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# taz.de -- 2019 – Jahr der Proteste: Eine Stadt will sich nicht fügen
> In der autonomen Wirtschaftsmetropole Hongkong wird seit mehr als sechs
> Monaten fast täglich demonstriert. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Bild: Hong Kong, 12. November: Keine Atempause
Als in der autonomen südchinesischen Wirtschaftsmetropole Hongkong am 9.
Juni erstmals [1][rund eine Million Menschen gegen ein umstrittenes
Auslieferungsgesetz] demonstriert haben, war Suzanne Choi dabei. Das neue
Gesetz sollte eine Überstellung Hongkonger Bürger an Chinas Willkürjustiz
ermöglichen. Es hätte damit nach Meinung seiner Kritiker die
Rechtsstaatlichkeit samt politischen Freiheiten in der früheren Kronkolonie
untergraben.
„Ich wollte zeigen, dass ich dagegen bin, dass die Regierung die
öffentliche Meinung ignoriert“, sagte die Mittvierzigerin der Hongkonger
Tageszeitung South China Morning Post. „Ich war wütend, dass Hongkongs
Polit-Establishment geglaubt hat, das unbeliebte Gesetz einfach mit seiner
Mehrheit im Legislativrat verabschieden zu können.“
Damals ahnte Choi nicht, dass aus dem spontanen friedlichem Massenprotest
eine monatelange Bewegung zivilen Ungehorsams werden würde. Sie hat bis
heute keine Führungsfiguren und hat immer wieder neue Protestformen
entwickelt: von Flughafenbesetzungen, Flashmobs, Verkehrsstörungen,
Tunnelblockaden bin hin zu Protestgesängen in Shopping-Centern.
Schon ein Wochenende später, am 16. Juni, waren nach Veranstalterangaben
[2][zwei Millionen Demonstranten auf der Straße] – bei einer
Gesamtbevölkerung von nur sieben Millionen. „Ich habe auch nicht erwartet,
dass die Proteste immer gewalttätiger werden und bis heute kein Ende in
Sicht ist“, bilanziert Choi, die in der Handelsfirma ihrer Familie arbeitet
und seitdem mehrfach demonstriert hat.
„Trotz der von den Protesten verursachten Unannehmlichkeiten ist doch die
Regierung schuld an der Krise“, sagt sie. Dabei geht Choi die Beschädigung
von Geschäften pekingfreundlicher Eigentümer durch radikale Kräfte zu weit.
Doch überrascht sie auch die Unnachgiebigkeit und Zähigkeit der
Demonstranten. Choi ist selbst entschlossen, die Protestbewegung weiter zu
unterstützen.
Unter den Demonstranten dominiert das Gefühl eines Endkampfes. Verliere man
jetzt den Machtkampf mit der pekinghörigen Regierung, werde die Niederlage
dauerhaft sein und politische Freiheiten, die es jetzt noch gibt, würden
bald enden. Das ist eine Erklärung für die Ausdauer der Demonstranten. Eine
andere sind die sturen Reaktionen der Regierungen in Hongkong und Peking.
## Strategie des Aussitzens
Beide haben zunächst versucht, den [3][Protest zu ignorieren]. Eine Million
friedliche Demonstranten zu ignorieren ist aber ziemlich arrogant und
befeuert nur deren Radikalisierung. Als [4][Demonstranten das Gebäude des
Legislativrates stürmten] und es zur Gewalt in bis dahin unbekanntem Ausmaß
kam, verschob die Regierung zunächst nur die Lesung des Gesetzes. Erst
später suspendierte sie es, brauchte aber weitere Monate, bis sie das
Gesetz ganz zurücknahm.
Das war viel zu spät und damit wirkungslos. Es zeugte vom politischen
Versagen der Hongkonger Führung wie von den Schwächen des politischen
Systems der Stadt, auf das ihre Bürger kaum Einfluss haben.
[5][Regierungschefin Carrie Lam] wurde nicht vom Volk gewählt, sondern von
einem elitären pekinghörigen Gremium. Das aus der Kolonialzeit stammende
Wahlsystem für den Legislativrat sichert stets eine pekingfreundliche
Mehrheit. Nur die Distrikträte werden demokratisch gewählt. Bei den Wahlen
im November errangen hier die [6][Parteien der Demokratiebewegung einen
Erdrutschsieg]. Doch die Räte sind ziemlich machtlos. Und auch nach diesem
klaren Votum, das die [7][Chance für Kompromisse] geboten hätte, hielten
die Regierungen in Hongkong und Peking stur an ihrem Kurs fest.
Standen zunächst auch Forderungen nach Lams Rücktritt im Mittelpunkt, ist
das heute kaum noch Thema. Denn sie wäre längst zurückgetreten, wenn Peking
das erlaubt hätte. Sie ist heute nur noch Pekings Prellbock und darf
lediglich in den von China eng gesetzten Grenzen operieren. Peking setzt
allein auf Polizeimaßnahmen. Ein politisches Entgegenkommen wird in China
als Zeichen der Schwäche interpretiert und wird deshalb ausgeschlossen.
Zudem würde es am Image von Präsident Xi Jingping als starkem Mann kratzen.
## Demonstranten wollen Ende der Polizeigewalt
Die Forderungen der Demonstranten sind nach wie vor: eine unabhängige
Untersuchung der exzessiven Polizeigewalt, eine Amnestie für alle
festgenommenen Demonstranten, die Rücknahme der Einstufung der Proteste als
Aufruhr sowie allgemeine demokratische Wahlen.
Die Proteste haben verdeutlicht, dass entgegen dem zugesagten
Autonomieprinzip von [8][„ein Land, zwei Systeme“] über die Zukunft der
Stadt längst in Peking entschieden wird und nicht in Hongkong. Peking war
bisher schlau genug, nicht direkt militärisch zu intervenieren. Doch
gleichzeitig lässt China keine wirklich autonomen Entscheidungen der Stadt
mehr zu.
So wächst in Hongkong ein Gefühl der Ohnmacht: Wahlen sind entweder nicht
demokratisch (Legislativrat), oder wenn sie demokratisch sind wie bei den
Distrikträten, werden ihre Ergebnisse ignoriert. Ebenso wie die friedlichen
Proteste von Hunderttausenden. So suchen einige den Ausweg in der Gewalt.
Diese hat zu Schäden bisher unbekannten Ausmaßes in dieser hypermodernen
Metropole geführt und zieht enorme Einschränkungen für die Bevölkerung nach
sich. Dennoch haben sich bisher auch nur wenige öffentlich von der Gewalt
distanziert.
Die Proteste gehen weiter. Allein über die Weihnachtstage wurden mehr als
300 Demonstranten festgenommen. Seit Juni waren es mehr als 6.000 Personen
im Alter von 11 bis 84 Jahren. 1.100 Personen wurden bisher angeklagt,
wobei ihnen Strafen von bis zu zehn Jahren Haft drohen. Für den 1. Januar
ist bereits der nächste Massenprotest geplant.
31 Dec 2019
## LINKS
[1] /Kommentar-Massenprotest-in-Hongkong/!5599862
[2] /Proteste-gegen-Auslieferungsgesetz/!5603099
[3] /Anhaltende-Proteste-in-Hongkong/!5640952
[4] /Traenengas-gegen-Massenprotest/!5602702
[5] /Chinatreue-Regierungschefin-Carrie-Lam/!5618004
[6] /Kommunalwahlen-in-Hongkong/!5643623
[7] /Bezirksratswahlen-in-Hongkong/!5643626
[8] /Proteste-gegen-die-Regierung/!5610869
## AUTOREN
Sven Hansen
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