# taz.de -- 10 Jahre Fluchtsommer: Was haben wir geschafft? | |
> Seit 2015 ist das Thema Migration allgegenwärtig. Ein Zeitstrahl zu den | |
> prägenden gesellschaftlichen und politischen Ereignissen. | |
Bild: In den ersten Monaten des Jahres 2015 steigt die Zahl der Menschen, die �… | |
Januar 2015 | |
Schon im Vorjahr ist die Zahl der Geflüchteten, die nach Europa kommen, | |
deutlich gestiegen. Jetzt werden es noch mehr. Viele flohen vor dem | |
Bürgerkrieg in Syrien oder der Gewalt der Taliban in Afghanistan, aber auch | |
aus afrikanischen Ländern kommen manche. Oft sind sie bereits seit Jahren | |
unterwegs, fanden zwischenzeitlich prekären Schutz in Ländern wie der | |
Türkei. | |
April 2015 | |
In der Nacht vom 18. April kentert bei einer Rettungsaktion ein | |
Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste. Nur 28 der rund 800 Menschen an | |
Bord überleben. Es ist eine der schlimmsten Katastrophen auf dem Mittelmeer | |
bis dahin. | |
Mai 2015 | |
Am 19. Mai gründen Aktivist*innen den Verein Sea-Watch. Sie beschreiben | |
sich als Menschen „die dem politisch kalkulierten Sterbenlassen im | |
Mittelmeer nicht länger tatenlos zusehen konnten“. | |
August 2015 | |
Immer mehr Geflüchtete kommen über den Balkan und Österreich nach | |
Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nennt die Aufnahme der | |
Geflüchteten eine „große nationale Aufgabe“ und versichert: „Wir schaff… | |
das“. | |
August 2015 | |
Deutschland setzt am 25. August das Dublin-Verfahren für Syrer*innen | |
aus, weil die Abschiebungen ohnehin kaum funktionieren. Syrer*innen | |
werden nicht mehr in das Land zurückgeschickt, in dem sie zuerst EU-Boden | |
betreten haben. Stattdessen übernimmt Deutschland ihre Asylverfahren. Damit | |
wird das Land zunehmend zum Hauptziel für flüchtende Syrer*innen. | |
September 2015 | |
Am 2. September wird der Leichnam des [1][zweijährigen Alan Kurdi an die | |
türkische Mittelmeerküste] nahe Bodrum geschwemmt. Das Bild von ihm geht um | |
die Welt und wird zum traurigen Symbol für die tödliche Abschottungspolitik | |
der Europäischen Union. Auch seine Mutter und sein Bruder sterben bei dem | |
Versuch, auf dem Seeweg in die EU zu kommen. | |
September 2015 | |
Auf der Balkanroute stranden immer mehr Geflüchtete in Ungarn. Am 4. | |
September entscheiden Deutschland und Österreich, zehntausende von ihnen | |
aufzunehmen. Fotos von langen Kolonnen Geflüchteter gehen um die Welt. | |
Aktivist*innen bringen Schutzsuchende über die Grenze. An den Bahnhöfen | |
wird geklatscht. Der Begriff „Willkommenskultur“ etabliert sich für die | |
anhaltende Atmosphäre der Hilfsbereitschaft. Aber die Behörden sind | |
zunehmend überfordert. | |
September 2015 | |
Bundesinnenminister Thomas de Maizière führt am 13. September | |
Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich ein. Eine Anordnung, | |
Geflüchtete entgegen dem Europarecht zurückzuweisen gibt er aber nicht. | |
Konservative und Rechte beklagen dies als angebliche Grenzöffnung. Faktisch | |
ist es aber nur die Entscheidung gegen eine illegale Grenzschließung. | |
Oktober 2015 | |
Der Bundestag beschließt am 15. Oktober ein „Maßnahmenpaket zur Bewältigung | |
des Flüchtlingsandrangs“. Darin sind unter anderem enthalten: Einstufung | |
der Länder Albanien, Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten und | |
der Wechsel von Bargeld zu Sachleistungen sowie Leistungskürzungen für | |
Geflüchtete. | |
November 2015 | |
Hunderttausende Geflüchtete sind über den Sommer und Herbst nach | |
Deutschland gekommen, bald sind es knapp eine Million. In der Union rumort | |
