüger: Suche nach den Schlupfwinkeln
> „Wer rechnet schon mit Lesern?“ ist ein posthumer Band mit
> literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Germanistin und
> Shoa-Überlebenden Ruth Klüger.
Bild: Konnte brillant und scharfzüngig analysieren: Ruth Klüger, 1999
Nein, die Frage nach einer gendergerechten Sprache ist durchaus keine
Erfindung der #MeToo-Ära. Schon 1992 fragte die Holocaust-Überlebende
[1][Ruth Klüger in ihrer Autobiografie „weiter leben]. Eine Jugend“ wie
nebenbei: „Wer rechnet schon mit männlichen Lesern?“ Eine rhetorische
Frage, die erklärte, warum sich die österreichisch-amerikanische
Germanistin mit ihren Erinnerungen ausdrücklich nur an „Leserinnen“ wandte,
„und zwar ohne das heute übliche große I in der Mitte des Worts“.
Schließlich, so die Autobiografin mit dem für sie typischen gelassenen
Grimm, würden männliche Leser nur von anderen Männern Geschriebenes lesen.
Im Rückblick konnte [2][Ruth Klüger] denn auch mit Genugtuung feststellen,
dass ihre damalige Formulierung „eine Gräte“ gewesen sei, „die vielen im
Halse stecken blieb“. Es ist also so gesehen durchaus passend, dass Gesa
Dane für die von ihr herausgegebene Aufsatzsammlung mit
literaturwissenschaftlichen Arbeiten Ruth Klügers ausgerechnet diesen Satz
als Titel ausgewählt hat.
„Wer rechnet schon mit Lesern?“ enthält 13 bislang unpublizierte oder
schwer zugängliche Texte der 2020 im Alter von 89 Jahren verstorbenen
Germanistin. Entstanden sind die Aufsätze von Ende der sechziger bis Mitte
der neunziger Jahre; sie dokumentieren, wie sich Ruth Klüger, während sie
ihre eindrucksvolle akademische Karriere nach Princeton, Irvine und
Göttingen führte, immer neue literarische Horizonte erschloss, von Wolfram
von Eschenbachs „Parzifal“ bis zu Günter Grass’ „Der Butt“, von der …
der Väter als Feinde oder Vorbilder in der Dichtung bis zur Frage nach der
Wahrheit in Autobiografien.
## Der Vergangenheit entkommen
Das ist auch deshalb erwähnenswert, weil ihre Entscheidung für die
Germanistik in den 1960ern, wie die gebürtige Wienerin im zweiten Teil
ihrer Autobiografie („unterwegs verloren“, 2008) bekannte, von dem Wunsch
bestimmt war, ihrer Vergangenheit als Auschwitzüberlebende zu entkommen.
Die Germanistik war ihr zunächst eine „Droge“ gewesen, weshalb sie,
scheinbar paradox, um ihre eigentlichen Themen zunächst einen Bogen machte.
Ehe sie ihre großen Essays über Kleist, Holocaust-Literatur oder die
Literatur von und über Frauen („Frauen lesen anders“, 1996) schreiben
konnte, promovierte sie über barocke Epigramme.
Die in dem neuen Band gesammelten Texte zeigen, wie sich die auf dem
Höhepunkt der Werkimmanenz akademisch sozialisierte Autorin zunehmend von
kultur- und sozialhistorischen Fragen fesseln ließ, mit besonderem
Augenmerk für die „weibliche Perspektive“. Gleich der Eingangstext, ein
Vortrag aus dem Jahr 1976, entwirft ein komplettes feministisches
Forschungsprogramm.
Schon hier machte Klüger auf die, aufgrund spezifischer Erfahrungen eigene
Leseerfahrung von Leserinnen aufmerksam, etwa wenn es um Darstellungen
sexueller Gewalt geht. Wie bei der Rezeption der Werke Bert Brechts, in
denen frau einerseits Sadisten begegnen, die sexuell unwiderstehlich sein
sollen, andererseits gutherzig-naive Frauen wie Kattrin in „Mutter
Courage“.
