Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abschied von den USA: Da, wo ich nie hinwollte
> Zwischen Greyhound-Bus, Depression und Demokratieverfall: Zwei Jahre
> lebte unsere Autorin in den USA. Sie haderte und fand doch Gründe für
> Hoffnung.
Bild: Unterwegs mit dem Greyhound Bus durch ein weites Land
Wir fahren und fahren. Gerade hat es geregnet, die Luft ist so feucht und
warm wie in einem Gewächshaus. Um uns herum blauer Himmel und hohe, dichte
Bäume: Eichen, Zedern, Ahorn, Efeuranken. Ein von einem achtspurigen
Highway zerschnittenes Wäldermeer.
Welcome to North Carolina! Welcome to America!
Jetzt bin ich da, wo ich nie hinwollte. Noch dazu führerscheinlos in einer
Stadt, in der man überall mit dem Auto hinfahren muss. Ein Neuanfang für
mich: ein neues Abenteuer, neue Menschen, neue Wege. Im September 2023.
Ich betrachte die Banner am Straßenrand: „Overdose can happen to everyone.“
„Shackled by lust? Jesus sets you free!“ „It’s ok to Taco yourself.“
Wenige Minuten später sitzen mein Freund und ich in einem stickigen
winzigen Büro neben einer Tankstelle und füllen die Kaufunterlagen für
unseren Volvo, Baujahr 2007, aus. Ein Riesenhund glotzt mich aus den
Augenwinkeln an. Unser Autodealer Streak von „Streaks Auto Smart“
telefoniert mit der Polizei. Er spricht eine Höllenmischung aus
jamaikanischem Englisch und Südstaatendialekt. Ich verstehe vielleicht die
Hälfte, vielleicht weniger. Streak sieht wie ein harter Typ aus. Schwarz,
mit Megamuskeln und Tattoos am Oberarm. Er ist nicht nur Autodealer,
sondern auch „Bounty Hunter“ – Kopfgeldjäger. Das hat er uns schon bei d…
Probefahrt vergangene Woche erzählt. Streak spürt Menschen auf, die man
vorübergehend aus dem Gefängnis entlassen hat und die sich auf der Flucht
befinden, und wird dafür bezahlt.
Heute hat er eine gewisse Meredith eingefangen. Sie befindet sich in seiner
Wohnung und ein Freund passt auf, dass sie nicht ausbüxt, während er
unseren Autokauf abwickelt. Bald will er sie der Polizei übergeben, erzählt
er nach dem Telefonat. Ich schiele unauffällig auf ihre Polizeiakte, die
zwischen uns auf dem Tisch liegt. „Race“, Ethnie, „Schwarz“ steht da. S…
sitzt wegen Drogenhandels ein, entziffere ich, verheiratet und in meinem
Alter, Mitte dreißig.
„Darf ich mal bei einer deiner Jagden mitfahren und über dich schreiben?“,
frage ich ihn zum Abschied, als er uns den Autoschlüssel übergibt. „Wenn du
dich traust! Das kann gefährlich werden.“ „Ich ruf dich an!“ Plötzlich
scheint ihm die Idee zu gefallen. „Wir beide kommen mit der Geschichte groß
raus und machen richtig viel Kohle!“ Ich erkläre ihm, dass ich die Leute,
über die ich schreibe, nicht bezahle. Dann verliert er das Interesse. Ich
höre nie wieder von Streak. Manchmal denke ich immer noch an ihn und frage
mich, wie es weiterging für Meredith.
Einige Monate später wird eine Frau von hinten in unseren Volvo fahren und
einen Totalschaden verursachen. Unser zweiter Autodealer Omar wird ein
verurteilter Al-Qaida-Terrorist sein, der bis vor Kurzem 13 Jahre im
Gefängnis saß. Aber von all dem ahne ich im September noch nichts. Ich
lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und freue mich über unsere neu
gewonnene Freiheit.
## So ist Amerika
Man hat kaum Zeit, zu begreifen, was da gerade um einen herum passiert.
Zwei Jahre sind seit damals vergangen. Inzwischen habe ich die USA wieder
verlassen. Auf eine eigenartige Weise ist mir dieses Land ans Herz
gewachsen, wo sonst auf der Welt hätte ich schon so unverhofft einen
Kopfgeldjäger beim Autokauf angetroffen?
