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# taz.de -- 80 Jahre Tag der Befreiung: Erinnern, nicht vergessen
> Den 8. Mai 1945 erlebten nur wenige als Tag der Befreiung. Ihr Leid war
> damit nicht beendet. Digitalisierung hilft, ihre Geschichten nicht zu
> vergessen.
Bild: Weiße Fahnen in Berlin. Noch Ende April konnte man dafür von den Nazis …
Als die Sowjets die Stadt übernommen hatten, da streifte sich Anna Anschel
eine rote Binde über den Arm. Für die 44-Jährige war der 8. Mai 1945
tatsächlich das, als was er heute gefeiert wird: Der Tag der Befreiung. 13
Jahre Terror gegen sie und ihre Familie, insbesondere gegen ihren Mann Max,
waren vorbei. Die taz hatte [1][ihre Geschichte ausführlich recherchiert].
Schon 1933 hatte ein SA-Trupp ihren Schokoladenhandel in Berlin-Mitte
attackiert, weil Max Anschel Jude war. Nach der Pogromnacht 1938 kam das
Geschäft zum Erliegen, auch weil Anna Anschel als Frau eines Juden keine
Ware mehr bekam. Die Tochter musste die Schule wechseln. Anfang 1944 wurde
ihr Mann verhaftet, weil das Paar darauf bestanden hatte, bei
Bombenangriffen in den Luftschutzkeller zu dürfen. Er kam nach Auschwitz.
Was aus ihm geworden war, erfuhr Anna Anschel erst später. Sehr viel
später.
Was ihre Nachbarn in der Elisabethkirchstraße von ihr hielten, bekam Anna
Anschel um so schneller zu spüren. Sie sei „mit der roten Binde wie ein
gespreizter Pfau durch die Straßen“ gelaufen, schrieb 1946 ein
Straßenobmann, als Nachbar:innen versuchten, die Schuld für die
Deportation ihres Mannes ihr in die Schuhe zu schieben – worauf sie
zeitweise sogar die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ verlor.
Der Krieg war mit dem 8. Mai 1945 vorbei, der Nationalsozialismus
Vergangenheit. Aber die Ideologie, der Hass blieb in den Köpfen vieler.
[2][„…endlich Frieden?!“], fragt aktuell eine Open-Air-Ausstellung auf dem
Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Sie erinnert an die
Befreiung vom Nationalsozialismus vor 80 Jahren, an die
Vernichtungsfeldzüge gegen die jüdische und slawische Bevölkerung.
## Propaganda und Terror
Nach sechs Jahren Krieg, der mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1.
September 1939 begonnen hatte, lagen nicht nur Deutschland, sondern weite
Teile der Welt in Schutt und Asche. 6 Millionen Jüd:innen waren ermordet
worden. Geschätzt 40 Millionen Soldat:innen und Zivilist:innen waren
allein in Europa ums Leben gekommen. Und in Asien dauerte der Krieg noch an
– bis zur Kapitulation Japans nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und
Nagasaki.
Allein bei der rund zweiwöchigen Schlacht um Berlin waren rund 170.000
Soldaten gestorben, erinnert die Ausstellung auf dem Pariser Platz – und
daran, dass die Abwesenheit von Krieg noch lange keinen Frieden für den
Menschen bedeutete. Etwa 120.000 Frauen und Mädchen wurden Opfer von
Vergewaltigungen.
Dass die Soldaten der Roten Armee nur von wenigen tatsächlich als Befreier
gesehen wurden, lag auch an der alles dominierenden Propaganda und dem
Terror des NS-Regimes, dem viele bis in die letzten Stunden anhingen. Noch
in den letzten Apriltagen wurde der „Panzerbär“, das „Kampfblatt für die
Verteidiger Groß-Berlins“ gedruckt. Darin wurde nicht nur behauptet, „daß
das Eindringen feindlicher Panzer in die Berliner Vororte noch kein Grund
für übertriebene Beunruhigung (…) zu sein braucht“. Es wurde auch
eindringlich vor „der bolschewistischen Weltgefahr“ gewarnt, der in Berlin
„der Heilige Krieg erklärt“ worden sei.
Gewarnt wurden auch alle, die dieser Propaganda nicht mehr folgen wollten.
„Jeder, der Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert
oder gar billigt, ist (…) augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“,
heißt es in einer von Adolf Hitler gezeichneten Mahnung.
## Gedenken digital
Dass das keine leere Drohung war, zeigt aktuell die Ausstellung „Widerstand
gegen den Nationalsozialismus am Kriegsende“ in der Gedenkstätte deutscher
Widerstand. Sie erzählt von lang geplanten oder spontanen Aktionen, die
selbst in den letzten Kriegstagen häufig zur Hinrichtung der
Aktivist:innen führte. So erkannte etwa der Kampfkommandant von Gotha,
dass eine Verteidigung der Stadt gegen die anrückenden US-Truppen zwecklos
wäre und ließ weiße Fahnen aufhängen. Er wurde dafür vor ein Standgericht
der Wehrmacht in Weimar gestellt und erschossen.
Dass solche Einzelschicksale erzählt werden, ist wichtig, weil sie das an
sich unermessliche Grauen der NS-Zeit einigermaßen begreiflich machen. Weil
fast alle Zeitzeug:innen mittlerweile tot sind, bleibt in vielen Fällen
nur noch der Blick in die Akten. Dabei hilft die Digitalisierung. Projekte
wie [3][mappingthelives.org] verorten Schicksale von NS-Opfern.
Die [4][App „Nazi Crimes Atlas“], die am 8. Mai starten soll, will das
Gleiche leisten – nur mit Tätern. Sie will anhand von rund 25.000
Gerichtsakten NS-Verbrechen und deren Tatorte belegen – vom
Konzentrationslager bis zu alltäglichen Orten. Solche Angebote helfen
wiederum Interessierten, lokale Geschichten zu erforschen und somit vor dem
Vergessen zu retten.
Anna Anschel wurde über das Schicksal ihres Mannes erst durch einen Brief
des Arolsen Archivs aufgeklärt. Nach sorgfältiger Prüfung jetzt erst
eingegangener Dokumente, hieß es darin, könne nun festgestellt werden, dass
ihr Mann Max von Auschwitz ins KZ Stutthof deportiert worden sei, wo er
wenig später am 22. November 1944 ums Leben kam. Eine entsprechende
Sterbeurkunde lag bei. Der Brief wurde am 22. Mai 1968 versendet – 23 Jahre
nach Ende des NS-Regimes. Ob sie ihn jemals bekommen hat, ist unklar. Ein
Jahr zuvor war sie verzogen.
8 May 2025
## LINKS
[1] /Mein-Vormieter-Max-Anschel-1/!6041692
[2] https://www.80-jahre-kriegsende.de/de
[3] https://mappingthelives.org/?language=de
[4] https://nazicrimesatlas.org/
## AUTOREN
Gereon Asmuth
## TAGS
8. Mai 1945
Judenverfolgung
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
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Schwerpunkt Tag der Befreiung
Migration
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