| # taz.de -- 40 Jahre Republikanischer Anwaltsverein: „Bürgerrechte werden re… | |
| > Seit 40 Jahren ist der RAV Wächter der Bürger- und Freiheitsrechte gegen | |
| > Machtansprüche des Staates. Der Vorsitzende Peer Stolle zieht Bilanz. | |
| Bild: Auch hier war der RAV Teil des Bündnisses: Unteilbar-Demo in Berlin | |
| taz: Herr Stolle, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) | |
| wurde 1979 gegründet – in den Nachwehen des deutschen Herbstes und der RAF. | |
| Gab es einen konkreten Anlass oder war es die Notwendigkeit der Zeit? | |
| Peer Stolle: Die Zeit war geprägt durch enorme Verschärfungen im Bereich | |
| der inneren Sicherheit: Antiterrorgesetzgebung, Verschärfung des | |
| Strafprozessrechtes, Einschränkung der Verteidigungs- und | |
| Beschuldigtenrechte. Es gab massive Angriffe auf diejenigen, die in | |
| politischen Strafverfahren verteidigt haben. Daraus entstand das Bedürfnis | |
| sich selbst zu organisieren. Werner Holtfort, der dann erster Vorsitzender | |
| des RAV wurde, hatte die Idee für eine politische Anwaltsorganisation, die | |
| gegen die gesetzlichen Verschärfungen vorgeht und die KollegInnen gegen | |
| Angriffe der Justiz und von Rechtsaußen verteidigt, weil die Anwaltskammern | |
| und der Deutsche Anwaltsverein diese Aufgabe nicht übernommen hatten. | |
| Ist man heutzutage als linker Anwalt noch solchen Angriffen ausgesetzt? | |
| Das Selbstverständnis der Anwaltschaft hat sich stark verändert. | |
| Mittlerweile stellen sich die Kammern oder der Deutsche Anwaltsverein | |
| schützend vor die KollegInnen. Und generell hat sich das Standing der | |
| Anwaltschaft in der Justiz verbessert, VerteidigerInnen werden nicht mehr | |
| in dem Maße als Störenfriede wahrgenommen. Nichts desto trotz ist der Kampf | |
| um die „freie Advokatur“, wie wir sagen, immer noch notwendig. Alle zwei | |
| Jahre steht eine Verschärfung der Strafprozessordnung auf der Tagesordnung | |
| und immer wieder wird die Anwaltschaft auch angegriffen. | |
| Wie denn? | |
| Beim G20-Gipfel in Hamburg wurde der RAV von der Polizei angegriffen. Da | |
| hatten KollegInnen Mandanten vertreten, die gegen die Sicherheitszone | |
| geklagt hatten, in denen Versammlungen verboten waren. Die Gefahrenprognose | |
| der Polizei wurde unter anderem damit begründet, dass die Anwälte zum RAV | |
| gehören. Den MandantInnen wurde somit vorgeworfen, welche AnwältInnen sie | |
| haben, nämlich solche, die die Freiheitsrechte der Betroffenen | |
| uneingeschränkt verteidigen. Der RAV hat das öffentlich gemacht. Daraufhin | |
| haben sich viele andere Anwaltsorganisationen solidarisch erklärt. | |
| Wie ist der Stand der Bürgerrechte verglichen mit der Anfangszeit des RAV? | |
| Einerseits hat es eine Liberalisierung und Erweiterung von Bürgerrechten | |
| gegeben, etwa neue Grundrechte im Bereich Datenschutz. Wir haben heute auch | |
| ganz andere Vorstellungen von Gleichstellung und Gleichberechtigung. | |
| Andererseits ist vieles davon Symbolpolitik. Bürgerrechte werden auch immer | |
| wieder relativiert, nicht nur im Migrationsrecht wird verstärkt der Zugang | |
| zum Recht verwehrt. Auch wird mit den neuen Polizeirechten versucht, | |
| Eingriffsbefugnisse für die Polizei grenzenlos zu gewähren. | |
| Warum eigentlich? Im Vergleich zu vor 40 Jahren leben wir doch in einer | |
| relativ befriedeten Gesellschaft. | |
| Die Wahrnehmung von Störungen und Gefahren ist eine vollkommen andere als | |
