Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Jahr Afghanistan unter den Taliban: „Wir haben große Verantw…
> Grünen-Fraktionsvize Brugger fordert schnellere Aufnahme von Ortskräften
> aus Afghanistan. Ein solches Abzugsdesaster dürfe sich nicht wiederholen.
Bild: Flughafen in Kabul vor einem Jahr: Nach der Übernahme der Taliban fliehe…
taz: Frau Brugger, am Montag vor einem Jahr fiel Kabul an die Taliban. Wie
haben Sie die Tage im vergangenen August erlebt?
Agnieszka Brugger: Das war eine bittere Zeit. Ich war damals in zwei
unterschiedlichen Welten unterwegs: Es war Wahlkampf und ich hatte tagsüber
viele Termine in meinem Wahlkreis in Oberschwaben. Nachts saß ich dann
lange über dem Laptop oder habe mit dem Kollegen Nouripour telefoniert. Wir
haben uns bemüht, möglichst viele [1][Fälle von Schutzbedürftigen] an die
Regierung weiterzugeben. Wir haben unsere Fraktion gebrieft und haben
unfassbar viele Interviews gegeben, um die Große Koalition zum Handeln zu
bewegen.
Ihr Fokus lag also auf der Evakuierung der Ortskräfte?
Es ging auch um deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und um
[2][besonders gefährdete Gruppen] wie Journalistinnen und
Menschenrechtsaktivistinnen. Aber die Wut war beim Thema Ortskräfte
besonders groß, weil sowohl Abgeordnete verschiedener Fraktionen, die
Zivilgesellschaft als auch die Bundeswehr seit Monaten vor genau diesem
Szenario gewarnt hatten. Als man Flüge hätte chartern müssen, hat man sich
zynisch um Abschiebeflüge gekümmert. Später ging es dann um das gesamte
Krisenmanagement, das nun ein Untersuchungsausschuss zu Recht aufarbeiten
wird, um zu verhindern, dass sich so ein Desaster wiederholt.
In den vergangenen zwölf Monaten wurden Tausende Ortskräfte und deren
Angehörige doch noch evakuiert. Viele andere harren aber immer noch im Land
aus, haben zum Teil noch nicht mal eine Aufnahmezusage. Warum gibt es auch
unter der Ampel solche Probleme?
Wir haben eine große Verantwortung für [3][die verbliebenen Ortskräfte] und
die haben wir noch lange nicht erfüllt. Ich bin sehr verärgert darüber, wie
lange das dauert. Ich weiß, dass Außenministerin Baerbock und insbesondere
unsere Menschenrechtsbeauftragte Luise Amtsberg sich seit Monaten mit
großem Nachdruck für Fortschritte in Verhandlungen mit dem Innenministerium
einsetzen, dessen Chef:in zum Glück nicht mehr Horst Seehofer heißt.
Dieser Unterschied muss sich auch in der praktischen Politik zeigen.
Was fordern Sie?
Der Koalitionsvertrag ist in dieser Frage sehr klar: Es soll ein
Aufnahmeprogramm geben. Jetzt haben wir diesen traurigen Jahrestag und die
Zeit drängt. Es braucht jetzt schnell eine großzügige, schnelle und kluge
Lösung.
Blicken wir noch mal zurück auf den 15. August 2021: Die Bundesregierung
wurde damals vom Fall Kabuls überrascht. Sie auch?
Ich habe wie so viele befürchtet, dass der Abzug des westlichen Militärs
die verheerende Entwicklung der letzten Jahre noch mal beschleunigen wird.
Das Tempo haben aber wenige vorhergesehen. Umso schlimmer, dass die
damalige Bundesregierung nicht auf Szenarien vorbereitet war, von denen
alle wissen mussten, dass sie früher oder später kommen.
Die Lehre für die Zukunft lautet also: Immer vom Schlimmsten ausgehen?
Nein, aber man muss sich auf verschiedene Szenarien vorbereiten und darf
nicht leichtsinnig sein. Mir hat der letzte August noch mal die Tragweite
unserer politischen Entscheidungen deutlich gemacht. Das war für mich auch
ein emotional einschneidendes Erlebnis. Und es hat mir in aller
Deutlichkeit vor Augen geführt, wie schwierig es ist, einen
verantwortungsvollen Abzug umzusetzen. Es ist schnell und auch zutreffend
gesagt, dass Donald Trump den Abzug katastrophal angelegt hat. Aber wie
könnte ein Abzug aussehen, der keine solche Dynamik auslöst? Und was hätten
wir sonst noch anders machen müssen in den zwanzig Jahren
Auslandseinsatz? Das sind Fragen, die mich nicht nur am Jahrestag
beschäftigen. Daher ist es auch so wichtig, dass eine Enquetekommission nun
das ganze Engagement in Afghanistan mit Lehren für die Zukunft mit viel
Expertise aufarbeiten wird.
Haben Sie jenseits der Kommission schon erste Antworten auf Ihre Fragen?
