# taz.de -- EU-Plan in der Kritik: Zweifel an Chatkontrolle wachsen | |
> Die EU-Kommission will unter anderem E-Mails und Messenger-Nachrichten | |
> durchleuchten lassen. Doch das Vorhaben gerät zunehmend unter Druck. | |
Bild: Gilt das Briefgeheimnis im Digitalen bald nicht mehr? | |
Wen will die EU überwachen lassen? | |
Anbieter von Messenger-Diensten wie Whatsapp oder Signal, E-Mail-Provider | |
und Anbieter von Clouddiensten sollen laut einem Plan der EU-Kommission | |
verpflichtet werden können, die Kommunikation ihrer Nutzer:innen zu | |
durchleuchten. Das Ziel sei es, Inhalte aufzuspüren, die mutmaßliche | |
Darstellungen von sexualisierter Gewalt an Kindern enthalten. | |
Ende vergangener Woche lief die Frist für Änderungsanträge im EU-Parlament | |
ab und Anfang Juni steht nun eine erste wegweisende Einigung an: der Rat | |
Justiz und Inneres, dem die Innen- und Justizminister:innen der | |
Mitgliedstaaten angehören, soll zumindest in einzelnen Punkten die | |
Positionen festlegen. | |
Doch das Vorhaben gerät zunehmend unter Druck. So sind in den vergangenen | |
Wochen zwei Rechtsgutachten bekannt geworden, die die Pläne angreifen. | |
Sowohl der Wissenschaftliche Dienst des EU-Parlaments als auch der | |
Juristische Dienst des EU-Ministerrats warnen davor, dass die Pläne die | |
Grundrechte der EU-Bürger:innen untergraben könnten. [1][Der Deutsche | |
Anwaltverein erklärt in einer Stellungnahme], die Pläne würden zu „einer | |
vollständigen Aufhebung der Vertraulichkeit der Kommunikation im digitalen | |
Raum“ führen. Und auch mehrere europäische Justizminister:innen haben | |
sich dagegen positioniert, außerdem zahlreiche Expert:innen aus | |
unterschiedlichen Bereichen. | |
Warum ist das Vorhaben umstritten? | |
Es würde tief in die Vertraulichkeit der Kommunikation eingreifen. Und es | |
bezieht sich auch auf Ende-zu-Ende-verschlüsselte Nachrichten und Daten, | |
also solche, die nur Sender und Empfänger:in entschlüsseln und lesen | |
können. Um diese zu durchleuchten, müssten die Anbieter entweder die | |
Verschlüsselung brechen, etwa durch Zweitschlüssel. Oder sie müssten die | |
Inhalte schon vor dem Versand direkt auf den Endgeräten der Nutzer:innen | |
scannen. | |
Beide Methoden würden sich aber auch zweckentfremden lassen. So könnten | |
etwa Regierungen autoritärer Staaten mit den auf EU-Vorgabe eingerichteten | |
Funktionen nach politisch unliebsamen Inhalten suchen lassen. Außerdem | |
sollen KI-gestützte Systeme unter anderem Bilder und Videos mutmaßlicher | |
Missbrauchsdarstellungen in der Kommunikation finden. Gerade angesichts der | |
Fehleranfälligkeit von künstlicher Intelligenz (KI) stößt auch das auf | |
Kritik. | |
Was sagen Expert:innen? | |
[2][Das wollten auch die Mitglieder des Digitalausschusses im Bundestag | |
wissen und luden deshalb 9 Expert:innen ein], unter anderem aus den | |
Bereichen Strafverfolgung, IT, Datenschutz und Kinderschutz. Das Ergebnis | |
in Kurzform: 9 zu 0 gegen das EU-Vorhaben. | |
Von einer „Überwachungsinfrastruktur, wie sie noch nie dagewesen ist“, | |
sprach etwa Elina Eickstädt vom Chaos Computer Club. „Wir hängen auch keine | |
Kamera in jede Privatwohnung“, sagte Markus Hartmann von der | |
Generalstaatsanwaltschaft Köln. Und Joachim Türk vom Kinderschutzbund | |
erklärte: „Sowohl das Recht auf körperliche Unversehrtheit als auch das | |
Recht auf sichere Kommunikation sind Kinder- und Jugendrechte.“ Mehrere der | |
Expert:innen warnten davor, dass mit den Vorhaben die Zahl der | |
Falschmeldungen stark zunehmen werde – und die Strafverfolgungsbehörden die | |
relevanten Fälle so aus dem Fokus verlören. | |
Felix Reda von der Gesellschaft für Freiheitsrechte weist auf eine weitere | |
Konsequenz hin: eine faktische Ausweispflicht im Netz als Konsequenz aus | |
einer Pflicht zur Altersverifikation. „Es gäbe keinen E-Mail-Account mehr | |
ohne Ausweis.“ Eine anonyme Internetnutzung sei so kaum mehr möglich. | |
Auf welcher Seite steht die Bundesregierung? | |
Die Position der Bundesregierung hat Gewicht, denn es gibt auf EU-Ebene | |
eine Sperrminorität. Doch die Bundesregierung ist gespalten. In ihrem | |
Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP unter anderem ein Recht auf | |
Verschlüsselung vereinbart. Die Pläne der EU-Kommission wären damit kaum | |
vereinbar. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich in der Vergangenheit | |
dennoch für die Chatkontrolle ausgesprochen. Justizminister Marco Buschmann | |
und Digitalminister Volker Wissing (beide FDP) sind dagegen. | |
Erst Mitte Mai hat Buschmann dem Innenministerium deutliches Kontra | |
gegeben. Gemeinsam mit den Justizminister:innen aus Österreich, der | |
Schweiz, Luxemburg und Lichtenstein wirbt er in einem Brief an die anderen | |
Amtskolleg:innen der EU für Unterstützung. Der Gesetzentwurf der | |
EU-Kommission finde „nicht die richtige Balance“ zwischen Kinderschutz und | |
dem Schutz vor anlassloser Überwachung, heißt es in dem [3][Schreiben, das | |
das Portal netzpolitik.org veröffentlichte]. | |
Wie ginge es besser? | |
Staatsanwalt Markus Hartmann zieht in seiner [4][Stellungnahme] für den | |
Digitalausschuss folgendes Fazit: Es bestehe „ein strukturelles | |
Handlungsdefizit durch eine unzureichende technische und personelle | |
Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden“. Eine Einschätzung, die andere | |
Expert:innen teilen. [5][Joachim Türk vom Kinderschutzbund forderte] | |
neben einer Stärkung der Ermittlungsbehörden eine deutliche Verbesserung | |
der Präventionsarbeit bei Eltern, Kindern und betreuenden Personen wie | |
Lehrerinnen und Erziehern. Darüber hinaus sollten die Anbieter von | |
Onlinediensten stärker in die Pflicht genommen werden, Material, das auf | |
ihren Servern liegt, aufzuspüren und zu melden. | |
Um Kinder im Netz grundsätzlich besser zu schützen, spricht sich der | |
Kinderschutzbund für weitere Maßnahmen aus: etwa niedrigschwellige | |
Meldewege bei den Plattformen, das konsequente Löschen von Inhalten, die | |
sexualisierte Gewalt an Kindern zeigen und das Quickfreeze-Verfahren zum | |
Aufspüren von Täter:innen. Dabei werden in einem akuten Verdachtsfall | |
temporär die Verbindungsdaten von Verdächtigen gespeichert. | |
Wie geht es weiter? | |
Bereits im Herbst soll die Einigung im Europaparlament stehen, im Dezember | |
die von Parlament, EU-Kommission und Mitgliedstaaten. Der Zeitplan ist also | |
straff, trotz der jüngsten Widerstände. Aus der Bundesregierung kam zuletzt | |
eine Art Kompromissposition: Überwachung ja, aber nur bei Inhalten, die | |
nicht Ende-zu-Ende verschlüsselt sind. Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist bei | |
einigen Messenger-Diensten Standard, etwa bei Signal. Anders ist es etwa | |
bei Telegram, hier müssen die Nutzer:innen dafür einen „Geheimen Chat“ | |
einrichten. Bei E-Mails ist der überwiegende Teil der Nachrichten nicht | |
Ende-zu-Ende-verschlüsselt. | |
Bürgerrechtler:innen sehen so einen Kompromiss jedoch ebenfalls | |
kritisch. „Eine serverseitige verdachtslose Chatkontrolle bleibt eine | |
verdachtslose Chatkontrolle, die unser digitales Briefgeheimnis zerstören | |
würde“, sagt der EU-Abgeordnete Patrick Breyer (Piraten). Oft hätten | |
Nutzer:innen keine Wahl, welches Kommunikationsmittel sie verwenden – | |
selbst Ärzt:innen und Rechtsanwält:innen würden nur selten | |
verschlüsselte Wege anbieten. | |
Im EU-Parlament ist aktuell keine Mehrheit in Sicht, um die Chatkontrolle | |
komplett zu stoppen. Es könnte einzelne Abschwächungen geben, etwa bei der | |
Altersverifikation, die bislang als verpflichtend vorgesehen ist. Breyer | |
hofft daher auf die Sperrminorität: „Eine relevante Minderheit der | |
EU-Staaten hinterfragt massenhafte Nachrichten- und Chatkontrollen | |
inzwischen.“ | |
27 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://anwaltverein.de/de/newsroom/sn-32-23-eu-verordnung-csam-chatkontrol… | |
[2] https://www.bundestag.de/ausschuesse/a23_digitales/Anhoerungen/932296-932296 | |
[3] https://netzpolitik.org/2023/chatkontrolle-justizminister-buschmann-mobilis… | |
[4] https://www.bundestag.de/resource/blob/935242/19b6e52b37f70280cbaa938acc50d… | |
[5] https://www.bundestag.de/resource/blob/935798/3c6f75f6c2056130bca757bf7b4d0… | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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