es zunehmend, viele wollen Merkels Politik der Flüchtlingsaufnahme nicht | |
mehr mittragen. Auf dem CSU-Parteitag in München am 20. November liefern | |
sich Merkel und Bayerns CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer einen | |
Schlagabtausch. Merkel lehnt die CSU-Forderung nach einer Obergrenze für | |
Zuwanderung strikt ab. | |
Dezember 2015 | |
In der Silvesternacht gibt es in Köln hunderte sexuelle Übergriffe. Danach | |
wird debattiert – meist über die Herkunft der Täter. Die AfD hetzt Tag um | |
Tag gegen Geflüchtete. Medienwissenschaftler bezeichnen die Silvesternacht | |
als einen Wendepunkt für die Berichterstattung zu Migration. Auch in der | |
Politik ist plötzlich vieles anders: Auf dem Neujahrsempfang der CDU am 22. | |
Januar 2016 sagt Merkel: „Eines ist klar, wir müssen die Zahl der | |
Flüchtlinge spürbar reduzieren. Daran arbeiten wir mit Nachdruck.“ | |
März 2016 | |
Die AFD erzielt bei drei Landtagswahlen Rekordergebnisse. In Sachsen-Anhalt | |
werden die Rechtspopulisten mit 24,3 Prozent zweitstärkste Kraft. Auch in | |
Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zieht die AfD mit zweistelligen | |
Ergebnissen in die Landtage ein. | |
März 2016 | |
Die Europäische Union und die Türkei unterzeichnen [2][am 18. März den | |
sogenannten Flüchtlingsdeal]. Die Türkei soll möglichst viele Geflüchtete | |
an der Weiterfahrt nach Europa hindern. Personen, die es übers Meer | |
schaffen, sollen zurückgebracht werden. Im Gegenzug verpflichtet sich die | |
EU, sechs Milliarden Euro für die Aufnahme von Geflüchteten in der Türkei | |
zu zahlen und in einem geordneten Prozess Schutzsuchende von dort | |
aufzunehmen. In der Praxis funktioniert nichts davon. Stattdessen entsteht | |
ein brutales Abschottungsregime. Die Ankunftszahlen in Deutschland sinken | |
deutlich. | |
Februar 2017 | |
Die italienische Regierung und die EU unterzeichnen ein Migrationsabkommen | |
mit Libyen. Ein EU-Gipfel beschließt kurz darauf die „Malta-Deklaration“. | |
In beiden Abkommen geht es um Unterstützung für die sogenannte libysche | |
Küstenwache, die nicht viel mehr ist als eine Miliz. Bald gibt es Berichte | |
über Folter, Sklaverei und Hinrichtungen in den Flüchtlingslagern in | |
Libyen. Zwischen 2017 und 2024 überweisen die EU und Italien mindestens 59 | |
Millionen Euro dorthin. | |
Juni 2018 | |
Ende Juni gründet sich in Deutschland die Protestbewegung „Seebrücke. | |
Schafft sichere Häfen“. Sie fordert Seenotrettung auf dem Mittelmeer und | |
Zugang zum Flüchtlingsschutz in Deutschland. In zahlreichen Städten gehen | |
seit Anfang Juli mehr als 150.000 Menschen für ihre Forderungen auf die | |
Straße. | |
August 2018 | |
Die Stadt Freiburg im Breisgau wird am 1. August die erste Stadt, die sich | |
als „Sicherer Hafen“ erklärt. Gemeint sind Kommunen, die geflüchtete | |
Menschen willkommen heißen und bereit sind, mehr Menschen aufzunehmen. | |
Heute gibt es 320 Sichere Häfen. | |
April 2019 | |
Die Institutionen der Europäischen Union beschließen die Grenzschutzagentur | |
Frontex weiter auszubauen. Bis 2027 soll eine ständige Reserve von 10.000 | |
Grenzschutzbeamt*innen entstehen. Die räumliche Begrenzung der | |
Frontex-Einsätze auf unmittelbar angrenzende Staaten soll aufgehoben | |
werden. | |
Juni 2019 | |
In der Nacht zum 29. Juni nehmen italienische [3][Polizeibeamte Carola | |
Rackete, Kapitänin der Sea Watch 3, fest]. Das Seenotrettungsschiff wurde | |
über mehrere Wochen in keinen Hafen gelassen. Da sich die gesundheitliche | |
