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# taz.de -- Zukunft von Pflegegrad 1: Sparen durch die Hintertür
> Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflege will die Bemessung von
> Pflegegraden „überprüfen“. Das könnte bittere Folgen für die Betroffe…
> haben.
Bild: Wenn es hart kommt, nimmt die Verwahrlosung Hochaltriger zu
Susanne Broth, 73 Jahre alt, darf nach einer Kehlkopfoperation nicht mehr
duschen. Und sie kann, bedingt durch ihr Rheuma, keinen Waschlappen mehr
ausdrücken. Kartoffeln schälen geht auch nicht. Die Alleinstehende nutzt
Feuchttücher für die Körperhygiene und lebt von Fertigmenüs.
Nur der unterste, ein Pflegegrad 1, wurde der Dame bewilligt, die in
Wirklichkeit anders heißt. Sie bekommt damit selbst kein Geld, kann sich
aber durch den sogenannten „Entlastungsbetrag“ für vier, fünf Stunden im
Monat bezahlte Hilfe für ihren Haushalt suchen und dafür 131 Euro mit der
Pflegekasse abrechnen.
Den Entlastungsbetrag, den man im Pflegegrad 1 bekommt, um eine externe
Hilfe zu bezahlen, und auch die Bemessung der höheren Pflegegrade stehen
jetzt zur Disposition. Denn die Finanzlage der Pflegeversicherung soll
dringend stabilisiert werden. Die Ausgaben für die soziale
Pflegeversicherung sind von 31 Milliarden Euro im Jahre 2016 auf 68
Milliarden Euro im Jahre 2024 gestiegen. [1][In den nächsten Jahren klaffen
Milliardenlücken in der Pflegekasse].
Die [2][Bund-Länder-Arbeitsgruppe] „Zukunftspakt Pflege“ hat am Montag
erste Vorschläge auch zur Ausgabenbegrenzung vorgelegt.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken kündigte an, zur
„Effizienzsteigerung“ müssten die „Potenziale in der Versorgung“ „st…
gehoben“ und die „Wirkung bisheriger Leistungen auf den Prüfstand“.
Was im Zwischenbericht der Bund-Länder-AG zur Pflege auffällt, ist, dass
nicht radikal bestimmte Leistungen aus der Pflegeversicherung von heute auf
morgen wegfallen sollen. Vielmehr verstecken sich in dem Bericht
strukturelle Veränderungen, die mittelfristig finanzielle
Verschlechterungen für Pflegehaushalte bedeuten, also eine Art Sparen durch
die Hintertür.
## Prävention statt direkte Hilfen
Laut des am Montag vorgelegten Berichts der Facharbeitsgruppen in der
Bund-Länder-AG soll der [3][Pflegegrad 1 nicht abgeschafft werden, wie
zwischenzeitlich berichtet worden war]. Der Entlastungsbetrag, also die
indirekte Geldleistung im Pflegegrad 1, werde vielmehr „hinsichtlich seiner
Versorgungswirkungen in Frage gestellt“, heißt es in dem Bericht. Die
Fach-AGs empfehlen den Minister:innen der Bund-Länder-AG, die für den
Entlastungsbetrag eingesetzten Mittel ganz oder teilweise für eine frühe
„fachpflegerische, präventionsorientierte Begleitung von Pflegebedürftigen
zu verwenden“.
Susanne Broth könnte sich also keine Hilfe für den Haushalt oder zum
Haarewaschen mehr leisten, bekäme aber mehr Beratung. Die Frage ist, ob der
Fokus auf mehr Prävention durch Beratung den Betroffenen und ihren
Angehörigen, die mit ihrer Gebrechlichkeit in einem beschwerlichen Alltag
zu kämpfen haben, wirklich hilft. Mit dem Entlastungsbetrag kann man bisher
nämlich auch die Hilfe von geschulten Nachbarn bezahlen, eine Flexibilität,
die ursprünglich mit Einführung der Pflegegrade im Jahre 2017 als
Fortschritt gepriesen worden war.
2017 wurde der [4][neue Pflegebedürftigkeitsbegriff] etabliert, statt der
zuvor geltenden drei Pflegestufen wurden damals fünf neue „Pflegegrade“
eingeführt. Auch kognitive Einschränkungen werden nunmehr berücksichtigt.
Bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen
werden Punkte vergeben für die fehlende Selbstständigkeit und je nach
Punktwert dann der Pflegegrad zuerkannt. Die Eintrittsschwelle für den
Pflegegrad 1 liegt niedriger als die Schwelle für die frühere Pflegestufe
1, was auch mitverantwortlich ist für die steigende Zahl der
„Pflegebedürftigen“. Doch genau dieser leichtere Zugang zur
Pflegeversicherung seit 2017 steht jetzt zur Debatte.
## Schwelle für Einstufungen höher
Die Fach-AGs in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe empfehlen laut dem Papier, zu
prüfen, „welche Folgen eine Rückführung der Schwellenwerte in den
Pflegegraden 1, 2 und 3“ auf die Verteilung der Pflegebedürftigen und damit
auf die „Leistungsausgaben“ hätte. Mit anderen Worten: Die Schwelle der
Einschränkungen, die man haben muss, um in einen Pflegegrad 2 oder 3 zu
kommen, wäre deutlich höher als heute, was den Pflegekassen erhebliche
Kosten sparen kann. Dabei soll ein „Bestandsschutz“ gelten.
Die neuen Pflegehaushalte würden bei einer niedrigeren Einstufung weniger
Geld erhalten als heute. So bekommt man im Pflegegrad 1 kein direktes
Pflegegeld, im Pflegegrad 2 dann aber 347 Euro, im Pflegegrad 3 dann 599
Euro monatlich, die man ausgeben kann, wofür man will.
Die Fach-AGs schlagen überdies in einer Variante vor, das Pflegegeld für
Neuantragssteller:innen für einen „bestimmten Zeitraum“ „zunächst nur
reduziert“ zu gewähren. Erst nach Ablauf einer Karenzzeit würde dann das
volle bisherige Pflegegeld gezahlt.
In etwa 3,1 Millionen Fällen übernehmen Angehörige die Hauptpflege und
erhalten Pflegegeld, so eine Erhebung der [5][Diakonie]. Drei Viertel der
Angehörigen erleben eine hohe emotionale, die Hälfte auch körperliche
Belastungen. Viele verzichten auf Arbeitsverdienst. Solchen Haushalten
künftig das Pflegegeld auf die eine oder andere Weise zu kürzen, führt zu
Verbitterung.
Allerdings ist es auch schwer, die Einnahmeseite für die Pflegekasse zu
erhöhen. Die Bund-Länder-AG schlägt vor, über die Einführung einer
verpflichtenden Pflegezusatzversicherung zu diskutieren, deren Beiträge
dann von den Beschäftigten alleine aufgebracht werden müssten. Die
Gewerkschaften protestieren. Über Umverteilung, etwa über einen
Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung, über
mehr Steuermittel für die Pflegekasse wird in der Bund-Länder-AG kaum
geredet. Dabei hatte ein [6][Gutachten des IGES-Instituts] 2024 diverse
Stellschrauben zur Einnahmesteigerung ausgemacht, wie etwa eine Erhöhung
der Beitragsbemessungsgrenzen für die Pflegeversicherung, die Erhebung von
Beiträgen auch auf Kapitaleinkünfte und anderes.
Sparen durch die Hintertür wird Folgen haben. Der Anteil der über
80-Jährigen steigt, auch noch in 30 Jahren, sagt die Statistik. Wenn es
hart kommt, nimmt die Verwahrlosung Hochaltriger zu. Angehörigenpflege
führt in die Armut und die Überforderung in den Familien zu dauerhafter
Aggression. Wer alleinstehend ist, pflegebedürftig und arm, hat die
Arschkarte. Da wollen wir doch nicht hin.
14 Oct 2025
## LINKS
[1] /Finanzloch-bei-der-Pflegeversicherung/!6098556
[2] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/b-l-a…
[3] /Pflegegrad-1-soll-abgeschafft-werden/!6114959
[4] https://www.medizinischerdienst.de/versicherte/pflegebegutachtung/
[5] https://www.diakonie.de/informieren/infothek/2025/oktober/umfrage-pflegende…
[6] https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2024/finanzieru…
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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