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# taz.de -- 10 Jahre „Wir schaffen das“: „Offene Grenzen sind sehr wohl r…
> Die globale Bewegungsfreiheit sei keine Spinnerei, sagt Polit-Ökonom
> Fabian Georgi. Die Linke sollte an ihr festhalten.
Bild: Sehnsuchtsort Europa: Geflüchtete in einem Flüchtlingslager im Norden G…
taz: Herr Georgi, praktisch alle reichen Staaten schotten sich zunehmend
ab. Sie haben ein Buch über die Utopie der globalen Bewegungsfreiheit
geschrieben. Ist die Vorstellung weltweit offener Grenzen nicht naiv?
Fabian Georgi: Wenn ich fordere, dass jeder Mensch seine eigene Raumstation
bekommt, dann ist das eine Spinnerei. Das geht mit den Mitteln, die wir
aktuell haben, einfach nicht. Aber wenn ich sage: Kein Mensch soll hungern
oder die Menschen sollen sich frei bewegen können, dann ist das sehr wohl
realisierbar. Außerdem ist die Welt heute wirtschaftlich, ökologisch,
sozial, kommunikativ so eng vernetzt, dass wir die menschlichen Freiheiten
ebenfalls global denken müssen.
taz: Wäre es nicht einfacher dafür zu kämpfen, dass es überall einigermaßen
lebenswert ist?
Georgi: [1][Bewegungsfreiheit] und Bleibefreiheit lassen sich nicht
voneinander trennen. Das ist gewissermaßen eine philosophische Frage: Man
kann in der Entscheidung zu bleiben nur frei sein, wenn man auch gehen
könnte. Und umgekehrt. Außerdem glaube ich auch nicht, dass es wirklich
einfacher ist, weltweit alle Fluchtursachen zu beseitigen, anstatt
Infrastrukturen für die menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten zu
schaffen, also etwa genug Wohnungen und Kita-Plätze.
taz: Wie sollen wir das bezahlen, wenn alle kommen dürfen?
Georgi: Mir geht es gerade darum, dass eine Öffnung von Grenzen unter den
gegenwärtigen, neoliberalen und zunehmend [2][autoritären Bedingungen] kaum
durchsetzbar wäre. Wir brauchen auch eine klimapolitische, soziale und
wirtschaftliche Transformation. Dafür müssten ohnehin große Ressourcen
mobilisiert werden. Einerseits um die Gesellschaft ökologisch umzubauen,
andererseits um soziale Infrastrukturen für alle zu schaffen, egal ob die
Menschen schon länger hier leben oder gerade erst ankommen.
taz: Was haben Wirtschaft und Klima mit Migration zu tun?
Georgi: Wir befinden uns in einer Situation massiver globaler Ungleichheit,
die durch den globalisierten Kapitalismus hervorgebracht wird. In den
industrialisierten Ländern bedeutet das Wohlstand und Privilegien für
einige. In den Ländern des Südens sind es Unterentwicklung, Armut und
Umweltkatastrophen. Diese krisenhafte Ungleichheit wird autoritär gemanagt
durch die Grenzregime. Sie ermöglichen die Aufrechterhaltung dieses
Zustands. Man kann im Globalen Norden die Gewinne der imperialen
Produktionsweise abgreifen und ihre Kosten ignorieren, weil sie auf den
Globalen Süden abgewälzt und die Folgen durch das Grenzregime von uns
ferngehalten werden.
taz: Sind es nicht vor allem Kriege und politische Verfolgung, derentwegen
so viele Menschen fliehen?
Georgi: Gewaltsame Konflikte, Bürgerkriege und zwischenstaatliche
Konflikte, vor denen Menschen fliehen, lassen sich ohne ihren
politisch-ökonomischen Hintergrund nicht verstehen. Viele Kriege sind durch
die Widersprüche der Weltwirtschaft, durch ökonomische Verteilungskämpfe
auf regionaler und globaler Ebene bestimmt. Zunehmend wichtig sind auch die
[3][Folgen der Klimakrise], die im Kern ebenfalls ökonomische Ursachen hat.
Hier geht es etwa um Konflikte um Wasser, Land und andere Ressourcen.
taz: Es gibt ja durchaus Arbeitsmigration aus dem Globalen Süden in die
reichen Länder …
Georgi: Die Externalisierung geschieht nicht nur nach außen, sondern auch
nach unten. Wer für den Arbeitsmarkt brauchbar ist, darf teils einreisen,
landet aber in vielen Fällen weit unten im System. Oft bekommen die Leute
nur Arbeitserlaubnisse für bestimmte Jobs, teils haben sie aufgrund von
Diskriminierung keine andere Wahl. In Südeuropa sehen wir das in der
Landwirtschaft, in Deutschland betrifft es etwa die Fleischindustrie oder
die Lieferdienste.
taz: Es werden also einerseits Leute aktiv daran gehindert, aus den armen
Ländern in die reichen zu kommen und andererseits eine bestimmte Zahl von
ihnen doch hereingelassen, wenn es wirtschaftlichen Interessen dient?
Georgi: Beides ist Teil des globalen kapitalistischen Systems. Nehmen Sie
das Lohngefälle zwischen Nord und Süd. Es ermöglicht, dass Konzerne billig
im Süden produzieren und teuer im Norden verkaufen können. Ohne
Einschränkung der Bewegungsfreiheit derjenigen am unteren Ende ginge das
nicht. Ein Flugticket ist schließlich heute sehr billig. Wenn die Löhne in
Berlin und Brandenburg so unterschiedlich wären wie zwischen Deutschland
und Vietnam, dann würden sich das ohne ein Grenzregime zwischen Berlin und
Brandenburg auch nicht ohne Weiteres aufrechterhalten lassen.
taz: Welche Rolle spielen Nationalismus und Rassismus bei der
Abschottungspolitik?
