| # taz.de -- Mehr Härte gegenüber Arbeitslosen: Es wird ungemütlich | |
| > Das Gesetz zur neuen Grundsicherung soll nächste Woche ins | |
| > Bundeskabinett. Wer auch nur ein Jobangebot ablehnt, kann schnell ohne | |
| > Geld dastehen. | |
| Bild: Putzen im Laden – hoffentlich nicht, weil es das Amt verlangt | |
| Der Ärger ums Bürgergeld sichert das Einkommen von Arne Böthling. Der | |
| Rechtsanwalt aus Braunschweig arbeitet ausschließlich für Mandanten, die | |
| Probleme mit den Jobcentern haben. Von morgens bis abends gehen ihre Fälle | |
| über seinen Schreibtisch. Er hat vermutlich einen guten Überblick über den | |
| Personenkreis, für den die Bundesregierung strengere Regeln plant. | |
| „Nicht jeder Bürgergeld-Empfänger ist ein armes Schwein“, sagt Böthling. | |
| „Es gibt Leute, die haben bewusst keinen Bock zu arbeiten. Da ist es im | |
| Prinzip nicht falsch, die Sanktionen zu verschärfen.“ Einerseits. | |
| Andererseits komme es „immer sehr auf den Einzelfall an“ – und ein härte… | |
| Gesetz könne auch die Falschen treffen. | |
| Böthling erinnert sich noch gut an früher, bevor [1][das | |
| Bundesverfassungsgericht gegen massive Hartz-IV-Sanktionen urteilte] und | |
| die Ampel die Regeln lockerte. Damals musste er regelmäßig für Mandanten | |
| vor Gericht ziehen, die ein Jobangebot abgelehnt hatten und zur Strafe | |
| weniger Leistungen bekamen. Einmal vertrat er eine Alleinerziehende, von | |
| der das Jobcenter verlangt habe, um 8 Uhr morgens zur Arbeit in Gifhorn | |
| anzutreten – 25 Kilometer von Braunschweig entfernt. In anderen Fällen sei | |
| es um gesundheitliche Probleme gegangen, oder um Arbeitsstätten, die ohne | |
| Auto nicht zu erreichen waren. „Unzumutbar war selten die Arbeit an sich. | |
| Die äußeren Umstände waren es manchmal aber schon“, sagt Böthling. | |
| Bald könnte der Anwalt wieder mehr solcher Fälle bekommen. Der „Herbst der | |
| Reformen“, den Bundeskanzler Merz angekündigt hatte, endet zwar mit | |
| überschaubaren Ergebnissen. Zumindest [2][soll am nächsten Mittwoch] aber | |
| noch das Gesetz zur neuen Grundsicherung, die das Bürgergeld ersetzen wird, | |
| das Kabinett passieren. | |
| ## Zumindest ein letzter Kontaktversuch | |
| Der Gesetzesentwurf sieht an mehreren Stellen wieder mehr Härte vor. Das | |
| Verfassungsgericht ließ der Politik in seinem Sanktionsurteil 2019 ein | |
| wenig Spielraum. Den will Schwarz-Rot jetzt komplett ausnutzen, einige | |
| Pläne könnten ihn sogar sprengen. | |
| Das Gericht sah Leistungsminderungen im Prinzip nur bis zu einer Höhe von | |
| 30 Prozent als verfassungskonform an, beim Regelsatz von aktuell 563 Euro | |
| entspricht das knapp 170 Euro. Laut dem Bürgergeld-Gesetz der Ampel dürfen | |
| die Jobcenter selbst diesen Betrag nur bei wiederholten Regelverstößen | |
| ausschöpfen. [3][Künftig soll es schon bei der ersten Sanktion bis an die | |
| Grenze gehen.] | |
| In bestimmten Fällen könnten sogar mehr Kürzungen möglich werden: Wer | |
| mehrere Jobcenter-Termine hintereinander versäumt, soll gar nichts mehr | |
| bekommen, am Ende nicht mal mehr die Wohnkosten. Nach Auffassung der | |
| Regierung ist das – Urteil hin oder her – verfassungskonform machbar. In | |
| der öffentlichen Debatte hat dieser Punkt bisher die größte Aufmerksamkeit | |
| bekommen. Auch, weil der entsprechende Paragraf zuletzt den | |
| Kabinettsbeschluss über das Gesetz verzögert hat. | |
| Laut Handelsblatt haben Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) und | |
| Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) ihr Veto gegen einen Satz eingefügt, | |
| der Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) wichtig war: Zum Schutz kranker | |
| Menschen, die Behördentermine gar nicht wahrnehmen können, soll das | |
| Jobcenter vor der Komplettsanktion einen letzten Kontaktversuch | |
| unternehmen. | |
| ## Es kann direkt existentiell werden | |
| Weniger Aufmerksamkeit gibt es bislang für eine andere Verschärfung: Wer | |
| auch nur ein einziges Stellenangebot ablehnt, das das Jobcenter als | |
| zumutbar einstuft, soll für mindestens einen Monat den gesamten Regelsatz | |
| verlieren. | |
| Schon die Ampel war einen Schritt in diese Richtung gegangen. Sie hatte an | |
| dieser Stelle nur ein Jahr nach ihrer Bürgergeld-Reform die entschärften | |
| Sanktionsregeln wieder verschärft. Wer wiederholt Jobs ablehnt, riskiert | |
| seitdem als „Totalverweigerer“ eine 100-Prozent-Sanktion. Die Bedingungen | |
