| # taz.de -- Kurator über Kunst, Politik und Ukraine: „Berlin ist eine osteur… | |
| > Der Ukrainer Vasyl Cherepanyn wird die 14. Berlin Biennale für | |
| > zeitgenössische Kunst kuratieren. Was kann Kunst in Zeiten von Krieg und | |
| > Autoritarismus? | |
| Bild: Die 14. Berlin Biennale im Sommer 2027 wird wohl unter der künstlerische… | |
| taz: Vasyl Cherepanyn, Sie organisieren seit 2015 eine Kunstbiennale in | |
| Kyjiw, die seit der Großinvasion Russlands zum Teil im Exil stattfindet. | |
| Die letztjährige Ausgabe in Berlin nannten Sie „Kyiv Perenniale“. Weshalb | |
| der Begriff „perennial“, was so viel wie „beständig“ oder „ausdauern… | |
| bedeutet? | |
| Vasil Cherepanyn: Es geht um einen konstanten, ganzjährigen Einsatz, | |
| Präsenz und Sichtbarkeit erfordern einen Aufwand, der über die | |
| Biennale-Logik hinausgeht. Diese „Perennialität“ verweist auch auf die | |
| Fähigkeit der Ukrainer:innen, die derzeitigen Widrigkeiten zu überleben. | |
| Alles ist gegen dich, und dennoch kann man das irgendwie überstehen. | |
| Gegenwärtig ist das nicht nur mit einem extrem blutigen Preis verbunden, es | |
| wird auch späte Folgen haben, die wir noch gar nicht ermessen können. | |
| Beispielsweise stellt [1][der Tod des Künstlers und linken Aktivisten David | |
| Chichkan] an der Kriegsfront einen grundlegenden Bruch in der ukrainischen | |
| Kunstszene dar. Es wird lange dauern, bis wir wirklich begreifen, wie groß | |
| der Verlust ist. | |
| taz: Bei der Kyiv Perenniale stand der dokumentarische Ansatz im | |
| Vordergrund. Sie zeigten künstlerische Arbeiten, die Kriegsverbrechen, | |
| Zerstörung oder Tod dokumentieren. | |
| Cherepanyn: Das Dokumentarische ist nicht nur ein Trend. Und nicht nur | |
| ukrainisch. Aber wenn man buchstäblich und metaphorisch mit Gräueltaten | |
| bombardiert wird, ist es entscheidend, künstlerische Strategien zu | |
| entwickeln, dies auch zu dokumentieren, sich damit zu befassen, was als | |
| Beweis gilt. Insbesondere der Westen könnte von diesem Vorgehen lernen. Ich | |
| möchte der Kunst als solcher keine bestimmte Aufgabe vorschreiben, aber | |
| wenn solche Dokumentationsstrategien auch außerhalb der Ukraine wirklich | |
| berücksichtigt würden, könnte sich die Art der Bildproduktion und | |
| -wahrnehmung, allgemein der Modus Operandi im Kunstfeld verändern. Das wäre | |
| ein exzellentes Gegenmittel gegen diesen Kitsch und die Salonkunst, die | |
| derzeit so beliebt sind. Sie entstehen aus Verzweiflung. | |
| taz: Es ist interessant, dass Sie sagen, der Westen solle vom Osten lernen | |
| – üblicherweise wird diese Beziehung ja umgekehrt gedacht. | |
| Cherepanyn: Das ist die „nachholende Revolution“, wie Habermas sie nannte. | |
| Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde den Menschen dort gesagt, man | |
| müsse aufholen, lernen, wie man demokratisch ist. Jetzt ist es | |
| paradoxerweise umgekehrt. Wir haben die Oligarchisierung in den USA, um ein | |
| Beispiel zu nennen, oder auch den Aufstieg der extremen Rechten in ganz | |
| Europa. So viele Merkmale, die früher nur dem postsowjetischen Europa | |
| zugeschrieben wurden, sind nun charakteristisch für die heutige Politik im | |
| Allgemeinen. | |
| taz: Sie wurden jetzt zum Kurator der 14. Berlin Biennale für | |
| zeitgenössische Kunst berufen. Werden Sie Konzepte Ihrer Biennale in der | |