In meinem Freundeskreis liegt es im Trend, die USA als Klassenfeind erst
einmal scheiße zu finden. Was soll auch gut sein an Armut, an krassen
sozialen Unterschieden, Kriminalität, Drogen und einer Mittelschicht, die
sich selbstgefällig im Konsum suhlt? Aber so simpel ist es nicht. Wären die
USA und ihre Menschen ein Puzzle mit 300 Millionen Teilen, hätte ich
während meiner Zeit hier nur ein paar Randstücke in meinem Kopf
zusammengefügt.
Durham in North Carolina im Südosten der USA liegt genau im Zentrum
zwischen dem Appalachengebirge im Westen und den Sandinseln der Outer Banks
am Atlantischen Ozean im Osten. Die Stadt ist ein Ort ohne Meer und ohne
Berge, von dem außerhalb des Landes kaum einer eine Vorstellung hat. Mein
Freund ist schuld, dass ich hier bin. Die Eliteuniversität Duke bot ihm als
Wissenschaftler einen Zweijahresvertrag an. Natürlich ziehen wir dahin,
sagte ich, was sonst.
In den Wochen nach unserer Ankunft streiften er und ich zusammen über die
gigantischen Parkplätze, aßen unsere ersten Buritos und staunten über die
kübelgroßen Softdrinks, den riesigen Lucky-Strike-Turm, der an die
vergangene Blütezeit Durhams als Tabakstadt erinnern soll. Die Leute hier
lächelten alle breit und sagten „Have a good one!“, selbst dann, wenn sie
„Verpiss dich!“ meinten. Die Gegend ist bekannt als „research triangle“…
gehört zu den am schnellsten wachsenden Regionen der USA. Nicht nur wegen
der guten Universitäten und Techkonzerne, deren Mitarbeiter sich hier
ansiedeln, sondern auch weil Mittelklassefamilien sich andere Bundesstaaten
wie Florida oder New York immer weniger leisten können. Viele von ihnen
stammen aus Mexiko, Indien, China und anderen Ländern.
Durham ist eine demokratische Insel in einem mehrheitlich republikanischen
Bundesstaat.
„Trans Lives are Sacred“, (trans Leben sind heilig), hatte jemand an die
Wände der Backsteinhäuser gesprüht, an den Eingängen der Wohnhäuser hingen
Regenbogenfahnen und „Black Lives Matter“-Banner. Bei einer
Vorstellungsrunde in der Synagoge stellten sich alle mit ihren Pronomen vor
und das Yogastudio in unserem Viertel reflektierte auf der Webseite sein
„white privilege“. Durham war eine Hochburg der wokeness. Ich war
vorauseilend genervt und unterstellte dem Ganzen erst einmal sogenanntes
virtue signaling: Zurschaustellung moralischer Tugendhaftigkeit.
Blicke ich heute zurück, denke ich: Damals war die Welt in Ordnung. Man
hatte noch den Luxus, von Regenbogenfahnen genervt zu sein.
## Heile Welt auf dem Campus
Seit fast einem Jahr nun ist Donald Trump wieder an der Macht und Präsident
der Vereinigten Staaten. Die US-Demokratie war schon vor seinem Wahlsieg
brüchig. In den Monaten seit seinem Amtsantritt sieht die Welt jetzt in
Echtzeit zu, wie das Land zu einem autoritären Staat umgebaut wird.
Am heilsten fühlte unsere Welt sich damals auf dem Universitätscampus an.
Wir liebten es, über Dukes wunderschönen Campus zu spazieren, mit Teichen,
Rosengärten und Eichhörnchen, die über die gut gepflegten Rasenflächen
hüpften und an Keksbröseln knabberten, wie um zu demonstrieren: Nicht nur
die Menschen an diesem Ort, sondern selbst die Tiere stammen aus gutem
Hause.
Entworfen hat den Campus der Schwarze Architekt Julian Abele aus
Philadelphia. Für den Auftrag seiner Architekturfirma war Abele in den
1920er Jahren nach Durham gereist, durfte hier aber nie übernachten.
Während der Jim-Crow-Gesetze von den 1870er Jahren bis 1965 hatten die
Stadthotels eine strenge „white only“-Gesetzgebung. Jahrzehntelang lebten
Schwarze und Weiße Menschen in den Südstaaten getrennt. Sie arbeiteten
getrennt, sie aßen getrennt, spazierten in getrennten Parks und wurden in
getrennten Krankenhäusern behandelt.
