| # taz.de -- Abschied von den USA: Da, wo ich nie hinwollte | |
| > Zwischen Greyhound-Bus, Depression und Demokratieverfall: Zwei Jahre | |
| > lebte unsere Autorin in den USA. Sie haderte und fand doch Gründe für | |
| > Hoffnung. | |
| Bild: Unterwegs mit dem Greyhound Bus durch ein weites Land | |
| Wir fahren und fahren. Gerade hat es geregnet, die Luft ist so feucht und | |
| warm wie in einem Gewächshaus. Um uns herum blauer Himmel und hohe, dichte | |
| Bäume: Eichen, Zedern, Ahorn, Efeuranken. Ein von einem achtspurigen | |
| Highway zerschnittenes Wäldermeer. | |
| Welcome to North Carolina! Welcome to America! | |
| Jetzt bin ich da, wo ich nie hinwollte. Noch dazu führerscheinlos in einer | |
| Stadt, in der man überall mit dem Auto hinfahren muss. Ein Neuanfang für | |
| mich: ein neues Abenteuer, neue Menschen, neue Wege. Im September 2023. | |
| Ich betrachte die Banner am Straßenrand: „Overdose can happen to everyone.“ | |
| „Shackled by lust? Jesus sets you free!“ „It’s ok to Taco yourself.“ | |
| Wenige Minuten später sitzen mein Freund und ich in einem stickigen | |
| winzigen Büro neben einer Tankstelle und füllen die Kaufunterlagen für | |
| unseren Volvo, Baujahr 2007, aus. Ein Riesenhund glotzt mich aus den | |
| Augenwinkeln an. Unser Autodealer Streak von „Streaks Auto Smart“ | |
| telefoniert mit der Polizei. Er spricht eine Höllenmischung aus | |
| jamaikanischem Englisch und Südstaatendialekt. Ich verstehe vielleicht die | |
| Hälfte, vielleicht weniger. Streak sieht wie ein harter Typ aus. Schwarz, | |
| mit Megamuskeln und Tattoos am Oberarm. Er ist nicht nur Autodealer, | |
| sondern auch „Bounty Hunter“ – Kopfgeldjäger. Das hat er uns schon bei d… | |
| Probefahrt vergangene Woche erzählt. Streak spürt Menschen auf, die man | |
| vorübergehend aus dem Gefängnis entlassen hat und die sich auf der Flucht | |
| befinden, und wird dafür bezahlt. | |
| Heute hat er eine gewisse Meredith eingefangen. Sie befindet sich in seiner | |
| Wohnung und ein Freund passt auf, dass sie nicht ausbüxt, während er | |
| unseren Autokauf abwickelt. Bald will er sie der Polizei übergeben, erzählt | |
| er nach dem Telefonat. Ich schiele unauffällig auf ihre Polizeiakte, die | |
| zwischen uns auf dem Tisch liegt. „Race“, Ethnie, „Schwarz“ steht da. S… | |
| sitzt wegen Drogenhandels ein, entziffere ich, verheiratet und in meinem | |
| Alter, Mitte dreißig. | |
| „Darf ich mal bei einer deiner Jagden mitfahren und über dich schreiben?“, | |
| frage ich ihn zum Abschied, als er uns den Autoschlüssel übergibt. „Wenn du | |
| dich traust! Das kann gefährlich werden.“ „Ich ruf dich an!“ Plötzlich | |
| scheint ihm die Idee zu gefallen. „Wir beide kommen mit der Geschichte groß | |
| raus und machen richtig viel Kohle!“ Ich erkläre ihm, dass ich die Leute, | |
| über die ich schreibe, nicht bezahle. Dann verliert er das Interesse. Ich | |
| höre nie wieder von Streak. Manchmal denke ich immer noch an ihn und frage | |
| mich, wie es weiterging für Meredith. | |
| Einige Monate später wird eine Frau von hinten in unseren Volvo fahren und | |
