| # taz.de -- Beim Reisen auf Ideen kommen: Seifenblasen und Adrenalinsucht | |
| > Gute Reisemomente haben etwas vom „Runner’s High“ im Sport. Mal so | |
| > richtig überwältigt zu sein, ist kostbar – aber leider auch kurzlebig. | |
| Bild: Schafe, soweit das Auge reicht: Doberdol, am Dreiländereck zwischen Alba… | |
| Auf die Schönheit von Doberdol bin ich nicht vorbereitet. Es ist fast | |
| Abend, als wir nach einem Tag Bergwanderung das entlegene Dorf erreichen, | |
| am Dreiländereck zwischen [1][Albanien], Montenegro und Kosovo. Und | |
| plötzlich tut es sich auf: ein Tal auf 2.000 Metern, so still und | |
| majestätisch, dass es den Himmel zu berühren scheint. Satte grüne Wiesen | |
| ziehen sich bis an die Hänge hinauf, reife Heidelbeersträucher wuchern | |
| überall, und vor uns ein Bach wie aus einem Gemälde – Asphalt gibt es | |
| nicht. An den Hängen grasen endlose Herden von Schafen, Kühen, Ziegen. Es | |
| ist ein Ort, der völlig in sich ruht. Dabei ist das Hirtendorf Doberdol, | |
| das nur im Sommer bewohnt ist, mittlerweile gut besucht von Tourist:innen. | |
| Doch die Wandernden fallen hier kaum auf. Sie kommen abends und ziehen am | |
| nächsten Morgen weiter. Und ich stehe und staune. | |
| Gute Reisemomente haben etwas vom Runner’s High im Sport oder von | |
| Meditation: eine magische Seifenblase, wo nur der Augenblick zählt. Das | |
| Gedankenkarussell steht für einen Moment still. In dieser Welt, wo wir | |
| längst wissen, wie eine Palme aussieht, wie ein Affe klingt und was der | |
| Eiffelturm ist, ist es kostbar, überwältigt zu sein. In Doberdol befällt | |
| mich eine Sehnsucht, alles hinter mir zu lassen. Ein paar Monate als Hirtin | |
| hier leben, Gemüse pflanzen, Beeren ernten, Käse machen, Schafe halten. | |
| Diese Sehnsucht ist erfahrungsgemäß schnell wieder kurierbar – [2][zuletzt, | |
| bei tadschikischen Yakhirten,] reichte dafür ein Tag monotones Rumsitzen | |
| und Yakjoghurt zum Frühstück, Mittag und Abendessen. Aber wir reisen ja | |
| nicht nur, um anderes zu sehen. Sondern auch, um anders zu fühlen. | |
| Doberdol ist die entlegenste Etappe auf dem boomenden Peaks of the | |
| Balkans-Trail, der in Albanien auch mal Coca-Cola-Trail heißt, weil findige | |
| Einheimische überall Softdrinkbuden installiert haben. In jedem Dorf wird | |
| fieberhaft gebaut, mancherorts die ersten Hotelkomplexe. Aber immer noch | |
| sind die entlegeneren Etappen menschenleer, wie in einem präindustriellen | |
| Traum. Und wenn ich einfach immer weitergehe? Wie der legendäre Karl | |
| Bushby, der seit 1998 als erster Mensch die Erde umwandert? Auch dieser | |
| Impuls ist mir auf Reisen vertraut. Und auch der hat ein Ablaufdatum. | |
| Magische Berge und Täler, Tag für Tag, werden mit der Zeit einfach der | |
| nächste Berg und das nächste Tal. Die kleinen Wanderblessuren werden | |
| nervig. Und dann wird mir langweilig. Es ist wie mit dem Hirtenleben, | |
| schätze ich: [3][Wir Kinder des Neoliberalismus sind zu adrenalinsüchtig] | |
| für ein idealisiertes Aussteigerleben. Vielleicht ist das okay so. Die | |
| magische Seifenblase fühlt sich ja nur deshalb kostbar an, weil sie | |
| irgendwann platzt. | |
| 9 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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