| # taz.de -- Stadtbild, Migration, Rente: Deutschland leistet sich die dümmsten… | |
| > Wenn sich nur noch erregt und nicht mehr ernsthaft diskutiert wird, sucht | |
| > man nicht nach Lösungen. Das ist Erregungstheater und keine | |
| > Diskurskultur. | |
| Bild: Münster, NRW, 23. Oktober: Protestaktion nach den Aussagen von Bundeskan… | |
| Es ist fast schon ein Volkssport: Debattieren über Nebensächlichkeiten, bis | |
| keiner mehr weiß, worum es eigentlich geht. Kaum sagt jemand etwas | |
| Unbequemes, schaltet das Land binnen weniger Stunden kollektiv in den | |
| Skandal-Modus. Wir führen keine Debatten mehr, wir veranstalten moralische | |
| Kostümfeste, und der Ablauf folgt stets derselben Dramaturgie: Einer | |
| provoziert, [1][die Gegenseite] hyperventiliert – und die Substanz bleibt | |
| auf der Strecke. | |
| Nehmen wir die jüngste Debatte um Friedrich Merz’ „Stadtbild“-Äußerung… | |
| war [2][pauschalisierend, überspitzt, ohne Kontext]. Aber anstatt nüchtern | |
| zu widersprechen, kam der gewohnte Reflex: „Rassismus! Nazi!“ Zack, | |
| Diskussion beendet. Und das, obwohl hinter Merz’ plumpem Satz ein reales | |
| Problem steckt: Die meisten sehen irreguläre Migration kritisch. Nur hätte | |
| der Kanzler sich und uns allen einen Gefallen getan, wenn er nicht | |
| suggeriert hätte, dass Migration zwangsläufig dazu führe, dass sich | |
| Menschen auf den Straßen unwohl fühlen. Empört wird sich in den Debatten | |
| selten über das, was jemand wirklich gemeint hat, sondern über das, was man | |
| hören will, um sich zu empören. Es geht nicht um Argumente, sondern um das | |
| Ritual. Man legt dem anderen das Schlimmstmögliche in den Mund und klopft | |
| sich anschließend selbstzufrieden auf die Schulter. | |
| Mit einem ehrlichen Meinungsaustausch hat das wenig zu tun. Und all das | |
| findet in einer Blase statt, die mit der Mehrheit immer weniger zu tun hat. | |
| Die meisten Menschen im Land haben andere Sorgen: steigende | |
| Lebenshaltungskosten, fehlende Ärzte, kaputte Schulen. Während um Wörter | |
| und Empfindlichkeiten gestritten wird, hat sich die politische Debatte | |
| längst von der Lebensrealität vieler Bürger entkoppelt. Migration ist dafür | |
| das beste Beispiel. Sie wird entweder verklärt oder verteufelt. Die einen | |
| wollen offene Grenzen für alle, die anderen am liebsten Mauern und | |
| Stacheldraht. | |
| Dazwischen gäbe es reichlich Platz für Vernunft: illegale Migration | |
| begrenzen, Straftäter abschieben, qualifizierte Zuwanderung fördern, | |
| Integration endlich ernst nehmen. Stattdessen wird alles in denselben Topf | |
| geworfen – Asyl, Arbeitsmigration, Fachkräftebedarf – und so lange | |
| umgerührt, bis am Ende nur noch Empörung übrig bleibt. | |
| Beim [3][Verbrenner-Aus] das gleiche Spiel: Die einen tun so, als könne | |
| Deutschland das Weltklima im Alleingang retten, die anderen hängen an ihren | |
| Benzinern wie an einem Familienerbstück. Dazwischen die Vernünftigen, die | |
| sagen: Natürlich müssen wir umbauen – aber mit Blick auf Wirtschaft und | |
| Arbeitsplätze. Ebenso [4][bei der Rentendebatte]. „Länger arbeiten!“, ruft | |
| die eine Seite. „Bloß nichts ändern!“, die andere. Niemand fragt, ob die | |
| Pflegekraft mit 68 noch Nachtschichten stemmen kann. Oder ob es fair ist, | |
| dass ich mit meinem Laptopjob dieselbe Regelung habe wie jemand, der | |
| körperlich kaputt ist, bevor er 60 wird. Das aktuelle Rentensystem ist | |
| langfristig nicht tragbar. | |
| ## Das Lieblingsgespenst der Republik: die AfD | |
| Und dann das Lieblingsgespenst der Republik: die AfD. Seit zehn Jahren | |
| wächst diese Partei. Und seit zehn Jahren reagiert das politische | |
| Establishment mit denselben Rezepten: Empörung, Ausgrenzung, | |
| Verbotsfantasien. Hat bislang nicht funktioniert – und wird es auch künftig | |
| nicht tun. Das Gerede von der „Brandmauer“ hilft der AfD mehr als jede | |
| Kampagne. Es zementiert die Vorstellung einer abgehobenen Elite, die mit | |
| der Realität des Alltags nichts mehr zu tun hat. Dass die Brandmauer längst | |
| mehr Symbol als Strategie ist, scheint niemanden zu stören. Sie war gut | |
| gemeint – als klare Abgrenzung gegen rechts –, ist aber zum Selbstzweck | |
| geworden. | |
| Diese Debattenkultur hat eine Ursache: Moral hat die Analyse ersetzt. Aber | |
| die permanente Zuspitzung, das Denken in Lagern, verhindert, dass wir | |
| überhaupt noch Gemeinsamkeiten finden oder pragmatische Lösungen zulassen. | |
| Kluge Antworten erfordern jedoch Nachdenken, Abwägen – und manchmal auch | |
| das Eingeständnis, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig existieren können. | |
| Doch wer differenziert, gilt als weich. Wer übertreibt, bekommt Applaus. | |
| Und wer versucht, beides zu verbinden – [5][Vernunft mit Haltung] –, wird | |
| von beiden Seiten beschimpft. | |
| So funktioniert keine demokratische Streitkultur, sondern Erregungstheater. | |
| Unsere politischen Debatten sind längst keine Orte des Austauschs mehr, | |
| sondern Bühnen für Selbstinszenierung. Man will recht haben, nicht | |
| verstehen. Und weil das bequemer ist, drehen wir uns in Endlosschleifen aus | |
| Empörung, Ironie und Belehrung. Deutschland leistet sich die dümmsten | |
| Debatten – weil es sich den Luxus leistet, nicht ernsthaft nach Lösungen zu | |
| suchen. Dabei wäre genau das nötig: weniger Schaum vorm Mund, mehr Substanz | |
| im Kopf. | |
| 27 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nikolaos Gavalakis | |
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