Georgi: Die Frage ist: Warum bekommen [4][rassistische und nationalistische
Akteure] heute so viel Zustimmung? Ich glaube nicht, dass man das verstehen
kann, ohne den Kapitalismus und seine Krisen zu berücksichtigen. Wenn
Menschen, die hier leben, wirklich soziale Sicherheit empfinden würden,
wenn sie nicht berechtigte Angst haben müssten vor steigenden Mieten und
Wohnungslosigkeit und Arbeitslosigkeit und Altersarmut und Pflegenotstand –
dann wären sie wahrscheinlich eher bereit, Solidarität zu üben mit
Menschen, die dazukommen.
taz: Die Überwindung des Kapitalismus wäre dann die Bedingung für ihre
Utopie der globalen Bewegungsfreiheit?
Georgi: Ernsthafte Schritte hin zu offeneren Grenzen werden sich nur
erreichen lassen, wenn wir die derzeitige Form des Kapitalismus überwinden.
So eine sozialökonomische Transformation brauchen wir aber auch noch aus
ganz anderen Gründen. Im Kern geht es ja darum, die Erde überhaupt
bewohnbar zu halten. Es wird auch nicht gelingen, den Globalen Norden
ökologisch und sozial gerecht zu transformieren und gleichzeitig die
globale Ungleichheit und das brutale Grenzregime unangetastet zu lassen.
taz: Und wie kommen wir da hin?
Georgi: Ein Anfang wäre es, konkrete Alternativen hier und jetzt
aufzubauen, Keimformen in den Nischen der Gesellschaft. Wir brauchen
Wohnprojekte, Initiativen für die [5][Vergesellschaftung] von
Immobilienkonzernen und praktische Solidarität mit den Menschen, die hier
gerade ankommen oder noch auf dem Weg sind. Der nächste Schritt wäre es,
innerhalb der Institutionen des Staates und des öffentlichen Systems zu
wirken. Dabei geht es nicht nur um die direkte Liberalisierung der
Migrationsgesetze, etwa in Form eines Asylsystems, das seinen Namen
verdient. Die Bedürfnisse von neu Eingereisten sind im Kern die gleichen
wie die derjenigen, die schon länger hier sind. Es geht immer um Wohnungen,
um Gesundheitsversorgung, um Bildung, öffentlichen Nahverkehr und
Sicherheit. Und drittens brauchen wir eine Politik der Brüche, der massiven
Mobilisierung, wie etwa während der Black-Lifes-Matter-Proteste oder
während eines Generalstreiks.
taz: Es deutet wenig darauf hin, dass die deutsche Politik bald das
Asylrecht liberalisiert – ganz zu schweigen von einem Generalstreik für die
Rechte Geflüchteter.
Georgi: Viele progressive Leute fühlen sich gerade ohnmächtig. Die Zeiten
sind düster. Aber man darf sich diesem Pessimismus nicht ergeben. Ernst
Bloch sprach von einem Optimismus mit Trauerflor. Man ist traurig, ja
geschockt über die Welt, die Brutalität und das Leiden. Aber gerade deshalb
erhält man sich einen militanten Optimismus. Wir müssen die
emanzipatorische Arbeit weiterführen. Irgendwann wird sich auch dadurch der
große soziohistorische Kontext wieder verschieben, und es werden sich neue
Gelegenheiten bieten.
taz: Klingt nach linker Revolutionsromantik, weniger nach konkreter
Politik.
Georgi: Nehmen Sie den Feminismus. Dessen Ziel ist die vollständige
Abschaffung von Patriarchat und Sexismus. Aber in der Praxis führen
Feminist*innen zunächst eine Vielzahl kleinerer Einzelkämpfe, die sich
um ganz konkrete Fragen drehen, etwa der nach gleicher Bezahlung im Job.
Die Frage ist: Wie kommen wir Schritt für Schritt voran?
taz: Mal angenommen, wir kommen unerwartet weit: Müssen wir uns die Welt
der Bewegungsfreiheit als eine Art globaler EU samt Schengenraum
vorstellen?
Georgi: Der Schengenraum zeigt gut, warum es nicht reichen würde, einfach
nur die Grenzen zu öffnen, aber andere politische und soziale Systeme
unangetastet zu lassen. Nachdem anfänglich soziale Rechte für alle
EU-Bürger:innen festgeschrieben waren, wurde das seit den Nullerjahren
zurückgedreht. Ohne schnellen Zugang zu Sozialleistungen überall sind arme
Menschen aber ausgeschlossen. Es gibt Bewegungsfreiheit, aber sie ist eben
für Leute, die Geld haben.
taz: Wie sieht ihre Utopie denn dann aus?
Georgi: Ich kann das nicht in jedem Detail ausmalen, dafür müsste ich die
gesamte politische Ökonomie dieser neuen Welt kennen. Zunächst geht es aber
ohnehin eher erst mal um eine Welt, in der Grenzen noch existieren, aber
für alle prinzipiell offenstehen. Und in der die neu ankommenden Menschen
die gleichen Rechte haben wie die, die länger da sind.
21 Dec 2025
## LINKS
[1] /Freiheit-und-Unfreiheit-von-Migration/!6111582
[2] /Anleitung-gegen-den-Autoritarismus/!6126314
[3] /Umgang-mit-Klimaflucht/!6118476
[4] /Forscher-ueber-den-Aufstieg-der-AfD/!6122920
[5] /Deutsche-Wohnen-Enteignen/!6136007
## AUTOREN
Frederik Eikmanns
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