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# taz.de -- Sexualstrafrecht im Jurastudium: Wenn das Studium die Realität aus…
> Die Zahlen von Gewalt- und Sexualstraftaten gegen Frauen steigen seit
> Jahren an. Dennoch wird Sexualstrafrecht im Jurastudium praktisch nicht
> gelehrt.
Bild: Sexualstrafrecht ist im Jurastudium in Deutschland kein Pflichtbestandteil
Köln taz | Die weißen Sticker mit der Aufschrift „Gewalt ist keine Liebe“
leuchten hell auf dem Holztisch in der Spätsommersonne. Eine junge Frau
holt aus einem Jutebeutel Gummibärchen, Anti-Stress-Würfel und
Ammoniakampullen und legt sie neben die Aufkleber und eine Wasserkaraffe.
„Die brauchen wir manchmal, wenn die Leute wegen etwas sehr Belastendem
herkommen“, sagt Lilian van Rey.
An diesem Montag, um 17 Uhr, findet im dritten Stock der Alten Feuerwache,
einem soziokulturellen Zentrum in Köln, die offene Sprechstunde der
Feminist Law Clinic statt. Diese bietet kostenlose Rechtsberatung an und
richtet sich überwiegend an Frauen und queere Menschen – und ist damit die
erste in Deutschland.
Lilian van Rey, die heute die offene Sprechstunde leitet, ist Jurastudentin
und hat die ehrenamtliche Organisation vor zwei Jahren in Köln mit ihren
zwei Kommilitoninnen und Mitbewohnerinnen Karla Steeb und Lilith Rein
gegründet. Der Grund: Als Freundinnen sie nach sexuellen Übergriffen nach
rechtlichem Rat fragten, wussten sie trotz fortgeschrittenem Studium keine
Antwort – denn Sexualstrafrecht ist im Jurastudium in Deutschland kein
Pflichtbestandteil.
Nur an sehr wenigen Unis gibt es wählbare Vorlesungen zum Thema, als nicht
staatsexamensrelevante Inhalte in der sogenannten Schwerpunktausbildung.
Auch Fälle zu Familienrecht und Partnerschaftsgewalt werden nur am Rande
gestreift. [1][Ein Zustand, der der Realität in Deutschland nicht gerecht
wird: 2024 gab es allein 128.000 angezeigte Sexualstraftaten], [2][265.942
Menschen waren von häuslicher Gewalt betroffen], bei beiden Zahlen ist die
Dunkelziffer vermutlich hoch.
„Rein zahlenmäßig ist es wahrscheinlicher, dass wir später im Job mit
Sexualdelikten als mit Mordfällen zu tun haben, die im Studium sehr
ausführlich behandelt werden“, sagt Karla Steeb, eine der Gründerinnen der
Feminist Law Clinic.
## Tabu und Angst vor Retraumatisierung
Aber warum spielen diese Themen quasi keine Rolle im Jurastudium? Mohamad
El-Ghazi ist Juraprofessor an der Universität Trier und gehört zu den
wenigen Wissenschaftler:innen in Deutschland, die zu Sexualstrafrecht
und Partnerschaftsgewalt forschen und lehren. Er macht verschiedene Gründe
aus: Zum einen könne es in den Vorlesungen und Seminaren sehr intim werden,
wenn beispielsweise im Detail definiert werden muss, was genau eine
sexuelle Handlung ist.
Das kann Karla Steeb bestätigen. Als bei ihr in einer Vorlesung die
verschiedenen Mordmerkmale durchgenommen wurden und sie zum Merkmal
„Befriedigung des Geschlechtstriebs“ kamen, lachte ihr Professor etwas
beschämt – und meinte, das würden sie jetzt nicht behandeln. „Es ist doch
absurd, dass so ein relevantes Thema in der Praxis im Studium noch als
Tabuthema gehandelt wird“ kritisiert Steeb.
Vor allem aber, sagt Juraprofessor Mohamad El-Ghazi, stoße er immer wieder
auf die Befürchtung, Studierende, die selbst sexuelle Gewalt oder andere
Übergriffe erleben mussten, könnten in den Veranstaltungen retraumatisiert
werden. El-Ghazi kann das zwar grundsätzlich nachvollziehen. Aber es
überwögen doch die Nachteile, wenn nicht gelehrt werde.
„Es werden Leute ausgebildet, Richterinnen, Staatsanwälte, und in die
Praxis geschickt, die, sowohl in juristischer Hinsicht als auch in
psychologischer und soziologischer Hinsicht, keinerlei Kenntnisse haben, um
diese Fälle bearbeiten zu können“, kritisiert er. Dafür sei das Thema doch
„allein aus juristischer Sicht, zu relevant“.
Das scheinen viele Jurastudierende ebenso zu sehen: Innerhalb von wenigen
Monaten hatte die Feminist Law Clinic knapp 30 Mitglieder und genügend
Spenden und Fördergelder gesammelt, um im Dezember 2024 die erste
Ausbildungsreihe zu starten. Dort hielten verschiedene Fachanwält:innen
Vorlesungen und Seminare zu Sexualstrafrecht, Unterhaltsrecht und dem neuen
Selbstbestimmungsgesetz.
## Wenige Anwält:innen im reinen Opferschutz
Alle, die daran teilnehmen, dürfen als ehrenamtliche
Rechtsberater:innen für die Law Clinic Fälle übernehmen, die sie mit
Volljurist:innen besprechen. Da so viele mitmachen wollten, startete im
Sommersemester 2025 direkt die zweite Ausbildungsreihe, hier kamen noch die
Schwerpunkte Arbeitsrecht und Schwangerschaftsabbrüche hinzu.