| einen Totalschaden verursachen. Unser zweiter Autodealer Omar wird ein | |
| verurteilter Al-Qaida-Terrorist sein, der bis vor Kurzem 13 Jahre im | |
| Gefängnis saß. Aber von all dem ahne ich im September noch nichts. Ich | |
| lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und freue mich über unsere neu | |
| gewonnene Freiheit. | |
| ## So ist Amerika | |
| Man hat kaum Zeit, zu begreifen, was da gerade um einen herum passiert. | |
| Zwei Jahre sind seit damals vergangen. Inzwischen habe ich die USA wieder | |
| verlassen. Auf eine eigenartige Weise ist mir dieses Land ans Herz | |
| gewachsen, wo sonst auf der Welt hätte ich schon so unverhofft einen | |
| Kopfgeldjäger beim Autokauf angetroffen? | |
| In meinem Freundeskreis liegt es im Trend, die USA als Klassenfeind erst | |
| einmal scheiße zu finden. Was soll auch gut sein an Armut, an krassen | |
| sozialen Unterschieden, Kriminalität, Drogen und einer Mittelschicht, die | |
| sich selbstgefällig im Konsum suhlt? Aber so simpel ist es nicht. Wären die | |
| USA und ihre Menschen ein Puzzle mit 300 Millionen Teilen, hätte ich | |
| während meiner Zeit hier nur ein paar Randstücke in meinem Kopf | |
| zusammengefügt. | |
| Durham in North Carolina im Südosten der USA liegt genau im Zentrum | |
| zwischen dem Appalachengebirge im Westen und den Sandinseln der Outer Banks | |
| am Atlantischen Ozean im Osten. Die Stadt ist ein Ort ohne Meer und ohne | |
| Berge, von dem außerhalb des Landes kaum einer eine Vorstellung hat. Mein | |
| Freund ist schuld, dass ich hier bin. Die Eliteuniversität Duke bot ihm als | |
| Wissenschaftler einen Zweijahresvertrag an. Natürlich ziehen wir dahin, | |
| sagte ich, was sonst. | |
| In den Wochen nach unserer Ankunft streiften er und ich zusammen über die | |
| gigantischen Parkplätze, aßen unsere ersten Buritos und staunten über die | |
| kübelgroßen Softdrinks, den riesigen Lucky-Strike-Turm, der an die | |
| vergangene Blütezeit Durhams als Tabakstadt erinnern soll. Die Leute hier | |
| lächelten alle breit und sagten „Have a good one!“, selbst dann, wenn sie | |
| „Verpiss dich!“ meinten. Die Gegend ist bekannt als „research triangle“… | |
| gehört zu den am schnellsten wachsenden Regionen der USA. Nicht nur wegen | |
| der guten Universitäten und Techkonzerne, deren Mitarbeiter sich hier | |
| ansiedeln, sondern auch weil Mittelklassefamilien sich andere Bundesstaaten | |
| wie Florida oder New York immer weniger leisten können. Viele von ihnen | |
| stammen aus Mexiko, Indien, China und anderen Ländern. | |
| Durham ist eine demokratische Insel in einem mehrheitlich republikanischen | |
| Bundesstaat. | |
| „Trans Lives are Sacred“, (trans Leben sind heilig), hatte jemand an die | |
| Wände der Backsteinhäuser gesprüht, an den Eingängen der Wohnhäuser hingen | |
| Regenbogenfahnen und „Black Lives Matter“-Banner. Bei einer | |
| Vorstellungsrunde in der Synagoge stellten sich alle mit ihren Pronomen vor | |
| und das Yogastudio in unserem Viertel reflektierte auf der Webseite sein | |
| „white privilege“. Durham war eine Hochburg der wokeness. Ich war | |
| vorauseilend genervt und unterstellte dem Ganzen erst einmal sogenanntes | |
