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# taz.de -- Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung: Zwei Völker, ein Schicksal
> Auf Einladung von Ha’aretz und Heinrich Böll Stiftung wurden in Berlin
> „Bruchlinien und Zukünfte“ im Verhältnis von Israel, Gaza und Deutschla…
> diskutiert.
Bild: Anfang November protestierten Palästinenser:innen gegen die Erweiterung …
Die seit 1923 in Tel Aviv erscheinende Zeitung Ha’aretz lud in der
vergangenen Woche ins Haus der Berliner Festspiele ein, um über
„Bruchlinien und Zukünfte“ im Verhältnis von Israel, Gaza und Deutschland
in Kriegszeiten und danach zu sprechen. Die erste Gesprächsrunde widmete
sich dem desaströsen Bild, das viele progressive Linke, darunter prominente
Intellektuelle, nach dem 7. Oktober abgegeben haben.
Chefredakteur Aluf Benn befragte dazu [1][Eva Illouz, deren Buch „Nach dem
8. Oktober“ vor Kurzem auf Deutsch erschienen ist]. Illouz wiederholte auf
der Bühne ihre Kritik an jenen sogenannten Progressiven, die sich einer
„moralischen Inversion“ schuldig gemacht hätten: Jüdische Opfer wurden
entmenschlicht. Weder wurden die von den Hamas-Kommandos begangenen Morde
beklagt, noch die von Männern aus Gaza vergewaltigten jüdischen Frauen als
Opfer eines Verbrechens anerkannt.
Westlichen Aktivist*innen wirft Illouz vor, ausschließlich die
Perspektive der radikalsten Palästinenser*innen zu übernehmen. An
Friedensperspektiven sei dieser Aktivismus selten interessiert und lasse
damit vielen Israelis die Behauptung ultrarechter Politiker in Israel, das
Land sei allein in einer Welt voller feindseliger Antisemiten, noch
plausibler erscheinen. Um einen Ausweg aus der katastrophalen Situation zu
bahnen, müssten starke politische Koalitionen zwischen Israelis und
Palästinensern geschmiedet, der Druck von außen erhöht werden.
## Konkretes wird nonchalant umschifft
Darüber schienen sich die meisten der Diskutierenden einig zu sein: Nur ein
funktionierender Staat Palästina eröffnet die Perspektive einer friedlichen
Lösung, von der Israelis und Palästinenser gleichermaßen profitieren. Die
Frage, was es jetzt konkret zu tun gilt, damit dieser Staat überhaupt ins
Auge gefasst werden kann, wurde allerdings meist nonchalant umschifft.
Eine herausragende Ausnahme bildete Diskussionsrunde Nummer zwei, an der
Bente Scheller von der die Konferenz mitorganisierenden Heinrich Böll
Stiftung, Hiba Qasas, die Gründerin der Organisation Principles for Peace
und Chefin der Koalition United for Shared Future, und Eran Etzion,
ehemaliger Vizevorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats in Israel,
teilnahmen.
Qasas wurde 1980 in Nablus geboren. Als sie 19 war, erschoss ein
israelischer Soldat ihren Freund während einer Protestaktion, wenig später
wurde das Haus ihrer Familie durch eine Panzergranate zerstört. Qasas
machte Karriere bei den Vereinten Nationen, heute lebt sie in der Schweiz.
Ihre Initiative bringt hochrangige palästinensische und israelische
Persönlichkeiten zusammen. Zu den unverhandelbaren Prinzipien der
Initiative gehören politische Selbstbestimmung und Sicherheit für beide
Staaten.
„Der Status quo ist nicht aufrechtzuerhalten“, sagte Qasas und drückte ihre
Hoffnung aus, dass sich derzeit die Möglichkeit eröffne, einen Rahmen für
Fortschritt zu schaffen. Die Hamas müsse entwaffnet und eine
Übergangsregierung in Gaza installiert werden. Die Palästinensische
Autonomiebehörde signalisiere endlich Bereitschaft zu grundlegenden
Reformen. Die Entstehung eines demilitarisierten Staats Palästina sei im
Interesse beider Seiten.