Mittlerweile gibt es dreißig Ortsgruppen der Law Clinic in ganz
Deutschland, auf Instagram informieren sie fast 12.000 Menschen über
feministische Rechtsthemen. Knapp achtzig Fälle hat die Gruppe allein im
ersten halben Jahr betreut, am häufigsten zu Unterhaltsfragen, sexueller
Nötigung und Vergewaltigungen. „Unser Ziel ist, als eine erste
Anlaufstelle, Menschen zu empowern, zu Fachanwält:innen zu gehen“,
erklärt Karla Steeb. In den Beratungen werde zunächst über grundsätzliche
Rechte und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten aufgeklärt.
Doch Fachanwält:innen in dem Bereich sind rar gesät. „Es gibt sehr
wenige Anwält:innen, die im reinen Opferschutz tätig sind, also Opfer von
Straftaten vertreten“, sagt Victoria Heßeler, die sich als Anwältin genau
darauf spezialisiert hat. „Meine Spezialisierung war im Prinzip ein
komplettes Selbststudium“, sagt sie. Im Referendariat, der praktischen
juristischen Ausbildung nach dem ersten Staatsexamen, entschied sie, in die
Sexualabteilung der Staatsanwaltschaft zu gehen. Dort hatte sie eine
engagierte Ausbilderin und bearbeitete zahlreiche Akten selbst. Man brauche
für diesen Bereich „eine große, innere Motivation“.
Anwältinnen, die wie sie im Opferschutz tätig sind, seien überwiegend
Frauen, sagt Heßeler. Strafverteidiger der Täterseite seien hingegen
meistens Männer – und würden meist besser bezahlt. Wenn es in einem
Vergewaltigungsprozess darum gehe, nicht für mehrere Jahre ins Gefängnis zu
müssen, könnten Strafverteidiger große Summen verlangen. Sie hingegen
versuche „grundsätzlich gar kein Geld von Opfern zu verlangen, sondern eine
Prozesskostenhilfe zu erhalten und so die Kosten mit dem Staat
abzurechnen“.
## Mythen um Partnerschaftsgewalt
Die Lücke im Studium habe weitreichende Folgen. Mythen rund um
Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und Partnerschaftsgewalt seien bei
Richter:innen, der Polizei und der Staatsanwaltschaft weit verbreitet.
Immer wieder begegneten Heßeler in ihrer Arbeit Fragen wie: Was hatte die
Frau am Abend der Vergewaltigung an? Warum hat sie ihn nicht einfach früher
verlassen, wenn er sie geschlagen hat?
Eine Studie der Universität Hamburg mit dem Titel
[3][„(Geschlechter)rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen“] aus
dem Jahr 2016 hat untersucht, welche Fälle im Jurastudium behandelt wurden.
Laut Studie wurden häufig Geschlechter- und Rollenstereotypen bedient und
viele Lebensrealitäten überhaupt nicht abgebildet – was auch über das
Studium hinaus wirke. Wer nur wenig über Sexualstrafrecht hört und dann
überwiegend mit der lügenden Frau konfrontiert wird, wird später in
Strafverfahren wegen sexualisierter Gewalt, eher dazu tendieren, Frauen
nicht zu glauben.
Dozierende, wie Mohamad El-Ghazi, versuchen zwar, diese Leerstelle im
Studium mit außercurricularen Vorlesungen und Seminaren zu füllen. Doch
sowohl Lehrende als auch Studierende haben wenig Kapazitäten für
zusätzliche Kurse. Damit sich wirklich etwas ändere, müsse der Gesetzgeber
beschließen, Sexualstrafrecht in den Juristenausbildungsgesetzen als einen
festen Bestandteil des Pflichtblocks „Strafrecht“ zu integrieren. „Ich se…
da aber wenig Bewegung, der Stoffplan des Studiums ist jetzt schon sehr
voll“, sagt El-Ghazi, „Aber wir lehren eben auch Deliktfelder wie
Brandstiftung – und dann kein Sexualstrafrecht.“
Nergis Zarifi, Juristin und Leiterin des Arbeitsstabes des Deutschen
Juristinnenbunds, stimmt diesen Beobachtungen zu. Der Juristinnenbund
versuche auf Landesebene auf die Justizministerien politisch einzuwirken,
damit diesen Themen auch im Studium mehr Raum gegeben werden könne. Aber
die Veränderungen kämen nur sehr langsam voran. „Der Lehrplan ist veraltet.
Thematiken, die vor allem Frauen betreffen, sind dort noch nicht
angekommen“, sagt Zarifi. Initiativen wie die Feminist Law Clinic, die dem
Thema immer mehr Sichtbarkeit verschaffen, seien deshalb essenziell, um
Bewegung in den Diskurs zu bringen, sagt sie.
Auch Karla Steeb von der Feminist Law Clinic zweifelt daran, dass das
Jurastudium zeitnah reformiert wird – dafür sei es noch immer in allen
Bereichen zu männlich geprägt. Aber mit ihrer Organisation hofft sie, etwas
zu bewegen. „Es ist letztlich einfach unfair, dass so viele Betroffene
keinen rechtlichen Schutz bekommen“, sagt sie. „Die wenigsten Fälle
sexueller und patriarchaler Gewalt werden überhaupt zur Anzeige gebracht
und die wenigsten verurteilt.“
8 Oct 2025
## LINKS
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/550357/umfrage/anzahl-der-st…
[2] https://www.hilfetelefon.de/aktuelles/weiter-steigende-zahlen-im-bereich-ha…
[3] https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/gremien-beauftragte/gleichste…
## AUTOREN
Paula Kühn
## TAGS
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