| virtue signaling: Zurschaustellung moralischer Tugendhaftigkeit. | |
| Blicke ich heute zurück, denke ich: Damals war die Welt in Ordnung. Man | |
| hatte noch den Luxus, von Regenbogenfahnen genervt zu sein. | |
| ## Heile Welt auf dem Campus | |
| Seit fast einem Jahr nun ist Donald Trump wieder an der Macht und Präsident | |
| der Vereinigten Staaten. Die US-Demokratie war schon vor seinem Wahlsieg | |
| brüchig. In den Monaten seit seinem Amtsantritt sieht die Welt jetzt in | |
| Echtzeit zu, wie das Land zu einem autoritären Staat umgebaut wird. | |
| Am heilsten fühlte unsere Welt sich damals auf dem Universitätscampus an. | |
| Wir liebten es, über Dukes wunderschönen Campus zu spazieren, mit Teichen, | |
| Rosengärten und Eichhörnchen, die über die gut gepflegten Rasenflächen | |
| hüpften und an Keksbröseln knabberten, wie um zu demonstrieren: Nicht nur | |
| die Menschen an diesem Ort, sondern selbst die Tiere stammen aus gutem | |
| Hause. | |
| Entworfen hat den Campus der Schwarze Architekt Julian Abele aus | |
| Philadelphia. Für den Auftrag seiner Architekturfirma war Abele in den | |
| 1920er Jahren nach Durham gereist, durfte hier aber nie übernachten. | |
| Während der Jim-Crow-Gesetze von den 1870er Jahren bis 1965 hatten die | |
| Stadthotels eine strenge „white only“-Gesetzgebung. Jahrzehntelang lebten | |
| Schwarze und Weiße Menschen in den Südstaaten getrennt. Sie arbeiteten | |
| getrennt, sie aßen getrennt, spazierten in getrennten Parks und wurden in | |
| getrennten Krankenhäusern behandelt. | |
| Im Zentrum des Campus der Duke Universität erhebt sich eine opulent | |
| verzierte neogotische Kapelle mit Spitzbögen, erbaut nach dem Vorbild von | |
| Cambridge und Oxford. Drumherum irren Grüppchen Studierender mit hellblauen | |
| Duke-Käppis, Duke-Shorts und Duke-Pullis herum, die es für sehr viel Geld | |
| im Duke-Shop zu kaufen gibt, gleich neben Büchern über soziale | |
| Ungleichheiten und poststrukturalistischen Werken zum Foucault’schen | |
| Panoptikum. | |
| ## Es war wie verflucht | |
| Mit mehr als 94.000 Dollar jährlichen Studiengebühren, inklusive Unterkunft | |
| und Lebenshaltungskosten, gehört Duke zu den teuersten Universitäten der | |
| USA und steht für Reichtum und Prestige. Richard Nixon, Tim Cook – Apples | |
| CEO – und Stephen Miller, Trumps einflussreicher rechtsextremer Berater, | |
| alle studierten sie hier. Milieustudie, sprach ich mir gut zu, wenn ich | |
| mich in die Bibliothek setzte, meinen Iced Latte für acht Dollar trank und | |
| die emsigen Studierenden beim Glotzen auf ihre Laptops beobachtete. | |
| Nach ein paar Wochen Milieustudie streckte mich die Einsamkeit nieder. | |
| Meine zarten Versuche, Freundschaften zu schließen, endeten immer wieder in | |
| dem Versprechen, sich auf einen Kaffee zu sehen. Danach meldete sich nie | |
| jemand. Mein Leben lang hatte ich Freundschaften auf der ganzen Welt | |
| geschlossen, im buddhistischen Schweigekloster und im Covid-Lockdown. Nur | |
| hier war es wie verflucht. Im ersten Jahr waren unsere einzigen Kontakte | |