Im Zentrum des Campus der Duke Universität erhebt sich eine opulent
verzierte neogotische Kapelle mit Spitzbögen, erbaut nach dem Vorbild von
Cambridge und Oxford. Drumherum irren Grüppchen Studierender mit hellblauen
Duke-Käppis, Duke-Shorts und Duke-Pullis herum, die es für sehr viel Geld
im Duke-Shop zu kaufen gibt, gleich neben Büchern über soziale
Ungleichheiten und poststrukturalistischen Werken zum Foucault’schen
Panoptikum.
## Es war wie verflucht
Mit mehr als 94.000 Dollar jährlichen Studiengebühren, inklusive Unterkunft
und Lebenshaltungskosten, gehört Duke zu den teuersten Universitäten der
USA und steht für Reichtum und Prestige. Richard Nixon, Tim Cook – Apples
CEO – und Stephen Miller, Trumps einflussreicher rechtsextremer Berater,
alle studierten sie hier. Milieustudie, sprach ich mir gut zu, wenn ich
mich in die Bibliothek setzte, meinen Iced Latte für acht Dollar trank und
die emsigen Studierenden beim Glotzen auf ihre Laptops beobachtete.
Nach ein paar Wochen Milieustudie streckte mich die Einsamkeit nieder.
Meine zarten Versuche, Freundschaften zu schließen, endeten immer wieder in
dem Versprechen, sich auf einen Kaffee zu sehen. Danach meldete sich nie
jemand. Mein Leben lang hatte ich Freundschaften auf der ganzen Welt
geschlossen, im buddhistischen Schweigekloster und im Covid-Lockdown. Nur
hier war es wie verflucht. Im ersten Jahr waren unsere einzigen Kontakte
der Mathematiker-Kollege meines Freundes aus Michigan und seine Freundin,
die auf einer Farm mit Eseln arbeitete. Wir waren uns in unserer ersten
Woche im Supermarkt Trader Joe’s über den Weg gelaufen und hingen seitdem
wie eine bucklige Familie jedes Wochenende zusammen ab. Die beiden hatten
auch niemanden außer uns und ihren Katzen und Hasen.
Die USA waren niemals als Gemeinschaft angelegt, zu der alle dazugehören
sollen, der Rückzug ins Individuelle ein klassisch amerikanisches Ideal.
Soziale Medien haben die Realität zusätzlich fragmentiert. Was früher in
Zeitungen und Fernsehen gemeinsam erlebt wurde, zerfällt heute in unzählige
personalisierte Feeds. Im Sommer 2023 veröffentlichte Hillary Clinton einen
Essay im Magazin Atlantic. Darin machte sie die Vereinsamung der
US-Amerikaner:innen und den Zusammenhang mit dem erstarkenden
Autoritarismus unter Trump zum Thema. Ohne diese soziale Isolation und
schwindende Gemeinschaftsstrukturen wäre ein Trump vermutlich niemals so
erfolgreich geworden. Die MAGA-Bewegung dient als eine Art Gemeinschaft
bietende Ersatzreligion. Leider wollte der MAGA-Zauber einfach nicht auf
mich wirken.
Nach einer Weile fühlte ich mich unfähig, mich von der Stelle zu bewegen.
Ich arbeitete kaum noch und konnte mich selbst nicht mehr ausstehen. Meine
im Bett und auf dem Sofa verbrachten Stunden wurden mehr, aus Wochen
Monate. Ich begann, mich halb ironisch, halb ernsthaft „Stay-In-Girlfriend“
zu nennen. Statt die USA zu erleben, erlas ich sie mir bei James Baldwin,
Octavia Butler und Chimamanda Ngozi Adichie. Kurz, Amerika entwickelte sich
nicht so, wie ich mir das Ganze erhofft hatte. Das Land war zum Kampfplatz
gegen mich selbst geworden. Je mehr ich versuchte, meine Depression
beiseite zu fegen, desto mehr holte sie mich ein.
Was mich vor mir selbst rettete, kann ich nicht mehr ganz genau sagen.
Wahrscheinlich Donald Trump. Die anstehende Präsidentschaftswahl zwang mich
zurück zu meinem Urinstinkt als Reporterin. Für eine Reportage beschloss
ich im Sommer 2024, die USA von Durham bis Los Angeles mit dem
Greyhound-Bus zu durchqueren: Über Atlanta, Memphis, Oklahoma, Texas und
New Mexico, 4.000 Kilometer und 62 Stunden Busfahrt. Die Reise sollte mir
helfen, die schwindelerregende Weite der USA besser zu begreifen. Kaum
jemand aus meinem Umfeld hat jemals einen Greyhound von innen gesehen. Wer
lange Busstrecken fährt, hat man mir gesagt, der hat entweder kein Geld für
einen Flug, keine Kreditkarte oder keine Arbeitserlaubnis.