| dafür sind im Gesetz bislang aber so strikt formuliert, [4][dass die | |
| Jobcenter die Möglichkeit so gut wie nie anwenden.] Jetzt soll sie | |
| praxistauglicher werden. | |
| Ab wann eine Arbeit als zumutbar gilt, ist dabei im Gesetz nur grob | |
| definiert. Konkrete Kriterien und Beispiele gibt es in einer Weisung der | |
| Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter, die aber jederzeit verändert | |
| werden kann. Demnach darf ein Alkoholiker nicht zur Arbeit als Barkeeper | |
| gedrängt werden und eine Konzertpianistin nicht zu einem Job, der ihre | |
| Fingerfertigkeit gefährdet. Generell gelten aber Jobs unterhalb der eigenen | |
| Qualifikation als zumutbar, ebenso tägliche Pendelzeiten von zweieinhalb | |
| Stunden oder Gehälter, die ein Drittel unter Tarif liegen. | |
| Bisher können Betroffene ein Stück weit abwägen, wie sie mit entsprechenden | |
| Stellenangeboten umgehen. Einen Arbeitsvertrag auszuschlagen, bringt ihnen | |
| zumindest beim ersten Mal nur eine Leistungsminderung um einmalig 56 Euro | |
| ein. In Zukunft kann es direkt existenziell werden. Die Begründung der | |
| Regierung [5][im Gesetzesentwurf]: Die Verschärfung stärke die „Akzeptanz | |
| des Sozialstaats“. Hilfe der Allgemeinheit dürfe nur beanspruchen, wer | |
| wirklich bedürftig ist. | |
| ## „Stärkere Arbeitsanreize“ | |
| Von einigen Arbeitgeberverbänden aus Branchen, in denen das Personal knapp | |
| ist und zum Teil Niedriglöhne gezahlt werden, gibt es Zuspruch zum Plan der | |
| Regierung – wenn auch keine Begeisterung. „Fehlanreize im Bürgergeld“ se… | |
| ein Grund dafür, dass Stellen für Hilfskräfte im Gastgewerbe unbesetzt | |
| bleiben, sagt Sandra Warden vom Branchenverband Dehoga. Es sei richtig, | |
| wenn Sanktionen „stärker spürbar und leichter durchsetzbar werden“. Es | |
| brauche aber auch „stärkere Arbeitsanreize bei den Hinzuverdienstregeln“. | |
| Ähnlich antworten auf Anfrage Vertreter aus den Branchen der | |
| Gebäudereinigung und der Callcenter. | |
| Noch deutlicher stellt der Bundesverband Paket- und Expresslogistik auf | |
| Anreize ab. Ob die neuen Sanktionsregeln tatsächlich messbare Effekte auf | |
| die Personalgewinnung haben werden, müsse man abwarten, heißt es von dort | |
| auffallend distanziert. Entscheidender bleibe so oder so, dass Arbeitnehmer | |
| „nicht aufgrund von Druck“ in die Branche kommen, sondern weil sie dort | |
| „Perspektiven und Anerkennung“ fänden. | |
| Ein Argument, das in ähnlicher Form auch aus einer anderen Ecke kommt: von | |
| der demokratischen Opposition im Bundestag. „Es ist nachvollziehbar, | |
| Jobangebote abzulehnen, die nicht zur eigenen Qualifikation passen“, sagt | |
| Timon Dzienus, in der Grünen-Fraktion für das Thema zuständig. „Niemandem | |
| ist geholfen, wenn Menschen irgendeinen Job annehmen und nach wenigen | |
| Wochen wieder auf der Matte des Jobcenters stehen. Es muss um langfristige | |
| Integration in den Arbeitsmarkt gehen, statt Angstmacherei.“ | |
| Wissenschaftliche Studien legen tatsächliche nahe: Ein höherer | |
| Sanktionsdruck bringt mehr Menschen in Arbeit. Ein zu hoher Sanktionsdruck | |
| bringt sie aber vermehrt in schlechte Arbeit und ist entsprechend weniger | |
| nachhaltig. | |
| Und dann gibt es noch ein Argument, das der Paritätische Gesamtverband | |
| [6][in einer Stellungnahme zu den Gesetzesberatungen] anführt. Demzufolge | |
| wirkt sich die Verschärfung nicht nur auf Bürgergeld-Empfänger aus, sondern | |
| indirekt auch auf andere Arbeitnehmer. „Sanktionen machen Arbeitslose | |
| machtlos gegenüber prekären Arbeitsangeboten und führen damit insgesamt zu | |
| schlechteren Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt“, schreibt der Sozialverband. | |
| Man kann also, ganz wie die Regierung, mit dem Interesse der Allgemeinheit | |
| argumentieren – aber zu einem ganz anderen Schluss kommen als sie. | |
| 13 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Urteil-zu-Hartz-IV-Sanktionen/!5635675 | |
| [2] /Koalitionsausschuss-vor-Weihnachten/!6137203 | |
| [3] /Reform-des-Buergergelds/!6121395 | |
| [4] /Forscher-zu-Buergergeld-Sanktionen/!6118590 | |
| [5] https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Referentenentwuerfe/13-… | |
| [6] https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/251118_SN-Paritaet_S… | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
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