| der Mathematiker-Kollege meines Freundes aus Michigan und seine Freundin, | |
| die auf einer Farm mit Eseln arbeitete. Wir waren uns in unserer ersten | |
| Woche im Supermarkt Trader Joe’s über den Weg gelaufen und hingen seitdem | |
| wie eine bucklige Familie jedes Wochenende zusammen ab. Die beiden hatten | |
| auch niemanden außer uns und ihren Katzen und Hasen. | |
| Die USA waren niemals als Gemeinschaft angelegt, zu der alle dazugehören | |
| sollen, der Rückzug ins Individuelle ein klassisch amerikanisches Ideal. | |
| Soziale Medien haben die Realität zusätzlich fragmentiert. Was früher in | |
| Zeitungen und Fernsehen gemeinsam erlebt wurde, zerfällt heute in unzählige | |
| personalisierte Feeds. Im Sommer 2023 veröffentlichte Hillary Clinton einen | |
| Essay im Magazin Atlantic. Darin machte sie die Vereinsamung der | |
| US-Amerikaner:innen und den Zusammenhang mit dem erstarkenden | |
| Autoritarismus unter Trump zum Thema. Ohne diese soziale Isolation und | |
| schwindende Gemeinschaftsstrukturen wäre ein Trump vermutlich niemals so | |
| erfolgreich geworden. Die MAGA-Bewegung dient als eine Art Gemeinschaft | |
| bietende Ersatzreligion. Leider wollte der MAGA-Zauber einfach nicht auf | |
| mich wirken. | |
| Nach einer Weile fühlte ich mich unfähig, mich von der Stelle zu bewegen. | |
| Ich arbeitete kaum noch und konnte mich selbst nicht mehr ausstehen. Meine | |
| im Bett und auf dem Sofa verbrachten Stunden wurden mehr, aus Wochen | |
| Monate. Ich begann, mich halb ironisch, halb ernsthaft „Stay-In-Girlfriend“ | |
| zu nennen. Statt die USA zu erleben, erlas ich sie mir bei James Baldwin, | |
| Octavia Butler und Chimamanda Ngozi Adichie. Kurz, Amerika entwickelte sich | |
| nicht so, wie ich mir das Ganze erhofft hatte. Das Land war zum Kampfplatz | |
| gegen mich selbst geworden. Je mehr ich versuchte, meine Depression | |
| beiseite zu fegen, desto mehr holte sie mich ein. | |
| Was mich vor mir selbst rettete, kann ich nicht mehr ganz genau sagen. | |
| Wahrscheinlich Donald Trump. Die anstehende Präsidentschaftswahl zwang mich | |
| zurück zu meinem Urinstinkt als Reporterin. Für eine Reportage beschloss | |
| ich im Sommer 2024, die USA von Durham bis Los Angeles mit dem | |
| Greyhound-Bus zu durchqueren: Über Atlanta, Memphis, Oklahoma, Texas und | |
| New Mexico, 4.000 Kilometer und 62 Stunden Busfahrt. Die Reise sollte mir | |
| helfen, die schwindelerregende Weite der USA besser zu begreifen. Kaum | |
| jemand aus meinem Umfeld hat jemals einen Greyhound von innen gesehen. Wer | |
| lange Busstrecken fährt, hat man mir gesagt, der hat entweder kein Geld für | |
| einen Flug, keine Kreditkarte oder keine Arbeitserlaubnis. | |
| ## Die Menschen und ihre Geschichten | |
| Am Bahnhof in Durham warteten wir zu dritt auf den Bus: ein Tätowierter mit | |
| faltigem Gesicht, ein Business-Student aus Bangladesch und ich. Als der | |
| Tätowierte kurz eine Runde drehte, raunte der Student: „Der Crackhead ist | |
| gerade aus dem Gefängnis raus. Er wollte mit meinem Handy telefonieren, ich | |
| hab’ nein gesagt.“ Auf der Bank neben uns saßen drei Busfahrerinnen der | |
