| # taz.de -- Abschiedsreise der Bundeskanzlerin: Merkel weiß, wer der Boss ist | |
| > Die Kanzlerin traf sich zum 16. Mal in neun Jahren mit dem serbischen | |
| > Präsidenten – und zeigt, dass sie keine Berührungsängste mit Autokraten | |
| > hat. | |
| Bild: Es war der sechzehnte Besuch von Angela Merkel | |
| Belgrad taz | Schon im Himmel hieß man die Bundeskanzlerin willkommen. | |
| Sechs MIGs der serbischen Luftwaffe begleiteten das Flugzeug der | |
| Bundesregierung, in dem Angela Merkel nach Belgrad flog. Und auf dem Weg | |
| zum Treffen mit dem serbischen Präsidenten konnte sie sich über eine mit | |
| deutschen und serbischen Fahnen geschmückte Autobahn sowie eine Plakattafel | |
| mit der Aufschrift „Herzlich Willkommen, Bundeskanzlerin Merkel“ freuen. | |
| Es war das sechzehnte Mal in neun Jahren, dass sich die Bundeskanzlerin mit | |
| dem serbischen Präsidenten traf, seit er 2012 das Ruder in der Hand hält. | |
| Nur im Coronajahr 2020 mussten sich beide mit einem Videolink begnügen. Bei | |
| Fototerminen und der Pressekonferenz wirkte die Kanzlerin sehr entspannt. | |
| Man kennt sich, man kann sich gut leiden. | |
| Wann immer er es brauchte, konnte Aleksandar Vučić mit der Unterstützung | |
| der Bundeskanzlerin rechnen. So pflegte er von ihr als von „meiner Freundin | |
| Angela“ zu sprechen, redete den Serben über die Jahre mit erhobenem | |
| Zeigefinger ein, sie sollten sich an den Deutschen ein Beispiel nehmen, | |
| hielt Tiraden über die protestantische Arbeitsethik und Max Weber. Merkel | |
| nahm das alles wohlwollend hin. Die Bundeskanzlerin sprach im Gegenzug von | |
| einem „offenen und sehr vertrauensvollen Verhältnis“. Im Präsidentenpalast | |
| parlierten sie ein bisschen über das Kosovo, die serbischen EU-Ambitionen, | |
| die Demokratie, den Rechtsstaat, alles verallgemeinert und in den üblichen | |
| Floskeln, es war ja ein Abschiedsbesuch. Man sei sich ja nicht in allem | |
| einig, vor allem, was die Unabhängigkeit des Kosovo angeht, aber was | |
| soll’s, hieß es. | |
| In der Darstellung von Vučić und den gleichgeschalteten serbischen Medien | |
| hat Angela Merkel mit ihrem Besuch in Belgrad, wo sie auch übernachtete, | |
| Vučić eine Ehre erwiesen – mit den Regierungschefs aller anderen | |
| Westbalkanstaaten traf sie sich Dienstag in Tirana. Laut serbischer | |
| Verfassung hat der Staatspräsident allerdings ähnliche Befugnisse wie der | |
| Bundespräsident, rein protokollarisch hätte sich die Bundeskanzlerin also | |
| mit Regierungschefin Ana Brnabić treffen müssen. Man weiß aber, wer der | |
| Boss in Serbien ist, der geliebte Volksführer, um den systematisch ein | |
| Personenkult aufgebaut wird, der sich über Verfassung und Gesetz gestellt | |
| und Parlament, Regierung, Justiz, und was es sonst in parlamentarischen | |
| Demokratien so gibt, zu einem Witz gemacht hat. Zumindest ist das die | |
| Wahrnehmung der Opposition und der wenigen kritischen Medien. | |
| ## Freundin Angela | |
| Im serbischen Parlament ist keine einzige Oppositionspartei vertreten. Das | |
| weiß die Bundeskanzlerin, und trotzdem ließ sie sich jahrelang als „Vučićs | |
| Freundin Angela“ einspannen – Stabilokratie vor Demokratie, das war | |
| anscheinend das pragmatische Motto der Westbalkanpolitik der Regierung | |
| Merkel; wer Hooligans und Randalierer an der Leine hält, der ist Herrscher | |
| über den Frieden; und den sollte man an seiner Seite halten. Seit Vučić an | |
| der Macht ist, kam es zu keinen Ausschreitungen der Serben im Kosovo, und | |
| sogar die Pride konnte in aller Ruhe durch Belgrad paradieren, ohne dass | |
| rechtsnationale Randalierer und Polizei die halbe Stadt zum Schlachtfeld | |
| machten. Auch Mutti weiß, wer in Serbien der Boss ist. | |
| Serbien hat sich unter Vučić über die Jahre zu einer Textbook-Autokratie | |
| entwickelt, zu einer „hybriden Demokratie“, wie das die amerikanische NGO | |
| Freedom House definierte. Staatliche Institutionen und ein Großteil der | |
| Medien verfolgen allein die Interessen der Serbischen Fortschrittspartei | |
| (SNS), an deren Spitze Vučić steht. Im Land mit seinen 6,9 Millionen | |
| Einwohnern hat die SNS, in der strengste Disziplin herrscht, rund 750.000 | |
| Mitglieder. Es ist eine Armee, in der jeder Soldat die heilige Aufgabe hat, | |
| Vučić zu verherrlichen. | |
| Die Gesellschaft des EU-Beitrittskandidaten entfernt sich in der Tat immer | |
| mehr von der EU. Das alles schien niemanden im Bundeskanzleramt zu stören. | |
| Den deutschen Firmen in Serbien geht es nämlich gut. Rund 500 deutsche | |
| Unternehmen beschäftigen 70.000 Serben. | |
| 14 Sep 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Andrej Ivanji | |
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