| damals. Wir haben einen permanenten Verstärkerkreislauf: Jedes Mal, wenn | |
| eine spektakuläre Straftat geschieht, wird sofort die Forderung nach neuen | |
| Gesetzen laut – und die Sicherheitsbehörden selbst nutzen jeden Anlass, um | |
| sich neue Befugnisse zuzuschanzen. Die Vorstellung erst bei einer konkreten | |
| Gefahr einzugreifen, wird abgelöst von dem Versuch schon die Entstehung von | |
| Risiken zu verhindern. Das führt zu solchen Gesetzen, die von der | |
| „drohenden Gefahr“ ausgehen. Da löst man sich vom ohnehin schwammigen | |
| Begriff der Gefahr, um noch weiter im Vorfeld polizeilich tätig zu werden. | |
| Gleichzeitig müssen Menschen, die Polizeigewalt erfahren und dagegen | |
| klagen, klassischer Weise mit einer Anzeige wegen Widerstands rechnen. Wie | |
| kann man sich dagegen wehren? | |
| Die besten Chancen hat man, wenn man die Version der PolizeibeamtInnen mit | |
| einem Video erschüttern kann. Dann ist es nicht ganz so aussichtslos. Sonst | |
| bleibt nur eine akribische und umfangreiche Vorbereitung des konkreten | |
| Falls. Allgemein ist es wichtig, dass rechtswidrige Polizeigewalt in der | |
| Öffentlichkeit – und dann auch in der Justiz -erst mal wahrgenommen und | |
| anerkannt wird. Der RAV versucht – etwa in Veranstaltungen – zu vermitteln, | |
| dass PolizistInnen keine besseren ZeugInnen sind. Weder können sie sich | |
| Sachen besser merken, noch agieren sie vorurteilsfrei. Helfen würde auch | |
| eine unabhängige Untersuchungsstelle, die sich um polizeiliche Übergriffe | |
| und rechtswidriges Verhalten kümmert. | |
| Also die für Berlin geplante Stelle eines unabhängigen Polizeibeauftragten | |
| finden Sie wichtig? | |
| Schon – aber nicht so, wie sie gerade in verschiedenen Bundesländern | |
| geschaffen werden. Da wird alles Mögliche vermischt: Beauftragte sind auch | |
| zuständig für Beschwerden von PolizistInnen gegen ihre Vorgesetzten oder | |
| Einsatzleitungen. Es geht aber um eine Stelle allein für rechtswidriges | |
| Handeln der Polizei, an die sich Betroffene wenden können – und diese | |
| Stelle braucht Eingriffsbefugnisse, sie muss unabhängig sein, sie muss | |
| Akteneinsicht bekommen, selbst ermitteln dürfen. | |
| Das ist nicht vorgesehen? | |
| Nein. | |
| Der RAV engagiert sich ja auch gesellschaftspolitisch und hat das Bündnis | |
| Unteilbar mit initiiert. Wieso? | |
| Für uns war es wichtig, die Stimme zu erheben, weil es in letzter Zeit so | |
| eine Verengung des gesellschaftlichen und medialen Diskurses gab, völlig | |
| eingeengt zwischen CDU- und AfD-Positionen. Die andere Stimmung – die | |
| Mehrheit – fand kaum Gehör. Diesen Raum wieder zu erweitern, sich klar | |
| gegen Abwertung von Menschen und für Grundrechte zu positionieren ist auch | |
| eine Aufgabe einer kritischen Anwaltschaft. | |
| Sie scheinen damit einen Nerv getroffen zu haben, die Mobilisierung war ja | |
| ein voller Erfolg. | |
| Ja, aber nicht nur unserer. Die Idee und die erste Einladung kamen zwar aus | |
| unseren Reihen, das ist dann bei anderen Organisationen auf viel Resonanz | |
| gestoßen. Das Bündnis wurde von sehr vielen Gruppen getragen. Geholfen hat | |
| sicher auch, dass uns vertraut wurde. | |
| Was sind denn im rechtlichen Bereich Erfolge, für die der RAV steht? | |
| Konkrete Erfolge zu benennen, das ist nicht so einfach. Aber wir sind in | |
| vielen Bereichen aktiv. Zum Beispiel der Arbeitskreis Mietrecht des RAV | |