| städtischen Verkehrsgesellschaft, erzählten sich Witze und lachten. Die | |
| Leute im Bus waren fast alle Schwarz oder Latino und schienen nur von Chips | |
| und Süßigkeiten zu leben. Manchmal hielten wir stundenlang nicht an oder | |
| nur kurz für einen Toilettengang. Ich mampfte den ganzen Tag meine von | |
| zuhause mitgebrachten Snacks. Aus Furcht vor der Bustoilette hörte ich auf | |
| zu trinken. | |
| Am Busbahnhof in Memphis, Tennessee, fragte mich Trevor, ein blonder Typ um | |
| die 40, nach Feuer. Er rauchte und wippte von einem Bein aufs andere, das | |
| riesige Kreuz auf seiner Brust pendelte hin und her. „Du willst nach Los | |
| Angeles? Ich hoffe, du hast genug Gras zum Rauchen dabei.“ Er sei ein | |
| Veteran aus dem Irak-Krieg und unterwegs zu einer Familienfeier in | |
| Arkansas. Er lebe auf einer Farm in South Carolina, zusammen mit einem | |
| Kameraden aus dem Krieg. „Ich würde jederzeit wieder kämpfen“, sagte er �… | |
| obwohl er die Irak-Intervention für „bullshit“ hält. „Ich habe eine kra… | |
| posttraumatische Belastungsstörung. Aber für den Zusammenhalt, für die | |
| Jungs, würde ich alles tun.“ Trevor riss sein T-Shirt hoch und zeigte mir | |
| eine Narbe, die sich über seinen gesamten Oberkörper zog. Ein Sprengsatz | |
| hatte ihn am Straßenrand getroffen, erzählte er. | |
| In Amarillo, Texas stieg ein Mann zu, von dem ich sofort hoffte, dass er | |
| sich nicht neben mich setzt. Aber dann sackte James auf den Sitz rechts von | |
| mir. Er sei obdachlos und auf dem Weg nach Los Angeles. Er wollte einen | |
| Neuanfang versuchen. Nach einer Pause an einer Tankstelle hielt er mir | |
| strahlend eine Plastiktüte entgegen: „Für dich!“ In der Tüte waren Chips | |
| und ein Pink-Lemon-Softdrink. „Ich bin obdachlos, nicht pleite!“ Ob sich | |
| die Menschen da, wo ich herkomme, auch tätowieren lassen, fragte er. Ob wir | |
| das gleiche Alphabet hätten. Warum ich nicht verheiratet sei. | |
| Vor der Reise hatte ich befürchtet, kaum jemand würde mit mir reden wollen. | |
| Aber die meisten Menschen im Bus erzählten gerne aus ihrem Leben. Ihre | |
| Geschichten handelten von Kindern, zu denen der Kontakt abgebrochen ist. | |
| Vom Wiedersehen mit ihnen, von Drogen, von Krankheit, von ihren Hoffnungen | |
| und Wünschen. Je länger ich unterwegs war, desto weniger nahm ich die Armut | |
| wahr, die mich noch am Anfang der Reise so erschüttert hatte. Im Bus gab es | |
| keine Klassen, keine Berührungsängste. Solange wir auf diesen Polstern | |
| saßen, waren wir alle gleich. | |
| Nach meiner Reise bemerkte ich, wie etwas in mir sich gelöst hatte. Mein | |
| Blick auf die Menschen hatte sich verändert, ich urteilte weniger über sie, | |
| war weniger zynisch. Plötzlich war ich fürchterlich froh, im Süden der USA | |
| zu leben und nicht in New York oder Philadelphia. Hier in North Carolina | |
| trugen jeder Kieselstein und jeder Grashalm eine verschlüsselte Geschichte, | |
| die sich ohne Vorwissen nicht erschließt: über die indigenen Stämme, die | |
| Tabakindustrie, die britischen Kolonialherren, den zivilen Ungehorsam im | |
| Kampf gegen die „Rassentrennung“. | |
