# taz.de -- Afghanische Ortskräfte der Bundeswehr: Die schlimmsten Tage meines… | |
> Unsere Autorin war Ortskraft in Kabul. Als vor einem Jahr die Taliban die | |
> Stadt eroberten, begann der Horror. Sie schaffte es nach Deutschland. | |
Bild: Für die Taliban war sie primäres Ziel. Heute lebt die Autorin in Deutsc… | |
Mein Tag begann gut am 15. August 2021 in Kabul. Ich war voller Hoffnung: | |
An diesem Tag sollte ich das Sorgerecht für meine beiden Kinder | |
zugesprochen bekommen. Sie sind vier und acht Jahre alt, seit meiner | |
Scheidung habe ich mich mit meinem Mann um sie gestritten. | |
Ich war auf dem Weg zum Gericht, als mich um 10 Uhr morgens die SMS eines | |
Freundes erreichte: „Die Taliban kommen über die Autobahn aus Dschalalabad. | |
In wenigen Stunden werden sie in Kabul sein.“ Mein Freund arbeitete für die | |
Nato in Kabul, ich glaubte ihm trotzdem nicht und schrieb im Spaß zurück: | |
„Du paranoider Soldat!“ | |
Aber als ich das Gericht betreten wollte, kamen mir die Mitarbeiter | |
entgegen und sagten, [1][die Taliban hätten Kabul erreicht]. Von einer | |
Sekunde auf die andere brach Chaos aus. | |
## Ort der Zombies | |
Kabul, diese lebendige Stadt, wurde zu einem Ort der Zombies: Büros und | |
Geschäfte wurden geschlossen, Autos fuhren kreuz und quer, Menschen rannten | |
zum Flughafen, in der Hoffnung, sie könnten entkommen. In ihren Gesichtern | |
stand die Angst. Ich konnte nicht weg, ich wollte da bleiben, wo meine | |
Familie ist. Ich fuhr nach Hause. Drei Stunden brauchte ich für den Weg, | |
der sonst eine halbe Stunde dauert. | |
Meine Kinder waren bei ihrem Vater, ich lebte im Haus meiner Eltern. Wir | |
waren wie paralysiert. Die Taliban zogen durch die Straßen – jene Männer, | |
gegen die ich so lange gekämpft habe. | |
Ich bin Journalistin. Seit 2016 habe ich für die Bundeswehr gearbeitet. | |
Meine Aufgabe war es, die Sicherheitslage im Norden Afghanistans zu | |
beobachten und den deutschen und afghanischen Soldaten zu berichten. Ich | |
war außerdem dafür zuständig, die Propaganda der Taliban auszuwerten. Ich | |
habe Konzepte entwickelt, mit denen man den Fake News der Taliban begegnen | |
kann. Konzepte, die verhindern sollten, dass Menschen die Propaganda der | |
Taliban glauben. | |
Ich bin dafür bedroht worden, die Taliban haben mir Warnbriefe geschrieben. | |
Einmal haben sie auf mein Auto geschlagen, weil sie meinen Ausweis darin | |
gefunden haben. Sie haben einen Selbstmordattentäter vor mein Büro | |
geschickt. Jedes Mal hatte ich Glück, mir ist nichts passiert. | |
## Mit meinen Eltern im Haus versteckt | |
Das war beängstigend, aber ich wusste, dass die Bundeswehr mir beistehen | |
würde, wenn mir etwas passieren würde. Aber dieses Mal, im August 2021, war | |
es anders. Die internationalen Truppen waren dabei, Kabul zu verlassen. | |
Die folgenden Tage wurden die schlimmsten in meinem Leben. Ich habe mich | |
mit meinen Eltern in unserem Haus versteckt. Unser Plan war: Wenn die | |
Taliban klopfen, würde mein Vater behaupten, er sei allein im Haus. | |
Ich rief all meine deutschen Kontakte an, ehemalige [2][Kollegen bei der | |
Bundeswehr], einen deutschen Journalisten. Auf einer offiziellen | |
Evakuierungsliste stand ich zunächst nicht – weil ich nicht den richtigen | |
Arbeitsvertrag hatte. Das Bawar Media Center, das Medienzentrum, in dem ich | |
gearbeitet habe, wurde nicht von der Bundeswehr betrieben, sondern von | |
einem externen Dienstleister. Als Ortskraft gelten aber nur Menschen, die | |
direkt bei einer deutschen Institution angestellt waren. | |