| ukrainischen Hauptstadt auf diejenige in der deutschen übertragen? | |
| Cherepanyn: Diese beiden Biennalen sind ganz unterschiedlich. Bei der Kyiv | |
| Biennial war es uns wichtig, besonders in den letzten Jahren während der | |
| Großinvasion, [2][ihre verschiedenen Ausgaben auch im Ausland in | |
| Kooperation mit unseren Partnern] umzusetzen. Es geht dabei darum, gerade | |
| in diesem politischen Ausnahmezustand, Probleme aufzuzeigen, die in | |
| EU-Ländern vielleicht nicht so präsent sind. Bei der Berlin Biennale | |
| hingegen ist der grundlegende Punkt – und das schätze ich sehr, und vor | |
| 2022 war das auch bei der Kyjiwer Biennale der Fall –, dass sie nicht | |
| zufällig nach der Stadt benannt ist, in der sie stattfindet. Die 14. Berlin | |
| Biennale soll sich an verschiedenen Orten der Stadt abspielen, das ist | |
| jedenfalls mein Ziel. Ich möchte auch Orte einbeziehen, die keine | |
| künstlerischen oder kulturellen sind. Diese Ausgabe der Berlin Biennale | |
| soll zu den Menschen gehen und in Bereichen intervenieren, die für | |
| diejenigen wichtig sind, die hier dauerhaft leben oder auch neu sind. Ich | |
| möchte die Biennale – das klingt vielleicht pathetisch – zu einer Art Ode | |
| an die Stadt machen. | |
| taz: Welches Konzept schwebt Ihnen da konkret vor? | |
| Cherepanyn: Berlin kommt mir sehr vertraut vor. Hier fühle ich wirklich, | |
| dass es eine osteuropäische Stadt ist. Daran habe ich keinen Zweifel. Bei | |
| der Berlin Biennale wird es viel um die osteuropäische Region gehen und | |
| darum, Berlin in ein etwas anderes Koordinatensystem einzuschreiben als | |
| üblich – in eines, das sich von den baltischen Staaten bis zum Balkan | |
| erstreckt, von Mitteleuropa bis zum Kaukasus. Die osteuropäische | |
| Perspektive fehlt oft, aus postimperialen Gründen. Ich bin generell sehr | |
| dankbar, in dieser Stadt zu leben. Es geht mir darum, zum Gemeinwohl | |
| beizutragen. In der kommenden Biennale-Ausgabe würde ich wirklich gern | |
| etwas schaffen, was institutionelle, physische und künstlerische Spuren in | |
| der Stadt hinterlässt, die dauerhaft bestehen können. | |
| taz: Wie politisch wird Ihre Kunstausstellung werden? | |
| Cherepanyn: Nun, so viel kann ich verraten: Wenn es ein Wort gibt, das ich | |
| wirklich hasse, das leider heute von der Linken genutzt wird, dann ist es | |
| „disruption“, „Störung“. Es handelt sich eigentlich um eine Strategie … | |
| extremen Rechten, und es ist ein großer politischer Fehler, dass wir die | |
| Dinge weiter polarisieren sollten. Und genau das werde ich deshalb nicht | |
| tun. | |
| taz: Sie erwähnten vorhin Habermas. Was ist denn Ihrer Ansicht nach die | |
| Beziehung zwischen Kunst, Politik und Philosophie? | |
| Cherepanyn: Der grundlegende Begriff, um den es in allen drei Bereichen | |
| geht, ist derjenige der Wahrheit. Alle drei, wie wir sie heute kennen, | |
| gehen zurück auf das antike Griechenland; und alle drei durchlaufen gerade | |
| eine tiefe Krise. Alle kämpfen mit dem Niedergang repräsentationaler | |
| Ansätze. Es ist zum Mainstream geworden, sogar auf EU-Ebene, danach zu | |
| fragen, was politische Kunst leisten könne. Was Kunst tun könne, um Politik | |
| zu verändern. Das ist wirklich ein Symptom unserer Zeit. | |
| taz: Dieser Gedanke, dass „Kunst es richten soll“, dass dies und jenes | |