## Die Menschen und ihre Geschichten
Am Bahnhof in Durham warteten wir zu dritt auf den Bus: ein Tätowierter mit
faltigem Gesicht, ein Business-Student aus Bangladesch und ich. Als der
Tätowierte kurz eine Runde drehte, raunte der Student: „Der Crackhead ist
gerade aus dem Gefängnis raus. Er wollte mit meinem Handy telefonieren, ich
hab’ nein gesagt.“ Auf der Bank neben uns saßen drei Busfahrerinnen der
städtischen Verkehrsgesellschaft, erzählten sich Witze und lachten. Die
Leute im Bus waren fast alle Schwarz oder Latino und schienen nur von Chips
und Süßigkeiten zu leben. Manchmal hielten wir stundenlang nicht an oder
nur kurz für einen Toilettengang. Ich mampfte den ganzen Tag meine von
zuhause mitgebrachten Snacks. Aus Furcht vor der Bustoilette hörte ich auf
zu trinken.
Am Busbahnhof in Memphis, Tennessee, fragte mich Trevor, ein blonder Typ um
die 40, nach Feuer. Er rauchte und wippte von einem Bein aufs andere, das
riesige Kreuz auf seiner Brust pendelte hin und her. „Du willst nach Los
Angeles? Ich hoffe, du hast genug Gras zum Rauchen dabei.“ Er sei ein
Veteran aus dem Irak-Krieg und unterwegs zu einer Familienfeier in
Arkansas. Er lebe auf einer Farm in South Carolina, zusammen mit einem
Kameraden aus dem Krieg. „Ich würde jederzeit wieder kämpfen“, sagte er �…
obwohl er die Irak-Intervention für „bullshit“ hält. „Ich habe eine kra…
posttraumatische Belastungsstörung. Aber für den Zusammenhalt, für die
Jungs, würde ich alles tun.“ Trevor riss sein T-Shirt hoch und zeigte mir
eine Narbe, die sich über seinen gesamten Oberkörper zog. Ein Sprengsatz
hatte ihn am Straßenrand getroffen, erzählte er.
In Amarillo, Texas stieg ein Mann zu, von dem ich sofort hoffte, dass er
sich nicht neben mich setzt. Aber dann sackte James auf den Sitz rechts von
mir. Er sei obdachlos und auf dem Weg nach Los Angeles. Er wollte einen
Neuanfang versuchen. Nach einer Pause an einer Tankstelle hielt er mir
strahlend eine Plastiktüte entgegen: „Für dich!“ In der Tüte waren Chips
und ein Pink-Lemon-Softdrink. „Ich bin obdachlos, nicht pleite!“ Ob sich
die Menschen da, wo ich herkomme, auch tätowieren lassen, fragte er. Ob wir
das gleiche Alphabet hätten. Warum ich nicht verheiratet sei.
Vor der Reise hatte ich befürchtet, kaum jemand würde mit mir reden wollen.
Aber die meisten Menschen im Bus erzählten gerne aus ihrem Leben. Ihre
Geschichten handelten von Kindern, zu denen der Kontakt abgebrochen ist.
Vom Wiedersehen mit ihnen, von Drogen, von Krankheit, von ihren Hoffnungen
und Wünschen. Je länger ich unterwegs war, desto weniger nahm ich die Armut
wahr, die mich noch am Anfang der Reise so erschüttert hatte. Im Bus gab es
keine Klassen, keine Berührungsängste. Solange wir auf diesen Polstern
saßen, waren wir alle gleich.
Nach meiner Reise bemerkte ich, wie etwas in mir sich gelöst hatte. Mein
Blick auf die Menschen hatte sich verändert, ich urteilte weniger über sie,
war weniger zynisch. Plötzlich war ich fürchterlich froh, im Süden der USA
zu leben und nicht in New York oder Philadelphia. Hier in North Carolina
trugen jeder Kieselstein und jeder Grashalm eine verschlüsselte Geschichte,
die sich ohne Vorwissen nicht erschließt: über die indigenen Stämme, die
Tabakindustrie, die britischen Kolonialherren, den zivilen Ungehorsam im
Kampf gegen die „Rassentrennung“.