Lage der Geflüchteten an Bord zunehmend verschlimmert, entscheidet sich | |
Rackete ohne die Erlaubnis in einem italienischen Hafen anzulegen. Schnell | |
kommen mehr als 200.000 Euro an Spendengelder für die Gerichtskosten | |
zusammen. | |
März 2020 | |
Das EU-Türkei-Abkommen bricht zusammen. Um Druck auf die EU-Staaten zu | |
machen, schickt die Türkei gezielt Geflüchtete über die Grenze nach | |
Griechenland. Griechische Grenzschützer drängen sie mit brutaler Gewalt | |
zurück. Kritik an diesen illegalen Pushbacks gibt es von den Regierungen | |
der anderen EU-Staaten nicht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der | |
Leyen versichert Griechenland gar die „volle Solidarität“ und Unterstützu… | |
beim Grenzschutz. | |
September 2020 | |
Das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brennt ab. Zeitweise | |
lebten hier 20.000 Menschen unter elendigen Bedingungen. Der Brand wird zum | |
Symbol einer gescheiterten, inhumanen Abschottungspolitik an den | |
EU-Außengrenzen. Europaweit gibt es Demonstrationen. In Deutschland fordert | |
ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis die sofortige Evakuierung der | |
Menschen aus Moria und anderen griechischen Lagern. Die Aktion heißt „Es | |
reicht! Wir haben Platz“. | |
November 2021 | |
Am 24. November 2021 einigt sich die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP | |
auf einen Koalitionsvertrag. Er weckt Hoffnung auf eine humanere | |
Fluchtpolitik. „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und | |
Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht | |
wird.“ heißt es in dem Dokument etwa. | |
Februar 2022 | |
Russland überfällt die Ukraine, millionen Menschen müssen fliehen. Wie im | |
Sommer 2015 ist die Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung zunächst | |
groß. Zum ersten Mal setzt die EU die Massenzustromrichtlinie in Kraft. | |
Ukrainer*innen erhalten durch sie Schutz in EU-Staaten, ohne einen | |
Asylantrag stellen zu müssen. Auch bei Sozialleistungen und Unterbringung | |
gelten für die Ukrainer*innen andere Regeln als für reguläre | |
Asylbewerber*innen. | |
Dezember 2022 | |
Das Gesetz zur Einführung des Chancen-Aufenthaltsrecht tritt am 31. | |
Dezember in Kraft. Langjährig Geduldeten bekommen so Zugang zu einem | |
legalen Aufenthaltstitel. Expert*innen loben den Schritt. | |
Juni 2023 | |
Am 14. Juni kentert ein Schiff mit mehr als 750 Geflüchteten an Bord vor | |
der griechischen Küste. Mindestens 600 Menschen sterben. Die griechische | |
Küstenwache hatte das Schiff über 15 Stunden beobachtet, ohne einzugreifen, | |
obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Erst 2025 wird ein | |
Strafverfahren eingeleitet. | |
Juli 2023 | |
Die EU und Tunesien unterzeichnen am 16. Juli eine Absichtserklärung, dass | |
Geflüchtete an der Überfahrt nach Europa gehindert werden sollen. In der | |
Praxis bedeutet das brutale Gewalt. Mit dem Deal unterstützt die EU das | |
menschenrechtswidrige Handeln der tunesischen Regierung mit knapp einer | |
Milliarde Euro. | |
Oktober 2023 | |
In der Ausgabe vom 21. Oktober titelt das Wochenmagazin Der Spiegel „Wir | |
müssen im großen Stil abschieben“. Der Satz stammt aus einem Interview mit | |
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Von den Versprechen der Ampel auf eine | |
menschlichere Fluchtpolitik ist fast nichts mehr geblieben. | |
Februar 2024 | |
Ein Gesetz zur Verbesserung der Rückführung tritt in wesentlichen Teilen am | |
27. Februar in Kraft. Unter anderem sollen Abschiebungen erleichtert, | |
Anforderungen an einen Asylfolgeantrag verschärft und die Gründe für eine | |