Ihr Gesprächspartner Etzion hat als ehemaliges hochrangiges Mitglied des
israelischen Sicherheitsestablishments vor einem Jahr mit einem Tweet
Aufsehen erregt. Er hatte israelische Soldaten und Bürger dazu aufgerufen,
sich dem damals formulierten „Plan der Generäle“ für Gaza zu widersetzen,
weil dieser unweigerlich zu Kriegsverbrechen führen würde. Etzion glaubt,
die Strategie von Ministerpräsident Netanjahu bestehe darin, eine
Zweistaatenlösung unter allen Umständen zu verhindern und Israel in ein
illiberales Land zu verwandeln. Bis jetzt sei diese Strategie genauso
aufgegangen wie die Militäroperationen gegen die Hisbollah in Libanon und
gegen Vertreter des Teheraner Regimes. Netanjahu wolle den Kriegszustand
dauerhaft aufrechterhalten und die Justizreform vollenden, gegen die halb
Israel über ein Jahr lang protestiert hatte. Die israelische Demokratie
stehe auf dem Spiel.
Den auf Grundlage des Trump-Plans verfassten Entwurf des UN-Sicherheitsrats
bezeichnete Etzion als „schlampig“ – er erinnere weniger an die Arbeit
erfahrener Völkerrechtler, sondern an diejenige von Anwälten, die sonst mit
der Errichtung von Briefkastenfirmen auf den Caiman-Inseln befasst seien.
Demgegenüber beharrte Qasas darauf, dass der Trump-Plan eine positive
Entwicklung in Gang gesetzt habe. Wir müssten uns damit abfinden, in einer
neuen Ära des Transaktionalismus zwischen Supermächten zu leben. Die enge
Beziehung zwischen den USA und Israel öffne sich gegenüber anderen
Akteuren, die ihrerseits eigene Interessen verfolgten. Saudi-Arabien auf
der einen Seite spreche sich für eine Zweistaatenlösung aus, Türkei und
Katar auf der anderen sind für ihre Sympathien gegenüber der Hamas bekannt.
Deutschland, meint Qasas, müsse nun dringend eine vermittelnde Rolle
spielen. Etzion ergänzte, Israels Nachbarn seien sich darüber einig, dass
es ein Zurück zum 6. Oktober nicht geben könne. Auch er spricht von einer
historischen Gelegenheit.
## Schweigen als größtes Problem
„Man kann ein Volk nicht durch Bomben zum Verschwinden bringen. Man kann
die Wahrheit nicht auslöschen“, sagte [2][Ayman Odeh], dessen Rede sich
anschloss. Der Knessetabgeordnete sitzt der Listenverbindung aus
Kommunisten und moderaten arabischen Nationalisten, Chadasch-Ta’al, vor. Er
zitierte aus der berühmten Rede von Rabbi Joachim Prinz beim Marsch auf
Washington im Jahr 1963. Prinz, der aus Hitlerdeutschland fliehen konnte,
hatte gesagt, damals seien für Juden weder Fanatismus noch Hass das
drängendste Problem gewesen, sondern das Schweigen. „Schweigen, in die
Sprache der Diplomatie verpackt“, warf Odeh auch der deutschen Regierung
vor. Er kritisierte scharf die Aussage von Friedrich Merz, Israel mache
„die Drecksarbeit für uns alle“. Der Kanzler hatte sich, das unterschlug
Odeh, dabei allerdings auf den Militärschlag gegen den Iran bezogen.
Odeh forderte Deutschland auf, Palästina endlich als Staat anzuerkennen.
Juden wie Palästinenser hätten ein Recht auf Selbstbestimmung: „Du kannst
deinen Nachbarn nicht zerstören, ohne dich selbst zu zerstören.“ Es sei
allerdings leichter, die andere Seite zu bekämpfen als die Extremisten auf
der eigenen. Odeh sprach sich für eine starke jüdisch-arabische
Partnerschaft aus, denn die beiden Völker teilten – „ob wir wollen oder
nicht“ – ein Schicksal.