## Nur als Komödie erträglich
Auch andere Texte dieser Sammlung zeigen, wie erhellend ein solcher
kritisch-feministischer Blick in der Germanistik ist: Adolf Freiherr von
Knigges „Umgang mit Menschen“ zum Beispiel liest Ruth Klüger als
„Gesellschaftskomödie“, weil es anders schwer erträglich wäre, dass sich
dieser kluge, aufklärerische Autor in dem Kapitel „Ueber den Umgang mit
Frauenzimmern“ bei der Vorstellung studierender Frauen sogleich in
Angstfantasien erging: „Tief sitzt die Angst, dass die Suppe nicht heiß
genug serviert wird, wenn Frauen am Schreibtisch sitzen, statt am Herd zu
stehen.“
Und in „Zum Außenseitertum der deutschen Dichterinnen“ fragt Klüger nach
den gesellschaftlichen Bedingungen für die Möglichkeit schreibender Frauen,
mit einem überraschenden Ergebnis: Das als Brutstätte deutscher Dichter und
Denker viel gerühmte protestantische Pfarrhaus war zwar seinen literarisch
ambitionierten Söhnen förderlich, nicht aber seinen Töchtern. Intellektuell
ambitionierte Frauen hätten es, so Klüger, alles in allem in einem
katholischen Umfeld leichter gehabt.
Und – mit Blick auf die Möglichkeit eines angesehenen gelehrten Lebens als
Äbtissin im Kloster – im angeblich finsteren Mittelalter leichter als im
nachreformatorischen 17. Jahrhundert, in dem intellektuellen Frauen rasch
ein Schicksal als „alte Jungfer“ drohte.
## Männliche Überlegenheitsfantasien bei Grass
„Die Frage ist nicht“, resümiert Klüger, „wo die Menschenrechte am ehes…
geachtet wurden, sondern vielmehr, welcher Schlupfwinkel, Leerräume,
Grenzstellen in einer Gesellschaft es bedurfte, um die weibliche
Kreativität oder, wenn man will, die menschliche Kreativität in Frauen in
Produktivität zu verwandeln.“ Nicht dass es 200 Jahre nach Knigge
selbstverständlich wäre, eine solche Kreativität als gegeben anzunehmen.
Das zeigt Klügers souveräner Verriss von Günter Grass’ 1977 erschienenem
Roman „Der Butt“, ein Werk, in dem es von misogynen Stereotypen und
männlichen Überlegenheitsfantasien nur so strotzt, bis hin zu der Annahme,
dass es ohne das Patriarchat in der Geschichte keinen Fortschritt gegeben
hätte.
Und welcher von Ruth Klügers männlichen Kritikerkollegen hat sich
seinerzeit zum Beispiel daran gestört, dass Grass die Vergewaltigung einer
13-Jährigen im Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegs schildert, mit der
Folge, dass sich das Opfer prompt in den Angreifer verliebt?
„It’s all tits and cunts, business as usual in current male fiction“,
resümiert Klüger in ihrem Grass-Verriss lapidar – auf Englisch, weil sie
als Germanistin die Zweisprachigkeit pflegte und der Wallstein Verlag es
für eine gute Idee hielt, die entsprechenden Texte (insgesamt sechs der 13
hier versammelten) im englischen Original wiederzugeben, ohne Rücksicht auf
die dadurch erschwerte Zugänglichkeit.
Zum Glück sind auch Ruth Klügers akademische Arbeiten, wie ihre großen
Essays, weitgehend frei vom Fachjargon und erweist sich die Autorin auch im
Englischen als brillante Stilistin.
22 Nov 2021
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## AUTOREN
Oliver Pfohlmann
## TAGS
Literaturkritik
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KZ
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