| steckt maßgeblich in der Mietendeckel-Diskussion in Berlin mit drin, hat zu | |
| diesem Thema auf Verstaltungen juristische Expertise zusammen geführt, um | |
| die Diskussion auf sichere Beine zu stellen. Ich finde auch die | |
| Organisation der anwaltlichen Notdienste, etwa in Heiligendamm, im Wendland | |
| oder jüngst beim G20-Gipfel, große Erfolge. Da arbeiten ja teilweise über | |
| 100 KollegInnen über mehrere Tage zusammen, sehr solidarisch und kollektiv | |
| und sowohl auf der Straße, als auch in der Gefangenensammelstelle oder vor | |
| Gericht. Damit schaffen sie konkret vor Ort die Möglichkeit, Rechtsschutz | |
| effektiv durchzusetzen. Dies gilt auch im Migrationsrecht, in dem | |
| KollegInnen immer wieder Räume des Rechts öffnen. | |
| Als Laie stellt man sich vor, dass JuristInnenen prinzipiell ein positives | |
| Verständnis haben vom Rechtsstaat. Verliert man das nicht mit der Zeit, | |
| wenn man immer wieder mit den Unzulänglichkeiten dieses Systems kämpfen | |
| muss? | |
| Ich denke nicht, dass JuristInnen – vor allem AnwältInnen – immer | |
| staatsgläubig sind oder ein positives Verhältnis zum Staat haben. Recht ist | |
| eine Art Herrschaftsinstrument: Es kann zur Legitimierung, zur Durchsetzung | |
| von Herrschaft eingesetzt werden, aber auch zu dessen Begrenzung. Und | |
| gerade diese zweite Funktion wahrzunehmen, also mit den Mitteln des Rechts | |
| zu versuchen, die Machtansprüche des Staates oder von mächtigen Personen | |
| versuchen zurückzudrängen, ist ja die spannende Aufgabe, mit der man als | |
| Anwältin jeden Tag zu tun hat. Die Verteidigung etwa im Strafrecht von | |
| Beschuldigten-Rechten gegenüber dem staatlichen Strafanspruch. Oder im | |
| Migrationsrecht die Rechte von Geflüchteten auf Schutz und Bleiberecht | |
| gegen einen Staat, der etwas anderes will. Das ist auch das | |
| Selbstverständnis des RAV: Sich mit dem Recht gegen Herrschaft zur Wehr zu | |
| setzen. | |
| Bei Ihnen ist das Verständnis von Recht und Rechtsstaat konstant geblieben? | |
| Ich hatte nie ein idealisiertes Verständnis vom Rechtsstaat. Das Recht ist | |
| nur ein Mittel, um Veränderungen zu erreichen oder Rechte durchzusetzen. | |
| Das geht mal besser und mal schlechter. Auch im Gerichtssaal spielt sich | |
| die gesellschaftliche Stimmung wieder. Deswegen finden wir es als RAV auch | |
| wichtig sich politisch zu engagieren. | |
| War dieses eher negative Bild des Rechtsstaates unter linken Anwälten | |
| früher ausgeprägter? Es soll ja Anwälte gegeben haben, die sich weigerten, | |
| mit der Staatsanwaltschaft zu reden. | |
| Ja, da hat sich auf beiden Seiten was geändert, das konfrontative | |
| Verhältnis hat sich etwas abgebaut. | |
| Zum Schluss bitte noch ein kurzes Urteil: Macht es aus RAV-Sicht einen | |
| Unterschied, wer Berlin regiert? | |
| Teilweise. Unter Rot-Rot-Grün finden schon weniger Verschärfungen statt, | |
| etwa beim Polizeigesetz, und im wohnungspolitischen Bereich werden jetzt | |
| endlich mal Maßnahmen ergriffen, die andere Regierungen wohl nicht gemacht | |
| hätten. Aber es ist nicht so, dass sich jetzt die Polizei liberaler verhält | |
| oder Strafvollzug humaner wird. | |
| Sind Sie denn zuversichtlich, dass der Mietendeckel die rechtlichen | |
| Angriffe, die es jetzt gibt, überstehen wird? | |
| Ja. | |
| 22 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
| Erik Peter | |
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