1957 fand in Durham einer der ersten Sitzstreiks in den USA statt: Ein
Pastor und sieben Jugendliche, die „Royal Seven“, betraten eine Eisdiele
und setzten sich auf die Plätze von Weißen. Dafür nahm die Polizei sie
wegen Hausfriedensbruchs fest. In Zeiten der politischen Dunkelheit wie
jetzt geben mir solche Geschichten Halt und Hoffnung. Wenn Menschen sich
gegen Jahrhunderte lange Unterdrückung wehren konnten, können sie auch MAGA
überwinden. Dachte ich.
## Wie eine bestandene Probe
Vor der Präsidentschaftswahl hing wochenlang Spannung in der Luft, es war
kaum auszuhalten. Zuhause sprachen wir von nichts anderem. Mein Freund
lebte in seiner Universitätskapsel und glaubte, [1][Kamala Harris würde
Präsidentin werden]. Ich wettete auf Trump. Aus Atlanta, Georgia berichtete
ich über die Wahl und ging alleine auf eine MAGA-Party mit viel Glitzer und
rotblauen Kerzen mit Trumps Gesicht drauf. Auf der Toilette zogen Frauen
ihre mit Botox aufgeplusterten Lippen mit Lippenstift nach. Ich beobachtete
sie im Spiegel und ahnte, dass diese Nacht ein Wendepunkt ist. Nichts in
diesem Land machte den Eindruck, als befinde es sich im Aufbruch. Sondern
am Rand des Abgrunds. Wenn es stimmt, dass Entwicklungen aus den
Vereinigten Staaten mit ein wenig Zeitverzögerung zu uns nach Europa
kommen, kann man sich nur fürchten. [2][Am Morgen nach der Wahl wachte ich
auf und heulte.]
Aber das Leben kehrte nach der Wahl schnell zum alten Trott zurück. Wir
feierten Thanksgiving, Hanukkah, Weihnachten. Atmeten weiter, tranken
Kaffee, gingen ins Kino. Durham sah genauso aus wie vor der Wahl, die „All
Gender“-Toiletten in den Restaurants waren immer noch da.
[3][Demokratische Zersetzungsprozesse] schreiten erstaunlich beiläufig und
gleichzeitig sehr schnell voran. Erst als die neue Regierung die Kürzungen
von Forschungsgeldern bekanntgab und die [4][Abschieberazzien auch in North
Carolina] begannen, drehte sich der Wind. Paradoxerweise passierte in
dieser Zeit etwas Unerklärliches. Je weiter abwärts es mit Amerika ging,
desto mehr kroch das Land in mein Herz.
Ein Ort wie Durham braucht Zeit und Geduld. Ihm fehlt Glanz und Glamour,
nichts hier erinnert an die Coolness von New York oder L.A. Vielleicht ist
Durham gerade deshalb die amerikanischste aller Städte.
## Du bist nicht allein
Durham war ein Zufluchtsort für queere und trans Menschen, die vor den
Anfeindungen in ihren Familien und Heimatorten im Süden geflohen waren.
Wenn ich heute „Trans Lives are Sacred“ lese, blicke ich ganz anders darauf
als in meinen ersten Tagen: als Symbol für Solidarität: Du bist nicht
allein! Freiheiten, die in New York seit Jahrzehnten als selbstverständlich
gelten, müssen in den Südstaaten jeden Tag aufs Neue ausgefochten werden.
Setzt man sich in Durham ins Auto und fährt fünfzehn Minuten, befindet man
sich in kürzester Zeit im tiefsten transphoben MAGA-Dschungel.
Aber hier ist man stolz auf Pauli Murray, eine nicht-binäre
Bürgerrechtler:in und Freundin von Eleonore Roosevelt. Außerhalb
Durhams, wo sie aufwuchs, kennt Murray kaum jemand. Vielleicht wurde sie
von den Annalen der Geschichte verschluckt, weil sie ihrer Zeit zu weit
voraus war. Sie verweigerte schon 15 Jahre vor Rosa Parks auf einer
Greyhound-Busreise den ihr zugewiesenen Platz und setzte sich auf den Sitz
im weißen Bereich. Dafür steckte man sie ins Gefängnis. Später schloss sie
als erste afroamerikanische biologische Frau die Yale Law School ab und
wurde als erste Schwarze von der Episcopal Church in den USA heilig
gesprochen. Ihre Zitate sind über die ganze Stadt auf den Häuserwänden
aufgemalt. „Ein Mensch und eine Schreibmaschine ergeben eine
Protestbewegung.“
Seit dem Morgen nach den Präsidentschaftswahlen habe ich es nie mehr
bereut, in den USA zu leben. Der Einfluss, den man als einzelne Reporterin
einer Zeitung auf das Weltgeschehen hat, ist verschwindend gering. In einer
Zeit, in denen die Ordnung der Welt sich neu sortiert, können wir nur
Zeuginnen sein. Unsere eigene Ratlosigkeit ist niederschmetternd.
