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# taz.de -- Erinnerung an Ruth Klüger: „Ich habe Füße, keine Wurzeln“
> Ruth Klüger, die Schriftstellerin und Germanistin, ist gestorben. Zur
> Würdigung ein Gespräch von 2012 über Wien, ihre Kindheit und das
> Überleben.
Bild: Ruth Klüger, 1931–2020
Wien, im Oktober 2012. [1][Ruth Klüger] besucht ihre Geburtsstadt. Geboren
1931, 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert, später nach Auschwitz und
Christianstadt, Groß-Rosen. Auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen gelang
ihr die Flucht. Später wurde sie Literaturwissenschaftlerin in den USA.
Eben, beim Jüdischen Filmfestival, wurde der Dokumentarfilm über ihr Leben
gezeigt. Danach wurde Klüger beklatscht, jetzt hat sie Hunger. In einem
Restaurant gegenüber dem Kino bestellt sie Rotwein und Backhendlsalat. Sehr
wienerisch.
taz am wochenende: Frau Klüger, im Film gibt es eine Szene, in der Ihr
jüngerer Sohn mit seiner Familie nach Wien kommt. Sie wollen ihm Liptauer
schmackhaft machen, diesen österreichischen Brotaufstrich aus Frischkäse,
Paprika und Kümmel. Ihr Sohn kann da so recht nichts mit anfangen …
Ruth Klüger: Ja, ja, ich musste ihm erklären, was das ist, und ich hab’s
nicht richtig erklärt, weil ich so begeistert war, den Liptauer wieder zu
essen nach all den Jahren.
Hat er ihn denn dann probiert?
Ja, natürlich hat er ihn probiert. Aber ich glaube, er war nicht so
begeistert wie ich.
Der Liptauer, was ist der für Sie?
Na ja, das ist eine kulinarische Kostbarkeit aus der Kindheit. Es gibt
eigentlich nicht so wahnsinnig viele Sachen, die so sind. Der Himbeersaft
vielleicht, den wir manchmal getrunken haben. Oder der Schlagobers, den man
im Kaffeehaus bekommen hat, wenn man mit den Eltern dort war. Solche
Sachen. Aber der Liptauer war etwas besonders Gutes. Und es kommt noch
etwas hinzu: Susi, meine Pflegeschwester, die inzwischen verstorben ist,
das Mädchen, mit dem wir dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen entkommen sind,
hat in Amerika gelegentlich Liptauer gemacht. Für mich ist der Liptauer
teilweise die Susi, mit der ich an sich wenig gemeinsam hatte, außer eben
diese Jahre, und das war total bindend. Das war Familie.
Da sind nicht nur Erinnerungen an Liptauer, an Himbeersaft und Schlagobers,
sondern auch an die Nazis in Wien, mit elf kamen Sie ins KZ.
Aber diese Erinnerungen an Liptauer und Himbeersaft gehen der Erinnerung an
Nazi-Europa voraus. Das sind die allerersten Anfänge, ich war keine sieben,
als Hitler nach Österreich einmarschierte, also beim Anschluss. Und was
nachher kam, ist eine ganz andere Episode.
Die Kindheit, sagen Sie im Film, ist nicht nur eine Episode im Leben eines
Menschen, sondern die Wurzel. Wie kann man es ertragen, wenn sie so
zerrissen war?
Ja, aber es ist die Kindheit, es gab keine andere. Das ist, was ich habe.
Und ich kann mich nicht in eine andere hineindenken. Man hat sein Leben
zusammengebastelt auf der Basis dieser Kindheit. Und es hat überhaupt
keinen Sinn, sich vorzumachen, dass das weggewischt werden kann. Das war’s.
Und gut oder schlecht: Es war, wie es war. Ich rechne mein Leben immer in
sieben Jahren. Mehr oder minder waren die ersten sieben Jahre Liptauer und
Himbeersaft. Und danach die sieben Jahre, 38 bis 45, das sind die
Hitler-Jahre. Die reichen von der Isolation in Wien bis zu der Flucht aus
dem Lager in die Freiheit. Es ging weiter mit den Siebenerschritten.
Bis heute?
Vor drei Jahren, kurz bevor ich 78 Jahre alt war und dachte, ich bin am
Ende meines Lebens, bin ich am Herzen operiert worden – und jetzt rechne
ich damit, dass ich bis 84 Jahre lebe.