Ablehnung des Asylantrags als „offensichtlich unbegründet“ ausgeweitet | |
werden. | |
April 2024 | |
Nach jahrelangen Verhandlungen beschließt das EU-Parlament die Reform des | |
EU-Asylsystems GEAS. Vorgesehen sind unter anderem Schnellverfahren an den | |
Außengrenzen unter Haftbedingungen. Auch illegale Pushbacks werden | |
erleichtert. Den lange geforderten verpflichtenden Verteilmechanismus für | |
Geflüchtete innerhalb der EU enthält die Reform nicht. | |
August 2024 | |
Am 30. August schiebt Deutschland zum ersten Mal seit der Machtübernahme | |
der Taliban vor drei Jahren wieder Menschen nach Afghanistan ab. | |
Menschenrechtler*innen sind entsetzt, denn den Abgeschobenen droht | |
Folter und Todesstrafe. | |
Oktober 2024 | |
Italiens extrem rechte Regierung eröffnet am 11. Oktober in Albanien zwei | |
Aufnahmezentren für ausgelagerte Asylverfahren. Wenige Tage später erreicht | |
ein erstes italienisches Marineschiff mit 16 Asylsuchenden die Zentren. | |
Nach einem Gerichtsurteil aus Rom werden drei Tage später aber alle nach | |
Italien gebracht. [4][Bis heute verhindern Gerichte immer wieder], dass die | |
Lager so genutzt werden, wie es die italienische Regierung plante. | |
Oktober 2024 | |
Am 31. Oktober tritt in Deutschland das sogenannte „Gesetz zur Verbesserung | |
der inneren Sicherheit und des Asylsystems“ in Kraft. Die darin enthaltenen | |
massiven Verschärfungen betreffen das Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie das | |
Asylbewerberleistungsgesetz. | |
Februar 2025 | |
Im Wahlkampf für die Bundestagswahl ist Migrationspolitik das Hauptthema. | |
Die „Asylwende“ wird zu Friedrich Merz' großem Versprechen. Nach einem | |
Messerangriff durch einen Geflüchteten in Aschaffenburg sind CDU und CSU | |
bereit, mit der AfD zu kooperieren. Sie verabschieden mit ihr einen Antrag | |
im Bundestag. | |
Mai 2025 | |
Direkt nach Amtsantrifft ordnet Bundesinnenminister Alexander Dobrindt an, | |
dass Asylsuchende an den deutschen [5][Grenzen zurückgewiesen werden | |
sollen]. Expert*innen erkennen darin einen eindeutigen Verstoß gegen | |
Europarecht. Auch das Berliner Verwaltungsgericht entscheidet in einem Fall | |
so. Dennoch halten Dobrindt und Kanzler Friedrich Merz an den | |
Zurückweisungen fest. | |
5 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Geschichte-eines-Fotos/!6110852 | |
[2] /EU-Tuerkei-Deal/!t5296161 | |
[3] /Sea-Watch-3-legt-in-Lampedusa-an/!5608417 | |
[4] /Europaeische-Migrationspolitik/!6066538 | |
[5] /Zurueckweisungen-an-den-Grenzen/!6083322 | |
## AUTOREN | |
Clarissa Hofmann | |
## TAGS | |
Flüchtlingssommer | |
Migration | |
Asylpolitik | |
Flüchtlingssommer | |
Flüchtlingssommer | |
Flüchtlingssommer | |
Flüchtlingssommer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Arbeitsmarktintegration seit 2015: Viele in systemrelevanten Jobs | |
Der Großteil der 2015 Geflüchteten hat inzwischen Arbeit. Das gilt aber | |
nicht für alle – und nicht überall. | |
Flucht als Geschäft: Einladung zur Erpressung | |
Kaum etwas fürchtet der Westen so sehr wie Geflüchtete. Für einige Staaten | |
und Firmen ist diese Angst zum Milliardengeschäft geworden. | |
Ankommen in Deutschland als Geflüchtete: Liebe auf den dritten Blick | |
Geflüchtet sind sie vor rund zehn Jahren, aus Syrien, aus Afghanistan, aus | |
dem Nordirak. Gelandet sind sie in Deutschland. Wie geht es ihnen heute? | |
Migration neu denken: So könnte eine humane Fluchtpolitik aussehen | |
Seit Jahren dominieren Rechte und Konservative das Thema Einwanderung. | |
Dabei ginge es auch anders. |