Für mich ist eine der wenigen Gewissheiten, die wir bisher haben: In der
ruhigen Sicherheitslage der ersten Jahre hätten alle Chancen genutzt werden
müssen, um die Konfliktursachen stärker mit zivilen Mitteln anzugehen. Das
habe ich auf meinen ersten Afghanistan-Reisen sogar von vielen Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr gehört. Eine weitere Lehre, aus der wir in Mali
auch schon die Konsequenz gezogen haben: Ohne eine Regierung, die an echten
politischen Reformen interessiert ist und mit der eine vernünftige
Zusammenarbeit möglich ist, kann die Ausbildung von Sicherheitskräften
nicht erfolgreich sein. Es ist sogar eher mit Risiken behaftet, wenn ein
Einsatz immer wieder fortgesetzt wird, ohne eine Erfolgsperspektive zu
sehen. Den Afghanistan-Mandaten hatte ich deshalb im Bundestag in den
letzten Jahren auch nicht zugestimmt.
Die EU-Ausbildungsmission in Mali wurde schon im April gestoppt. Seit
Freitag ist wegen dauernder Schikanen der Militärjunta auch die
[4][deutsche Beteiligung am Stabilisierungseinsatz Minusma] teilweise
ausgesetzt. Gerade nach den Erfahrungen aus Afghanistan: Wäre es nicht
schon lange an der Zeit gewesen, auch diesen Einsatz zu beenden?
Es ist wichtig, jeden Konflikt und jedes Land für sich zu analysieren. Und
so sind auch Mali und Afghanistan nur auf den oberflächlichen Blick einfach
in der Analogie. So haben wir auch die Ausbildung für das malische Militär
beendet. Aber jetzt zu sagen, wir werfen auch bei der
Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen einfach hin, wirft die Frage
auf, was unser Abzug eben auch auslösen könnte. Dabei geht es in erster
Linie um die Situation der Zivilbevölkerung und eine Unterstützung der
Vereinten Nationen. Russland baut systematisch den eigenen Einfluss in der
Region aus, und wir beobachten international, wie die Vereinten Nationen
immer weiter geschwächt werden. Trotzdem gibt es natürlich einen Punkt, an
dem ein Einsatz gescheitert ist. Bei der Frage, ob wir die Beteiligung an
Minusma fortsetzen, stehen wir in den nächsten Wochen vor einem Dilemma.
Was sind für Sie die entscheidenden Kriterien?
Wenn die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten nicht mehr gewährleistet
ist, würde ich sehr schweren Herzens zu dem Schluss kommen, dass der
Einsatz nicht verantwortungsvoll fortgesetzt werden kann. Wenn also zum
Beispiel die Rettungskette nicht mehr steht, weil die Militärjunta die
Überflugrechte permanent aussetzt oder bestimmte Fähigkeiten nicht da sind.
Aktuell kann die Mission ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen, weil Mali
die Ankunft von Sicherungskräften verhindert hat. Die malische Militärjunta
spielt mit dem Feuer. Die aktuellen Probleme bei den Kontingentwechseln
müssen sich in den nächsten Wochen ein für alle Mal klären.
Bleibt denn so viel Zeit? Müsste die Entscheidung nicht in den nächsten
Tagen fallen?
Da der Hintergrund des ständigen Hin und Hers aktuell unklar ist, ist es
klüger, zu schauen, ob die Gespräche zwischen den Vereinten Nationen, den
Minusma-Staaten und der malischen Regierung in den nächsten Wochen zu einer
nachhaltigen Lösung führen, statt einfach sofort hinzuwerfen.
Zieht die Ampel in der Frage an einem Strang? Zuletzt war von Differenzen
zwischen Verteidigungs- und Außenministerium zu lesen.
Zum letzten Bundestagsmandat hatten wir gemeinsam einen sehr intensiven
Diskussionsprozess, den alle als sehr gewinnbringend empfunden haben. Es
ist wichtig, dass sich die Ressorts eng und gut abstimmen. Entscheidungen
solcher Tragweite müssen Bundesregierung und Parlament gemeinsam und nach
sorgfältiger Abwägung treffen.
Über Mali hinaus: Wird das Afghanistan-Desaster zu weniger
Bundeswehreinsätzen führen, weil dort offensichtlich wurde, wie begrenzt
ihr Potenzial ist?
Das Scheitern führt uns vor Augen, wie wenig wir mit militärischen Mitteln
allein oft beeinflussen können. Manche ziehen aus dem brutalen russischen
Angriffskrieg auf die Ukraine die Schlussfolgerung, dass wir uns nur noch
auf die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren sollten. Das teile
ich nicht. Wir sehen ja, dass es keine Krise gibt, die nicht auch uns in
der einen oder anderen Weise erreicht. Und wenn wir den Anspruch haben,
dass die Werte der UN-Charta global etwas wert sind, dann braucht es mehr
Engagement Deutschlands auf der Weltbühne und nicht weniger. Das sollte
nicht in leichtfertigen, übereilten oder schöngeredeten Militäreinsätzen
bestehen, sondern in einem informierten Engagement mit den richtigen
Instrumenten für den jeweiligen Konflikt.