## Hilfe durch Reporter ohne Grenzen | |
Das hat sich im Laufe der Tage geändert, auch, weil es in Deutschland | |
offenbar Druck gab. Hinter den Kulissen haben viele Menschen für uns | |
lobbyiert, Reporter ohne Grenzen hat sich für uns eingesetzt, mein | |
befreundeter Journalist hat seine Kontakte genutzt. Ich stand nun auf der | |
Liste, aber wie sollte ich rauskommen? | |
Mehrmals bin ich mit meiner Familie zum Kabuler Flughafen gefahren. Der Weg | |
dorthin war gefährlich: Wir mussten die Checkpoints der Taliban passieren, | |
bei jedem hatten wir große Angst. | |
Als wir das erste Mal den Flughafen erreichten, standen wir vor | |
US-Soldaten, die niemanden durchgelassen haben. Beim zweiten Mal hatte mich | |
ein Mitarbeiter des Callcenters der Bundeswehr aufgefordert, dorthin zu | |
fahren, aber ohne zu sagen, wie es dann weitergeht. Er war sehr | |
unfreundlich am Telefon, hat nur gesagt: „Fahrt an den Nordeingang, so | |
schnell wie möglich“, und aufgelegt. Ich hatte keine Wahl: Auch wenn unsere | |
Hoffnung gering war, mussten wir es versuchen. | |
## Als Frau war es besonders schwer | |
[3][Am Flughafen] sah es so aus, als stünden alle Einwohner Afghanistans | |
dort. Durch die Menge zu kommen, war wahnsinnig anstrengend. Als Frau war | |
es besonders schwer, von allen Seiten wurde ich belästigt. | |
Meine Eltern sind über 60 und nicht mehr gut zu Fuß. Plötzlich feuerte ein | |
US-Soldat Tränengas in die Menge, wir gingen zu Boden. Alle Menschen liefen | |
durcheinander, trampelten über meine Mutter. In diesem Moment habe ich alle | |
Hoffnung verloren. | |
Für die meisten Menschen bin ich einfach nur eine Journalistin. Für die | |
Taliban bin ich ein primäres Ziel: als eine Frau, die versucht hat, der | |
Taliban-Propaganda etwas entgegenzusetzen. Ich war panisch in diesen Tagen. | |
In der Menschenmenge vor dem Flughafen ist mir klar geworden, dass sich die | |
[4][deutsche Regierung keine Gedanken darüber gemacht hatte], wie sie jene | |
lokalen Mitarbeiter evakuieren will, die ihr Leben für den deutschen | |
Einsatz riskiert haben. Das Einzige, was die Bundeswehr in dieser | |
gefährlichen Situation tat, war, ein paar Iraner in einem Callcenter zu | |
beschäftigen, die uns anriefen und uns zum Flughafen schickten. | |
## Der Vater meiner Kinder zeigte mir die kalte Schulter | |
Ich flehte meinen Ex-Mann an, dass er mir die Kinder geben würde. Ich | |
konnte mir nicht vorstellen, meine Tochter in einem Land aufwachsen zu | |
lassen, in dem Frauen für Grundrechte wie Schulbildung kämpfen müssen. Aber | |
für den Vater meiner Kinder kam das nicht infrage. Er drohte: Wenn ich die | |
Kinder holen würde, würde er mich und meine Eltern bei den Taliban | |
verraten. Er ließ sich nicht überzeugen. Die Kinder in Afghanistan | |
zurückzulassen, war die schlimmste Entscheidung. | |
Die Bundeswehr rief mich wieder an und sagte, ich solle zum Flughafen | |
kommen. Ich sollte das Wort „Glück“ auf eine Flagge schreiben. Ein | |
Code-Wort. Die deutschen Soldaten würden mich dann durchlassen. Als wir | |
ankamen, waren da aber keine deutschen Soldaten. Es war der Abend des 23. | |
August, und dort standen nur britische und amerikanische Soldaten. | |
Ich habe einen Freund, er ist Soldat bei den Briten. Ich wusste, dass er im | |
Inneren des Flughafens im Einsatz war. Es war mitten in der Nacht, das | |
Internet war ausgefallen, zum Telefonieren war es zu laut, ich schrieb ihm | |
eine Nachricht. Er antwortete, ich solle einen weißen Pick-up-Truck suchen, | |
dort würde er warten. Und tatsächlich: Dort stand er. Zwischen uns verlief | |