| „Aufgabe“ „der“ Kunst sei. | |
| Cherepanyn: Ja, weil die Antworten im Feld der Politik nicht gefunden | |
| werden können. Emanzipatorische Politik wird ausgelagert auf „weiche“ | |
| Gebiete, etwa in die Kunst. Während das professionelle politische Feld | |
| Technokraten, Autokraten und Populisten überlassen wird. Diese Haltung | |
| sollte man zurückweisen. Es ist nicht Aufgabe der Kunst, dies und jenes zu | |
| erledigen. Die Frage ist vielmehr, wie gesellschaftliche Teilhabe | |
| wiederhergestellt werden kann. | |
| taz: Aber brachte der jetzige Krieg nicht eine Art Reality Check mit sich? | |
| Er verlangt [3][nach schneller, kreativer Lösungsfindung] und Umsetzung | |
| statt leerer Talking Points. | |
| Cherepanyn: Das mag schon ein Stück weit stimmen, aber ich muss da wirklich | |
| widersprechen. All diese Lobeshymnen darüber, dass der Krieg uns kreativer, | |
| erfinderischer und so weiter machen würde, ignorieren, welch katastrophale | |
| psychopolitische Auswirkungen er hat, wie er die Gesellschaft degradiert. | |
| Ich glaube nicht, dass es den Preis wert ist. Ich wünschte, wir könnten | |
| andere Dinge tun. Aber wir können es uns nicht auswählen. Jeder Tag des | |
| Krieges ist einer zu viel. Natürlich muss man sich irgendwie Mut | |
| zusprechen. Aber selbst wenn dieser Krieg morgen enden würde, hätten wir | |
| ein gewaltiges Problem – in der Ukraine, aber auch in Europa insgesamt, bis | |
| zum Ende des Jahrhunderts. Dieser Krieg bedeutet ein Trauma über mehrere | |
| Generationen hinweg. | |
| taz: Was halten Sie von [4][den derzeitigen vermeintlichen Friedensplänen] | |
| mit Russland? | |
| Cherepanyn: Ich weiß nicht, ob es eine Antwort auf ein faschistisches | |
| Regime mit Atomwaffen gibt. Das ist wirklich unerforschtes Terrain. Ich | |
| habe das Gefühl, das alles hat noch gar nicht richtig begonnen, als stünden | |
| wir erst am Anfang eines sehr harten Wandels. Kritische Kunst sollte über | |
| partisanische Taktiken nachdenken, wie man durch diese dunkle Stunde kommt. | |
| 15 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ukrainischer-Kuenstler-Chichkan-ist-tot/!6106745 | |
| [2] /Kuratoren-ueber-Kunst-im-Krieg/!5966018 | |
| [3] /Ein-Museumsrundgang-in-der-Suedukraine/!6126515 | |
| [4] /Krieg-in-der-Ukraine/!6137474 | |
| ## AUTOREN | |
| Yelizaveta Landenberger | |
| ## TAGS | |
| Bildende Kunst | |
| Politische Kunst | |
| Berlin Biennale | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Kulturpolitik | |
| Social-Auswahl | |
| Srebrenica | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Exilkunst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Künstlerin Šejla Kamerić über Srebrenica: „Sich weigern, Opfer zu sein“ | |
| Auch 30 Jahre nach dem Genozid von Srebrenica sucht Šejla Kamerić nach | |
| Wahrheit. Wie ihre Kunst das kollektive Trauma aufarbeitet. | |
| Die Schau „Kyiv Perenniale“ in Berlin: Leere Vitrinen und Scherbenhaufen | |
| Mit der Komplexität des Krieges setzen sich die Künstler:innen der „Kyiv | |
| Perenniale“ in Berlin auseinander. Es geht auch um kulturelles Erbe. | |
| Kuratoren über Kunst im Krieg: „Wir können nicht alles retten“ | |
| Die Kyiv-Biennale 2023 geht ins Exil, auch nach Polen. Wie zeigen | |
| Kunsthäuser im lang PiS-regierten Land Solidarität mit der ukrainischen | |
| Kulturszene? |