| 1957 fand in Durham einer der ersten Sitzstreiks in den USA statt: Ein | |
| Pastor und sieben Jugendliche, die „Royal Seven“, betraten eine Eisdiele | |
| und setzten sich auf die Plätze von Weißen. Dafür nahm die Polizei sie | |
| wegen Hausfriedensbruchs fest. In Zeiten der politischen Dunkelheit wie | |
| jetzt geben mir solche Geschichten Halt und Hoffnung. Wenn Menschen sich | |
| gegen Jahrhunderte lange Unterdrückung wehren konnten, können sie auch MAGA | |
| überwinden. Dachte ich. | |
| ## Wie eine bestandene Probe | |
| Vor der Präsidentschaftswahl hing wochenlang Spannung in der Luft, es war | |
| kaum auszuhalten. Zuhause sprachen wir von nichts anderem. Mein Freund | |
| lebte in seiner Universitätskapsel und glaubte, [1][Kamala Harris würde | |
| Präsidentin werden]. Ich wettete auf Trump. Aus Atlanta, Georgia berichtete | |
| ich über die Wahl und ging alleine auf eine MAGA-Party mit viel Glitzer und | |
| rotblauen Kerzen mit Trumps Gesicht drauf. Auf der Toilette zogen Frauen | |
| ihre mit Botox aufgeplusterten Lippen mit Lippenstift nach. Ich beobachtete | |
| sie im Spiegel und ahnte, dass diese Nacht ein Wendepunkt ist. Nichts in | |
| diesem Land machte den Eindruck, als befinde es sich im Aufbruch. Sondern | |
| am Rand des Abgrunds. Wenn es stimmt, dass Entwicklungen aus den | |
| Vereinigten Staaten mit ein wenig Zeitverzögerung zu uns nach Europa | |
| kommen, kann man sich nur fürchten. [2][Am Morgen nach der Wahl wachte ich | |
| auf und heulte.] | |
| Aber das Leben kehrte nach der Wahl schnell zum alten Trott zurück. Wir | |
| feierten Thanksgiving, Hanukkah, Weihnachten. Atmeten weiter, tranken | |
| Kaffee, gingen ins Kino. Durham sah genauso aus wie vor der Wahl, die „All | |
| Gender“-Toiletten in den Restaurants waren immer noch da. | |
| [3][Demokratische Zersetzungsprozesse] schreiten erstaunlich beiläufig und | |
| gleichzeitig sehr schnell voran. Erst als die neue Regierung die Kürzungen | |
| von Forschungsgeldern bekanntgab und die [4][Abschieberazzien auch in North | |
| Carolina] begannen, drehte sich der Wind. Paradoxerweise passierte in | |
| dieser Zeit etwas Unerklärliches. Je weiter abwärts es mit Amerika ging, | |
| desto mehr kroch das Land in mein Herz. | |
| Ein Ort wie Durham braucht Zeit und Geduld. Ihm fehlt Glanz und Glamour, | |
| nichts hier erinnert an die Coolness von New York oder L.A. Vielleicht ist | |
| Durham gerade deshalb die amerikanischste aller Städte. | |
| ## Du bist nicht allein | |
| Durham war ein Zufluchtsort für queere und trans Menschen, die vor den | |
| Anfeindungen in ihren Familien und Heimatorten im Süden geflohen waren. | |
| Wenn ich heute „Trans Lives are Sacred“ lese, blicke ich ganz anders darauf | |
| als in meinen ersten Tagen: als Symbol für Solidarität: Du bist nicht | |
| allein! Freiheiten, die in New York seit Jahrzehnten als selbstverständlich | |
| gelten, müssen in den Südstaaten jeden Tag aufs Neue ausgefochten werden. | |
| Setzt man sich in Durham ins Auto und fährt fünfzehn Minuten, befindet man | |
| sich in kürzester Zeit im tiefsten transphoben MAGA-Dschungel. | |