Wenig später erklommen der ehemalige palästinensische Außenminister Nasser
al-Kidwa von der Fatah [3][und der ehemalige israelische Ministerpräsident
Ehud Olmert] die Bühne. Beide werben seit einiger Zeit gemeinsam für eine
Zwei-Staaten-Lösung, wobei al-Kidwa auch recht schnell eine führende Rolle
für sich selbst in einem zukünftigen palästinensischen Staat ins Spiel
brachte. Olmert, nicht weniger breitbeinig, sagte, der 7. Oktober sei das
Ergebnis israelischer Selbstgefälligkeit und Arroganz gewesen: „Wo war die
Armee?“
Das tiefer liegende Problem sei, dass Israel seinen einzigen Partner, die
Palästinensische Autonomiebehörde, ignoriert habe. [4][Olmert zeigte sich
beschämt über die im Windschatten des Gazakriegs eskalierende Gewalt
extremistischer Siedler.] Es vergehe kein Tag, an dem nicht
palästinensische Olivenhaine angezündet und in Häuser eingebrochen werde,
Menschen bedroht und manchmal auch ermordet würden, während es der Polizei
des Ministers Ben-Gvir angeblich nicht gelinge, die Täter zu finden.
Olmerts Einschätzung wurde später am Abend durch Ha’aretz-Reporterin Hagar
Shezaf bestätigt, die von einer Arbeitsteilung von Siedlern und der Armee
berichtete. Der bekannte israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard
bekräftigte, Siedlergewalt sei staatliche Gewalt. Angesichts des Gazakriegs
bezeichnete Sfard die Israelis gar als Teil einer Mafia-Familie, die
gemeinsam die Verantwortung für Kriegsverbrechen und einen Genozid in Gaza
trage. Letzteres erstmals in einem Text für Ha’aretz zu formulieren, sei
ihm sehr schwer gefallen.
Was in Deutschland oft nicht verstanden wird, ist die simple Tatsache, dass
die meisten linken Kritiker der israelischen Politik, die in Ha’aretz
schreiben, Zionisten sind, also das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen
Volks für selbstverständlich halten. Das mag auch der Grund dafür sein,
warum der präzedenzlose Charakter des Gazakriegs auf der Konferenz nicht
thematisiert wurde, weil er auch dessen schärfsten Kritikern bewusst ist.
Noch nie musste ein angegriffenes Land einen Krieg gegen eine
Terrororganisation führen, die für sich selbst Hunderte von Kilometern
lange Tunnel unter einer Stadt gebaut hat und bekundet hat, dass eine
möglichst hohe Zahl toter Zivilisten in Gaza Teil ihrer Strategie ist.
Daniel Gerlach, Chefredakteur des Magazins Zenith, erzählte in einer
Diskussionsrunde [5][über die schwierige Arbeit von Journalisten], er werde
häufig von deutschen Kollegen gefragt, ob Ha’aretz eine seriöse Quelle und
nicht vielleicht Hamas-nah sei. Das verwundert nicht, zeichnen sich nicht
wenige selbsternannte Experten hierzulande durch eklatante Wissenslücken
[6][über die historischen Hintergründe] und die politischen Verhältnisse in
der Region aus.
Michael Sfard warf Deutschland vor, dem Internationalen Strafgerichtshof
nicht genügend Rückendeckung angesichts der Angriffe Trumps auf das Gericht
zu geben. Auch Franziska Brantner, Bundesvorsitzende der Grünen,
kritisierte die Bundesregierung: Diese unterstütze die Vorschläge der EU
nicht. Deutschland verliere international seine Glaubwürdigkeit, wenn es
sich überall für Menschenrechte einsetze, nur nicht in Israel und
Palästina.
Der Tag konnte wohl nicht zu Ende gehen, ohne dass noch eine Diskussion
über Boykotte angezettelt worden wäre. Da hatte man einen Hinweis von Eva
Illouz wohl schon vergessen oder aus Prinzip nicht zugehört: Man dürfe
nicht außer Acht lassen, hatte Illouz eingangs gesagt, dass – trotz der
überwältigenden militärischen Überlegenheit Israels – viele Israelis seit
dem 7. Oktober Angst hätten.
10 Nov 2025
## LINKS
[1] /Warum-feiern-Progressive-den-7-Oktober/!6111190
[2] /Arabische-Israelis-in-Jerusalem/!5966971
[3] /Olmert-und-Abbas-reden-ueber-Nahostplan/!5663410
[4] /Siedlergewalt-im-Westjordanland/!6126710
[5] /Pressefreiheit-in-Nahost/!6123971
[6] /Arabischer-Aufstand-1936/!6075032
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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Gaza-Krieg
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