Wenn Sie heute durch Wien gehen: Wie wirkt das nach?
Ganz merkwürdig. Wien strahlt schon diese Nazi-Vergangenheit für mich aus.
Das ist einfach in den Steinen. Da ist sehr viel, was mich immer wieder
daran erinnert, wenn ich hier bin. Und andererseits habe ich Freunde in
Wien und werde beachtet, das macht natürlich etwas aus. Ich habe keine
Familie hier, das fehlt total, und das sollte man eigentlich haben, wenn
man aus einer Stadt kommt.
Zwei Wiens, das gute und das böse?
Das eine läuft neben dem anderen her und trifft nicht aufeinander. Und wenn
da ein Widerspruch ist, dann lebt man halt mit diesem Widerspruch. Ich
könnte mir nicht vorstellen, permanent in Wien zu wohnen. Ich glaube, dann
würde das wie Schwefelschwaden aufsteigen und mich ersticken. Schon im
Alter von sechs Jahren wollte ich weg aus Wien. Ich bin dann weggekommen –
in eine falsche Richtung.
Wie oft sind Sie heute in Wien?
Wenn es sich ergibt. Eigentlich in letzter Zeit jedes Jahr. Die Leute, bei
denen ich wohne, sind wirklich sehr gute Freunde geworden. Das sind vor
allem Feministinnen, sie haben mich sehr freundlich aufgenommen, das zieht
mich an.
Ist Wien so etwas wie eine Heimat für Sie, trotz allem?
Nein. Ich mag das Wort Heimat nicht. Geburtsstadt.
Brauchen Menschen eine Heimat?
Nein. Ich glaube nicht. Also ich brauche keine. Wissen Sie, die Welt ist
derartig voller Flüchtlinge und Migranten, mehr als je. Wenn alle diese
Leute eine Heimat brauchten, dann wären sie noch schlechter dran, als sie
sowieso sind. Ich bin kein Baum, ich brauche keine Wurzeln. In diesem
übertragenen Sinne, dass die Kindheit Wurzel ist: ja. Aber das ist nicht
dasselbe wie ein Boden. Ich habe Füße, keine Wurzeln, ich kann gehen. Sogar
Auto fahren.
Als Sie 1947 in die USA emigrierten, nach New York kamen, hatten Sie
Selbstmordgedanken.
An sich bin ich wohl ein depressiver Mensch. Das ist ein Grund zu reisen
und weiter zu schreiben, man muss immer etwas zu tun haben. Ob diese
Depressivität von den Lagern stammt, ist für mich schwer zu sagen. Aber
sicher hat es mir nicht gutgetan. Selbstmordgedanken hatte ich eigentlich
in meinem ganzen erwachsenen Leben. Wenn ich in eine neue Stadt gekommen
bin, habe ich immer überlegt: Wie bringt man sich hier am besten um?
Meistens habe mich für etwas entschieden, was man im Amerikanischen
autocide nennt, man fährt mit einem Auto mit voller Wucht gegen eine Wand.
Das habe ich mir vorgenommen, und einmal habe ich zu meinem jüngeren Sohn
gesagt, falls ich mich umbringen sollte, glaube nicht einen Moment, dass du
etwas damit zu tun hast oder dass du es hättest verhindern können.
Wie hat er reagiert?
Er war ziemlich empört, dass man so mit ihm redet. Das will kein Kind
hören. Es war das Falsche, trotzdem habe ich mir gedacht: Wenn jemand auf
diese Weise stirbt, dann sind da immer Verwandte, die sich Vorwürfe machen.
Das wollte ich vermeiden. Aber es war die falsche Art, es zu tun.
Wie ist es heute, denken Sie immer noch an Selbstmord?
Nein, in letzter Zeit habe ich das nicht mehr. Wenn man älter wird, hat man
weniger von diesen Anfechtungen. Das Einzige ist, wenn man wirklich
todkrank wird und sich nicht bewegen kann, dann vielleicht doch.
Was hat Sie dann doch immer weiterleben lassen?