Plötzlich spürte ich eine unaufhaltsame Dringlichkeit, der Welt von diesem
Land zu erzählen, das mich Einsamkeit und Pancakes gelehrt hatte. Davon,
wie wunderschön es hier ist: die türkisfarbenen Keys in Florida, das wilde
Rauschen des Yuba-Flusses im Norden Kaliforniens, die spanischen Moosbäume
in den Alleen von Savannah, Georgia. Ich wollte, dass die Welt von der
Solidarität der Menschen hier erfährt, die alles dafür geben, um ihre
Freunde und Nachbarn vor den Abschiebungen der Einwanderungsbehörde zu
beschützen. Von der stillen Revolution der Rentner, die mit ihren
selbstgebastelten Plakaten an Autobahnbrücken stehen und vor dem Ende der
Demokratie warnen.
## Und jetzt?
Nach zwei Jahren Amerika fühlt sich ganz Europa wie ein Ferienort an. Ich
habe die USA verflucht und beständig gelitten, und bin zugleich froh über
diese Zeit. Wie eine Probe, die man against all odds auf wundersame Weise
bestanden hat und sich jetzt eine Medaille auf die Uniform hängen darf. Die
USA haben ihren Weg jetzt erst einmal eingeschlagen. Er ist dunkelschwarz
und beispiellos für die älteste Demokratie der Welt. Wir hoffen, dass
irgendwo am Ende eine Lichtrille durchsickert, aber so genau wissen wir es
nicht. Bis wir dieses Licht erblicken, auf was kommt es jetzt an?
Vielleicht liegt das Sinnreiche unserer Gegenwart im Kampf gegen die
Einsamkeit. Darin, Momente von Gemeinschaft und Loyalität im Alltäglichen
zu schaffen und Mensch zu bleiben, unsere eigene Gleichgültigkeit nicht
zuzulassen. Selbst dann, wenn es am schwersten ist, selbst dann, wenn wir
erschöpft sind. Es ist die einzige zuverlässige Strategie, verbrecherischen
Politiker:innen und Machtstrukturen entgegenzutreten.
18 Oct 2025
## LINKS
[1] /Wie-er-die-US-Wahl-gewann/!6048033
[2] /Faschismus-in-den-USA/!6045324
[3] /USA-unter-Trump/!6059585
[4] /Razzien-und-Entsetzen-in-den-USA/!6117850
## AUTOREN
Marina Klimchuk
## TAGS
wochentaz
Schwerpunkt USA unter Trump
Donald Trump
Migration
Repression
Journalismus
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
Reden wir darüber
Schwerpunkt USA unter Trump
Transfeindlichkeit
Schwerpunkt USA unter Trump
Los Angeles
## ARTIKEL ZUM THEMA
„No Kings“-Proteste in den USA: Millionen gehen gegen Trump auf die Straße
Bei landesweiten Massenprotesten gegen die Trump-Regierung gehen laut
Veranstaltern rund sieben Millionen Menschen auf die Straße.
US-Trans-Aktivist:in über neue Gesetze: „Wegen dieses Urteils werden Mensche…
US-Bundesstaaten dürfen laut Gerichtsurteil Geschlechtsangleichung bei
Jugendlichen verbieten. Für einen Elternteil eines trans Sohnes eine
Katastrophe.
Trumps Kalkül in Los Angeles: Stadt der Engel
LA demonstriert weiter gegen den US-Präsidenten. Mittendrin: eine
Rabbinerin, ein ehemaliger Polizist und eine Migrantin aus Nicaragua.
Nach den Waldbränden: Überleben in L.A.
Die Brände in Los Angeles treffen vor allem die Ärmeren. So wie Linda Zeng.
Die Geschichte einer Frau, die jetzt auf sich allein gestellt ist.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.