# taz.de -- Ärger mit dem Sozialticket: Die Leute können nicht warten | |
> 7.000 Menschen kassierten ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“, weil ihnen | |
> unverschuldet die „Kundenkarte S“ fehlte. Die Sozialverwaltung ist | |
> machtlos. | |
Bild: Für Menschen, die von Sozialleistungen leben müssen, ist die BVG zu teu… | |
BERLIN taz | Birgit Dagadelen verlässt am Dienstagmittag verzweifelt die | |
Zentrale der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) an der Holzmarktstraße. „Ich | |
stehe kurz vor dem Nervenzusammenbruch“, sagt sie und lacht hysterisch. | |
Seit Ende November versucht Dagadelen, eine [1][VBB-Kundenkarte S zu | |
beantragen. Nur in Verbindung mit dieser können Geringverdiener das | |
9-Euro-Sozialticket benutzen]. | |
Der Antrag gleicht einer Schnitzeljagd durch Berlin. Denn die 59-Jährige | |
hat zu Hause kein Internet – und ohne Netz gibt es nur eine Möglichkeit: Am | |
Eingang des BVG-Kundencenters am Alex befindet sich ein unscheinbarer | |
Briefkasten mit der Aufschrift „Hier Anträge für VBB-Kundenkarte Berlin S | |
einwerfen“. Fehlt dann aber ein Dokument oder das Passfoto, erhält man erst | |
Wochen später Post – Zeit, in der man keinen Fahrschein hat. | |
Rund 7.000 Menschen haben laut BVG von Anfang Oktober bis zum Stichtag 9. | |
Januar bei Kontrollen ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ (EBE) über 60 E… | |
aufgebrummt bekommen, weil sie – in der Regel unverschuldet – die neue | |
VBB-Kundenkarte S nicht vorweisen konnten. Zwar können Betroffene „zeitnah“ | |
die Karte nachreichen, dann wird das EBE erlassen. Sieben Euro | |
„Verwaltungsgebühr“ müssen sie dennoch bezahlen – also fast so viel, wie | |
das Sozialticket mit 9 Euro selbst kostet. Auch bleibt ihnen der Ärger und | |
die Rennerei zum Kundenzentrum nicht erspart. | |
Das Problem ist bekannt. Seit einem Jahr, als zum Jahreswechsel 2022/23 der | |
„Berlin Pass“ abgeschafft wurde, sind die beteiligten Ämter – Jobcenter, | |
Sozialämter, Wohngeldstellen und das Landesamt für | |
Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) – oft nicht in der Lage, [2][rechtzeitig | |
allen Berechtigten den neuen „Berechtigungsnachweis“ zuzuschicken], mit dem | |
allein man die VBB-Kundenkarte S beantragen kann. Oder aber die BVG braucht | |
wochenlang, selbige Karte zuzusenden – das ist nach taz-Information vor | |
allem bei auf dem Papierweg bestellten Kundenkarten weiterhin der Fall. | |
## Der langsame Briefkasten | |
Atanaska Prodanova hat es auch schon mit dem Briefkasten am Alex versucht – | |
vergeblich. Erst nach drei Wochen erhielt sie eine Rückmeldung über | |
fehlende Dokumente. Als sie es das nächste Mal online versuchte, hatte sie | |
die Karte innerhalb einer Woche in ihrem Briefkasten. Der Postweg hat sie | |
Zeit gekostet – und Geld, weil sie als Zwischenlösung ein | |
Deutschlandticket-Abo abgeschlossen hat. Deshalb steht sie am Dienstag in | |
der Schlange vor dem Kundencenter: Sie will das Abo jetzt kündigen. | |
Birgit Dagadelen hat schon öfter etwas in den Briefkasten eingeworfen, nach | |
Wochen Post bekommen, und wieder klappte es nicht. Weil die | |
Mitarbeiter:innen ihr nicht weiterhelfen konnten, hofft sie nun auf | |
ihr Glück in der Unternehmenszentrale am Holzmarkt. Doch der Mitarbeiter | |
rät Dagadelen nur, die Unterlagen per Einschreiben zu schicken. Sie lacht: | |
„Dafür reicht das Geld nicht.“ Sie macht sich auf den Weg nach Hause, um | |
die fehlenden Unterlagen abzuholen. Dann wird sie ihr Glück erneut mit dem | |