nur ein Kanal. Meine Eltern und ich wühlten uns mit Taschenlampen durch das | |
braune Wasser auf die andere Seite – und hatten es geschafft. | |
## Ich habe meine Kinder zurücklassen müssen | |
Am 24. August saßen wir im Flugzeug nach Deutschland. Dicht gedrängt in | |
einem Bundeswehrflugzeug, ich hatte nur einen Rucksack dabei. Wie viel | |
Glück ich hatte, habe ich erst später verstanden. Die Bundeswehr hat in | |
diesen elf Tagen im August gut 5.000 Menschen evakuiert, darunter aber | |
[5][nur 30 Ortskräfte]. Ich war eine von ihnen. | |
Ich war erleichtert, aber gleichzeitig war mein Herz so schwer. Ich hatte | |
meine Kinder zurückgelassen. | |
Kurz nachdem wir losgeflogen sind, explodierte am Kabuler Flughafen | |
[6][eine Bombe]. Mehr als 200 Menschen sind gestorben, genau an dem Ort, an | |
dem ich wenige Stunden vorher mit meiner Familie stand. In dem Kanal, durch | |
den wir in der Nacht gewatet waren, sind die Leichen getrieben. | |
## Mein Mann hatte die Macht über die Kinder | |
In Deutschland sind wir in einer Flüchtlingsunterkunft bei Düsseldorf | |
untergekommen. Ich konnte mich nur schwer auf Deutschland einlassen, in | |
Gedanken war ich bei meinen Kindern. Die Menschen um mich herum wussten | |
das, viele haben mich sehr unterstützt in dieser schwierigen Zeit. | |
Im Januar 2022 sah es kurz so aus, als kämen meine Kinder nach Deutschland. | |
Mein Ex-Mann hat in Kabul an der Uni gearbeitet. Die Technische Uni in | |
Berlin hat die Evakuierung von Uni-Mitarbeitern unterstützt. Aber er hat | |
sich dagegen entschieden. Lieber wollte er in einem Land leben, das von | |
Extremisten regiert wird, als nach Deutschland zu kommen. | |
Aber das Leben in Afghanistan ist auch für ihn schwerer geworden. Er hat | |
seinen Job verloren. Also entschied er doch, nach Deutschland zu kommen. Es | |
gab nur ein Problem: Ich hatte die Pässe der Kinder. Es ist so gut wie | |
unmöglich, in Afghanistan zurzeit Pässe zu beantragen. | |
## Lang ersehnte Landung in Hannover | |
Ich hatte Angst, dass er mit seiner neuen Frau allein nach Deutschland | |
kommen und die Kinder zurücklassen würde. Glücklicherweise fand ich einen | |
Kollegen, der nach Afghanistan gereist ist. Er hat die Pässe mitgenommen | |
und meinem Ex-Mann übergeben. | |
Am 20. Mai habe ich mit Freunden meinen Geburtstag nachgefeiert, da bekam | |
ich die Nachricht: Mein Ex-Mann und meine Kinder sind in Hannover gelandet. | |
Das war das beste Geschenk, das ich je erhalten habe. Ich habe mir sofort | |
einen Anwalt gesucht und vor einem Familiengericht das Sorgerecht für meine | |
Kinder erstritten. Jetzt endlich leben sie bei mir. | |
Wir haben eine Wohnung in einer deutschen Großstadt gefunden. Meine Eltern | |
leben auch hier. Ich lerne Deutsch, meine Kinder gehen in die Kita und in | |
die Schule. Wir fühlen uns wohl. | |
Wenn ich an Afghanistan denke, kann ich immer noch nicht verstehen, wie das | |
Land so schnell kollabieren konnte. Wieso hat sich niemand den Taliban | |
entgegengestellt? Wieso hat niemand gekämpft? Wo ist die ganze Kraft hin, | |
die wir in das Land gesteckt haben? Was ist mit unserer Hoffnung auf | |
Wohlstand und Frieden passiert? War die ganze harte Arbeit umsonst und | |
jetzt ordnen wir uns wieder Männern unter, die Waffen über der Schulter | |
tragen und aus Höhlen gekommen sind? | |
Darauf wird es wohl nie befriedigende Antworten geben. | |
Aus dem Englischen von [7][Anne Fromm] | |
14 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Mehnaz Yosofzai | |
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