Hat die Bundeswehr überhaupt noch Ressourcen für Auslandseinsätze, wenn sie
künftig viel stärker zur Abschreckung Russlands benötigt wird?
Natürlich wird die Landes- und Bündnisverteidigung auf absehbare Zeit mehr
Kräfte binden. Ich kenne auch niemanden, der jetzt euphorisch neue Einsätze
beginnen will. Trotzdem kann die Bundeswehr grundsätzlich auch in Zukunft
beides leisten.
Schauen wir zum Schluss noch auf [5][Afghanistan heute]: Die politische,
wirtschaftliche und humanitäre Lage ist katastrophal. Welche Verantwortung
hat die Bundesrepublik jenseits der Ortskräftefrage – und wird sie ihr
gerecht?
Leider bestätigt sich, was viele immer befürchtet haben: Sobald die
Bundeswehr abgezogen ist, klingt das öffentliche Interesse ab. Unsere
Verantwortung endete nicht mit dem Abzug und trotzdem sind unsere
Möglichkeiten sehr begrenzt, denn niemand möchte die Taliban-Regierung
stärken, legitimieren oder anerkennen. Wir müssen schauen, dass wir gerade
Organisationen wie die Vereinten Nationen unterstützen, die noch vor Ort
sind und direkten Zugang zu den Menschen haben. Da sollte Deutschland ein
großer Geldgeber bleiben, insbesondere wenn es um die Situation von Frauen
und Mädchen geht.
Einige Hilfsorganisationen kritisieren westliche Sanktionen gegen
Afghanistan. Sie seien eine der Ursachen für die humanitäre Krise.
Ich verstehe, dass man diese Maßnahmen beim Anblick des Leids schwierig
findet. Aber ich glaube nicht, dass die Menschen in Afghanistan profitieren
würden, wenn die Sanktionen fallen. Am Ende würde nur die radikale und
[6][korrupte Taliban-Regierung] ihre Macht ausbauen und das Geld in die
eigenen Taschen stecken.
14 Aug 2022
## LINKS
[1] /Afghanische-Ortskraefte-der-Bundeswehr/!5870801
[2] /Ortskraefte-der-Bundeswehr-in-Afghanistan/!5868444
[3] /Bundesaufnahmeprogramm-fuer-Afghanen/!5868881
[4] /Bundeswehreinsatz-in-Mali/!5871454
[5] /Ein-Jahr-Afghanistan-unter-den-Taliban/!5870182
[6] /Afghanistan-und-Scharia-Gesetzgebung/!5823474
## AUTOREN
Tobias Schulze
## TAGS
Schwerpunkt Afghanistan
Bundeswehr
Kabul
Ortskräfte
Mali
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Untersuchungsausschuss zu Afghanistan: „Wir dachten, uns würde geholfen“
Im Untersuchungsausschuss zu Afghanistan im Bundestag sagt eine ehemalige
Ortskraft aus. Es ist der verzweifelte Bericht in einer ausweglosen Lage.
Explosion in Afghanistan: Mindestens sieben Menschen getötet
In Kabul detonierte eine Autobombe in der Nähe einer Moschee. Dabei wurden
mindestens sieben Menschen getötet und 41 weitere verletzt. Darunter auch
Kinder.
Bundestags-Gremium zum Afghanistan-Abzug: Lage falsch eingeschätzt
Der U-Ausschuss zum Afghanistan-Einsatz befragt erste Zeug*innen und
ärgert sich über den BND. Der Geheimdienst liefert seine Unterlagen nicht.
Afghanische Ortskräfte der Bundeswehr: Die schlimmsten Tage meines Lebens
Unsere Autorin war Ortskraft in Kabul. Als vor einem Jahr die Taliban die
Stadt eroberten, begann der Horror. Sie schaffte es nach Deutschland.
Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan: „Ich weiß, dass sie mich suchen“
Vor einem Jahr eroberten die Taliban Afghanistan. Noch immer hat
Deutschland nicht alle ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr gerettet.
Bundesaufnahmeprogramm für Afghanen: Hilfe für die Helfer
Hakim M. und seine Familie beherbergten Ortskräfte in Kabul und gerieten
ins Visier der Taliban. Nach langem Warten könnte Berlin jetzt bald helfen.
Untersuchungsausschuss zu Afghanistan: Kabul noch nicht ganz vergessen
Der Bundestag bringt den Untersuchungsausschuss zum desaströsen
Truppenabzug aus Afghanistan auf den Weg. Der Linken geht er nicht weit
genug.
Aufnahme von Menschen aus Afghanistan: Rettung nur für 5.000 im Jahr
Im Koalitionsvertrag hat die Ampel-Koalition Hilfe für gefährdete Menschen
in Afghanistan versprochen. Diese soll mit einer Obergrenze kommen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.