„weiter leben“, also der Titel meines Buchs, nach dem auch der Film benannt
ist, bedeutet: Man lebt weiter, wenn man nicht umgebracht wird. Das Leben
selber kümmert sich um sich, takes care of itself. Man lebt einfach weiter,
außer wenn ein Anstoß ist, und der muss schon sehr stark sein, dass man
Schluss macht. Wenn der nicht da ist, lebt man weiter. Schlechter oder
besser. Aber an sich ist es dann doch immer: Beschäftigung.
Sie haben im KZ Gedichte verfasst. Reime gemacht, wie Sie es nennen.
Das ist das Nächste, was ich veröffentlichen möchte, meine Gedichte. Obwohl
ich nicht sicher bin, dass das jemand lesen möchte. Darf ich Schiller
zitieren?
Bitte.
Ich tue es immer gerne. Schiller hat in einem Gedicht geschrieben: Was
übrig geblieben ist von der Jugend, ist Freundschaft. Dann heißt es in der
letzten Strophe:
Und du, die gern mit ihr – also mit der Freundschaft – sich gattet,
Wie sie der Seele Sturm beschwört,
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur um Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.
Das ist schöner Schiller. Der hat nicht immer gute Verse gemacht, nicht so
gut wie Goethe.
Was bedeuten Ihnen diese Verse?
Wenn man etwas macht und man ist versunken in eine Arbeit und man schaut
auf und zwei Stunden sind vergangen, dann sind diese zwei Stunden von der
Schuld der Ewigkeit gestrichen. Das finde ich ausgezeichnet. So lebt
sich’s, man braucht was, man braucht unbedingt was. Das sage ich auch immer
Leuten, die im Begriff sind, in Pension zu gehen: Find dir was!
Waren die Reime, die Sie gemacht haben, Ihre Rettung aus den
Konzentrationslagern?
Ja, ich glaube schon. Also nicht nur die, die ich gemacht habe, sondern
auch die, die ich aufgesagt habe. Jede Menge Schiller. Ich konnte sehr
viele Gedichte auswendig, die habe ich mir immer wieder aufgesagt. Und ich
habe selber welche verfasst.
Sie hatten nichts zu schreiben.
In Theresienstadt schon, später in Auschwitz und Christianstadt nicht. Die
habe ich auswendig gekonnt und dann später, nach dem Krieg, aufgeschrieben.
Sie haben später Germanistik studiert.
Zuerst hatte ich Englisch als Hauptfach, dann habe ich geheiratet und
Kinder gehabt, habe mich scheiden lassen, und dann habe ich auf Anhieb,
ermutigt von dem aus Wien stammenden Literaturwissenschaftler Heinz
Politzer, Germanistik studiert. Ich habe gedacht, das probiere ich jetzt
mal für ein Jahr, und wenn es geht, dann wäre es schön, dann hätte ich noch
einen richtigen Beruf und nicht nur einen Job. Und es ging.
Mit Ihrem Mann, dem deutschen Historiker Werner Angress, haben Sie nicht
Deutsch geredet.
Wir haben nicht Deutsch geredet, obwohl wir Deutsch konnten.
Warum nicht?
Na ja, weil das die Sprache Deutschlands war. Das war damals sehr starr.
Emigranten haben kein Deutsch geredet. Außerdem haben wir in einer
englischen Umgebung gelebt. Es ist nicht ganz so ungewöhnlich, wie es
klingt. Obwohl es bei Deutschsprachigen natürlich besonders stark war.
Für Sie war die Sprache belastet.
Sehr belastet, ja.
Trotzdem haben Sie Germanistik studiert.
Das war ein Umschwung. Ich war mir nicht sicher. Aber Heinz Politzer hat
gesagt: Das können Sie. Und ich habe gesagt: Aber das ist die
Teufelssprache. Und dann hat er gesagt: Wenn ich’s kann, dann können Sie es
auch. Ich habe immer deutsche Bücher gelesen, mein Interesse war Literatur.
Und Germanistik zu machen hat mir bessere Aussichten gegeben auf eine
Stelle als Englisch, wenn man Einwanderer war. Zu diesem Zeitpunkt war ich
bereit, das zu tun. Das war schon um 1960 herum, also schon ziemlich viel
später. Ich habe es sehr schnell gemacht und sehr schnell eine Stelle
bekommen. Das war ein guter Markt für Stellensuchende.
Eine sehr nüchterne Entscheidung.