| Aber hier ist man stolz auf Pauli Murray, eine nicht-binäre | |
| Bürgerrechtler:in und Freundin von Eleonore Roosevelt. Außerhalb | |
| Durhams, wo sie aufwuchs, kennt Murray kaum jemand. Vielleicht wurde sie | |
| von den Annalen der Geschichte verschluckt, weil sie ihrer Zeit zu weit | |
| voraus war. Sie verweigerte schon 15 Jahre vor Rosa Parks auf einer | |
| Greyhound-Busreise den ihr zugewiesenen Platz und setzte sich auf den Sitz | |
| im weißen Bereich. Dafür steckte man sie ins Gefängnis. Später schloss sie | |
| als erste afroamerikanische biologische Frau die Yale Law School ab und | |
| wurde als erste Schwarze von der Episcopal Church in den USA heilig | |
| gesprochen. Ihre Zitate sind über die ganze Stadt auf den Häuserwänden | |
| aufgemalt. „Ein Mensch und eine Schreibmaschine ergeben eine | |
| Protestbewegung.“ | |
| Seit dem Morgen nach den Präsidentschaftswahlen habe ich es nie mehr | |
| bereut, in den USA zu leben. Der Einfluss, den man als einzelne Reporterin | |
| einer Zeitung auf das Weltgeschehen hat, ist verschwindend gering. In einer | |
| Zeit, in denen die Ordnung der Welt sich neu sortiert, können wir nur | |
| Zeuginnen sein. Unsere eigene Ratlosigkeit ist niederschmetternd. | |
| Plötzlich spürte ich eine unaufhaltsame Dringlichkeit, der Welt von diesem | |
| Land zu erzählen, das mich Einsamkeit und Pancakes gelehrt hatte. Davon, | |
| wie wunderschön es hier ist: die türkisfarbenen Keys in Florida, das wilde | |
| Rauschen des Yuba-Flusses im Norden Kaliforniens, die spanischen Moosbäume | |
| in den Alleen von Savannah, Georgia. Ich wollte, dass die Welt von der | |
| Solidarität der Menschen hier erfährt, die alles dafür geben, um ihre | |
| Freunde und Nachbarn vor den Abschiebungen der Einwanderungsbehörde zu | |
| beschützen. Von der stillen Revolution der Rentner, die mit ihren | |
| selbstgebastelten Plakaten an Autobahnbrücken stehen und vor dem Ende der | |
| Demokratie warnen. | |
| ## Und jetzt? | |
| Nach zwei Jahren Amerika fühlt sich ganz Europa wie ein Ferienort an. Ich | |
| habe die USA verflucht und beständig gelitten, und bin zugleich froh über | |
| diese Zeit. Wie eine Probe, die man against all odds auf wundersame Weise | |
| bestanden hat und sich jetzt eine Medaille auf die Uniform hängen darf. Die | |
| USA haben ihren Weg jetzt erst einmal eingeschlagen. Er ist dunkelschwarz | |
| und beispiellos für die älteste Demokratie der Welt. Wir hoffen, dass | |
| irgendwo am Ende eine Lichtrille durchsickert, aber so genau wissen wir es | |
| nicht. Bis wir dieses Licht erblicken, auf was kommt es jetzt an? | |
| Vielleicht liegt das Sinnreiche unserer Gegenwart im Kampf gegen die | |
| Einsamkeit. Darin, Momente von Gemeinschaft und Loyalität im Alltäglichen | |
| zu schaffen und Mensch zu bleiben, unsere eigene Gleichgültigkeit nicht | |
| zuzulassen. Selbst dann, wenn es am schwersten ist, selbst dann, wenn wir | |
| erschöpft sind. Es ist die einzige zuverlässige Strategie, verbrecherischen | |
| Politiker:innen und Machtstrukturen entgegenzutreten. | |
| 18 Oct 2025 | |
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