Briefkasten versuchen. Eine andere Möglichkeit bleibt ihr nicht. | |
So geht es vielen Sozialticket-Berechtigten. Die Folge: Sie können über | |
Wochen nicht mit der BVG fahren – es sei denn, sie riskieren es, beim | |
Fahren ohne gültige Fahrkarte erwischt zu werden, oder sie kaufen teure | |
Einzelfahrscheine. Übergangsweise galt bis Ende September der | |
Leistungsbescheid der zuständigen Behörde als Nachweis, dass man berechtigt | |
ist, mit Sozialticket zu fahren. Aber seit das nicht mehr gilt, verteilt | |
die BVG „großzügig“ EBEs. Es gebe „tariflich“ keine andere Möglichke… | |
erklärte ein BVG-Sprecher der taz im Dezember. | |
„Das kann doch nicht wahr sein. Warum verwehrt man uns die Teilnahme am | |
öffentlichen Leben? Dass die Ämter nicht klarkommen, ist doch nicht unsere | |
Schuld“, empört sich taz-Leserin Christiane G. aus Gesundbrunnen. Die | |
59-jährige Bürgergeldempfängerin bleibt seit Wochen zu Hause, weil sie sich | |
das Bahnfahren gerade schlicht nicht leisten kann. Seit Ende November | |
wartet sie auf ihren Berechtigungsnachweis. Den bekommen Jobcenter-Kunden | |
zentral von der Bundesarbeitsagentur in Nürnberg zugeschickt – eigentlich. | |
Oft klappt es aber nicht, „zweimal habe ich das schon brieflich angemahnt“, | |
sagt G., die aus Angst vor negativen Konsequenzen ihren richtigen Namen | |
nicht nennen will. „Warum handelt der Senat nicht?“, will sie wissen. | |
## Zurück zum Berlin Pass? | |
Das fragt auch der Abgeordnete Taylan Kurt, bei den Grünen zuständig für | |
Sozialpolitik. „Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe muss jetzt sofort die alte | |
Übergangslösung wieder in Kraft setzen“, fordert er. Zudem solle sie sich | |
für einen Erlass einsetzen, der die bisher erteilten Bußgelder der BVG | |
wieder aufhebt. | |
Auch Politiker anderer Parteien hatten im November im Sozialausschuss die | |
Rückkehr zur Übergangsregelung beziehungsweise zum alten Berlin Pass | |
gefordert – zumindest so lange, bis die neue Regelung mit dem | |
Berechtigtennachweis funktioniere. Der zuständige Sozial-Staatssekretär | |
Aziz Bozkurt (SPD) hatte sich auf taz-Anfrage einsichtig gezeigt, dass der | |
eingeschlagene Weg wohl nicht der richtige sei. Doch wie es weitergehen | |
solle, wusste er nicht zu sagen. | |
Seither scheint in der Sache nichts geschehen zu sein. Man habe keine | |
Einflussmöglichkeiten auf die Arbeitsweise der BVG bezüglich Bußgeldern, | |
erklärte Kiziltepes Sprecher am Dienstag der taz. Man sei aber „mit den | |
Beteiligten in Gesprächen, um eine kurzfristige und pragmatische Lösung für | |
die Betroffenen zu finden“. | |
Taylan Kurt reicht das nicht. Die Senatorin müsse dem Problem endlich | |
höchste Priorität einräumen: „Wir bringen Menschen mit einem Bein ins | |
Gefängnis, wenn sie ihr Bußgeld nicht bezahlen können, das sie nur | |
bekommen, weil die Verwaltung ihre Arbeit nicht hinbekommt. Wie lange | |
sollen die Leute noch warten?“ | |
Bevor sie geht, holt Dagadelen eine lilafarbene Karte aus ihrem | |
Portemonnaie. Ein Relikt aus einfacheren Zeiten. „Der Berlin Pass war eine | |
wunderbare Sache“, sagt sie. Die Papierkarte ist in der Mitte zerrissen, | |
sie hält beide Stücke vorsichtig in der Hand. Als der Berlin Pass noch | |
gültig war, hieß es Hartz IV, heute gibt es Bürgergeld und die Berlin | |
S-Karte. „Das ist der absolute Wahnsinn“, sagt Dagadelen. „Ich würde ger… | |
den Menschen kennen lernen, der sich das ausgedacht hat.“ | |
9 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Clara Suchy | |
Susanne Memarnia | |
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