Ich hatte kein Geld, ich war geschieden, ich war alleinerziehende Mutter,
ich habe sehr, sehr wenig Kindergeld bekommen, keine Alimente. Ich musste
was verdienen.
Seit dem Ende der achtziger Jahre haben Sie neben Ihrem Wohnsitz Irvine in
Kalifornien einen zweiten Wohnsitz in Deutschland, in Göttingen. Warum
dort?
Ja, Göttingen. Für mich ist das so weit nördlich, wie man von Wien kommen
kann und noch Deutsch spricht. Ich bin nach Göttingen gekommen, weil ich
mich gemeldet hatte, um dort ein Studentenaustauschprogramm für die
Universität von Kalifornien zu betreuen. Göttingen war für mich völlig
unbelastet.
Anders als Wien.
Ich weiß im Kopf, dass Hitler praktisch um die Ecke deutscher Staatsbürger
geworden ist, und ich weiß, dass nicht weit von Göttingen Bergen-Belsen
liegt, wo ich hin verfrachtet worden wäre, wenn wir nicht geflohen wären
auf dem Transport von Groß-Rosen, aber emotional und erinnerungsmäßig,
subjektiv, hat Göttingen keine Nazi-Ausstrahlung. Ich war in dem
Stadtmuseum, ich weiß, dass die SS dort aufmarschiert ist, genau so wie die
SA, auf der Weender Straße und überall sonst, aber es ist nicht so, wie
wenn ich hier über die Währinger Straße gehe, wo ich mit dem Judenstern
gegangen bin. Es ist nicht dasselbe. Und das ist so interessant, wie das
Objektive und das Subjektive da so auseinanderklafft.
Im Film, als Ihr Sohn nach Wien kommt, weil er die Orte Ihrer Kindheit
sehen möchte: Da merkt man, dass es Ihnen richtig schwerfällt. Dass Sie da
weg wollen.
Ja, da wollte ich weg. Es war sehr kalt. Und außerdem wusste ich nicht, was
ich erzählen sollte. Diese Kinder sind ein anderer Teil meines Lebens, sie
wissen eigentlich sehr wenig über mich.
Sie haben Ihren Kindern wenig erzählt von dem, was Sie erlebt haben.
Ja, man erzählt nicht so viel. Und die sind auch nicht derartig
interessiert, in dem Film scheint es, dass sie sehr interessiert sind, aber
es stimmt eigentlich nicht. Na ja, da klaffen unsere Meinungen auseinander,
die der Kinder und meine.
Wieso kam der Sohn nach Wien?
Da wurde mein Buch „weiter leben“ von der Stadt Wien verteilt, es gibt dort
eine Aktion „Eine Stadt, ein Buch“. Ich habe ihm das erzählt, rate mal, wie
viele Exemplare. Und er sagte: 3.000. Nein, mehr. Der kam nicht auf
100.000. Als er das gehört hat, hat er gesagt: Das muss ich sehen. Na komm,
ich finde dir eine Wohnung, ich mach, was immer du willst, bring die
Kinder. Das war der Anlass. Ich war sehr stolz, ihn beeindrucken zu können,
das war ganz naiv und primitiv.
Waren Sie verblüfft, dass „weiter leben“ so ein Erfolg geworden ist.
Na ja, klar. Das war ein Buch für die Göttinger, den Göttingern gewidmet.
Ich habe nicht gedacht, dass es großartig darüber hinaus geht. Suhrkamp
hat’s abgelehnt, und dann hat es der Wallstein-Verlag genommen.
In Deutschland, sagten Sie mal, haben Sie das Gefühl, die Leute denken, Sie
bürden ihnen etwas auf. Die Amerikaner seien lockerer.
Die Amerikaner sind unschuldig. Das merke ich auch, wenn ich etwas
Humorvolles sage: Die Amerikaner lachen, die Deutschen nicht.
Das verwundert nicht.
Das verwundert nicht, aber man kann es feststellen.
Wenn Sie zurück nach Kalifornien reisen, nehmen Sie Liptauer mit?
Nein, nein, um Gottes Willen. Dort kaufe ich mir ein paar reife Avocados
und die wunderbaren Orangen, die wir dort haben, und gehe in ein
mexikanisches Restaurant oder zum Japaner.
7 Oct 2020
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## AUTOREN
Felix Zimmermann
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