# taz.de -- Sexualisierte Gewalt an Kindern: Als „Joke“ ein Dickpic im Chat | |
> In Klassenchats kursiert so viel kinderpornografisches Material wie noch | |
> nie. Die Missbrauchsbeauftragte und der BKA-Chef fordern mehr Prävention. | |
Bild: Jugendliche mit Smartphone | |
Wenn Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), und [1][Kerstin | |
Claus, Missbrauchsbeauftragte], zusammen auftreten, wird es in der Regel | |
ein unerfreulicher Termin. So war es auch am Dienstag, als sie in Berlin | |
gemeinsam die Zahlen der Kriminalstatistik für 2022 vorstellten, die sich | |
dezidiert auf Kinder beziehen. Und diese lesen sich erwartungsgemäß | |
grausam: Im vergangenen Jahr erfuhren [2][jeden Tag 48 Kinder] sexuelle | |
Gewalt, insgesamt zählte die Polizei 15.520 Fälle. Ähnlich viele Fälle | |
wurden ein Jahr zuvor bekannt. Münch bezeichnet das als „gleichbleibend | |
hohes Niveau“ und „dramatisches Ausmaß“. Dabei handelt es sich jedoch nur | |
um das Hellfeld, also Taten, die die Behörden erreichten. Expert:innen | |
gehen von einer um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer aus. | |
Einen gravierenden Anstieg gab es bei Missbrauchsdarstellungen von Kindern | |
und Jugendlichen. Mittlerweile sind es mehr als 48.800 Fälle, das sind rund | |
10 Prozent mehr als 2021. Eine weitere Zahl erschreckt Münch und Claus | |
besonders: Über 17.500 Kinder und Jugendliche besaßen sogenanntes | |
kinderpornografisches Material, sie produzierten es teilweise selbst oder | |
besorgten es sich, um es mit anderen zu teilen. Im Vergleich zum Jahr 2018 | |
habe sich diese Zahl verzwölffacht. | |
Diese Zahlen, so Münch, werden im kommenden Jahr noch einmal steigen, weil | |
es sich bei den jetzt veröffentlichten Daten um die sogenannte | |
Ausgangsstatistik handelt, in der nur abgeschlossene Fälle landen. Der | |
BKA-Chef spricht von einem Viertel der Fälle, die in die nächste Statistik | |
zusätzlich einfließen. | |
Die meisten Kinder und Jugendlichen, die sich kinderpornografisches | |
Material besorgen, selbst drehen und an ihre Freunde verschicken, handelten | |
nicht „vorsätzlich oder sexuell motiviert“, sagte die | |
Missbrauchsbeauftragte, sondern aus einer „digitalen Naivität“ heraus: | |
„Vermeintlich coole Bilder oder Clips werden mit Musik, Texten oder | |
Animationen versehen und im Gruppen- oder Klassenchat weitergeleitet.“ | |
Das hat Folgen: Einerseits werde laut Claus das „Risikobewusstsein junger | |
Menschen systematisch außer Kraft gesetzt.“ Sogenannte Dickpics, Bilder mit | |
männlichen Geschlechtsorganen, seien für 12-Jährige eine Normalität. Kinder | |
wüssten, dass es Gewalt im Netz gebe. Gleichwohl trennten sie nicht mehr | |
zwischen analoger und digitaler Welt. | |
## Fokus auf digitale Gewalt im Netz richten | |
Claus und Münch fordern daher eine bessere Prävention und klare rechtliche | |
Regelungen, die Gewalt im Netz unterbinden und bestrafen. „Wir müssen den | |
Fokus auf die digitale Gewalt im Netz legen“, sagte Claus. Der | |
Strafgesetzbuchparagraf 184b macht bereits genau das – [3][steht aber | |
heftig in der Kritik.] Weil damit alle Personen strafrechtlich verfolgt | |
werden, die kinderpornografisches Material aller Art, also Fotos, Bilder, | |
Tondateien, Videos, verbreiten. Dadurch werden auch Minderjährige, die als | |
„Joke“ den Klassenchat mit solchen Posts bestücken, in Strafverfahren | |
involviert. Ebenso Eltern, Jugendhelfer:innen, Lehrer:innen, die von | |
solchen Chats erfahren, und andere Eltern und Lehrer:innen informieren. | |
Selbst wenn sie der Polizei das Material auf ihrem Handy zeigen, ist das | |
eine Straftat. [4][Dieses Gesetz „braucht eine Korrektur“], finden daher | |
Claus und Münch. | |
BKA-Chef Münch erneuert zudem seine Forderung nach einer | |
Vorratsdatenspeicherung, mit der die Behörden mehr (echte) Täter überführen | |
könnten. In der Regel bekommen die deutschen Behörden Hinweise aus den USA, | |
können diese teilweise hier aber nicht weiter verfolgen, weil die | |
[5][IP-Adressen nicht über einen längeren Zeitraum gespeichert werden | |
dürfen]. Münch sprach von rund 10.000 Fällen, die der Polizei deswegen | |
durch die Lappen gingen. Telefonnummern und E-Mail-Adressen helfen vielfach | |
nicht weiter, weil diese gefälscht sein könnten. Eine Speicherfrist von | |
etwa einem Monat wäre hilfreich, um Täter überführen zu können. | |
Ungeachtet dessen brauche die Polizei mehr Ermittlungspersonal und müsse | |
stärker in die technische Ausstattung investieren. Claus betonte, dass sich | |
der [6][Einsatz von KI] lohne, um digitales Material schneller auszuwerten. | |
Ungeachtet dessen müssten Provider und Anbieter von Plattformen | |
verpflichtet werden, auf diesen eine Altersbeschränkung für Minderjährige | |
einzuführen und mit einer Art Disclaimer altersgemäß auf die Gefahren im | |
Netz hinzuweisen. | |
23 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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