| # taz.de -- Forschung zu Shoa-Überlebenden: Die Stimme der Überlebenden | |
| > Birgit Mair sammelt Stories von Holocaust-Überlebenden, besucht mit ihnen | |
| > Schulen, stellt sich gegen rechts. Sie erinnert, ohne dabei zu | |
| > zerbrechen. | |
| Bild: Holocaust-Überlebende auf dem Cover des Buchs „Die letzten Zeuginnen u… | |
| Als Birgit Mair den [1][Holocaust-Überlebenden] Ernest Glaser, der in den | |
| USA sein Glück gemacht hat, fragt, wie er mit der aktuellen Situation | |
| umgeht, mit Trump und dem Rechtsruck, antwortet er mit einem Zitat aus | |
| Johann Strauss’ Fledermaus: „Glücklich ist, wer vergisst, das, was nicht | |
| mehr zu ändern ist.“ Das ist laut Mair keine Schicksalsergebenheit: „Das | |
| heißt, wir dürfen uns nicht auffressen lassen von diesem Rechtsruck, auch | |
| hier nicht. Und manchmal müssen wir auch ein bisschen vergessen.“ Wenn sie | |
| heute Abend mit Freundinnen essen gehe, wolle sie nicht über die AfD | |
| sprechen. | |
| Sie sitzt in ihrem Büro des ISFBB (Institut für sozialwissenschaftliche | |
| Forschung, Bildung und Beratung), das sie mit gegründet hat, in einem | |
| ehemaligen Fabrikgebäude in Nürnberg. Gerade hat sie jungen | |
| Theatermachenden ein Interview über die aktuelle [2][politische Lage] | |
| gegeben. Sie sei nicht besonders häufig hier, sagt sie, weil die Adresse | |
| öffentlich ist. Sicherer fühle sie sich zu Hause. | |
| Birgit Mair hat die Lebensgeschichten von mehr als 20 Überlebenden des | |
| Holocaust aufgeschrieben und sich mit mehr als 40 Überlebenden getroffen. | |
| 2024 erschien die zweite Auflage des Buchs „Die letzten Zeuginnen und | |
| Zeugen“. Sie organisiert Ausstellungen, hält Vorträge über Rechtspopulismus | |
| und Verschwörungstheoretiker und fährt zusammen mit Zeitzeug:innen in | |
| Schulen. Seit sie 1998 Josef Jakubowicz traf, hat sie ihr Leben vor allem | |
| dieser Sammlung gewidmet: den Geschichten der Überlebenden. | |
| Mair, Ende der 1980er-Jahre aus der Enge Tirols nach Nürnberg geflohen, | |
| arbeitete zunächst als Sekretärin im Presseamt der Stadt: viel langweilige | |
| Kopierarbeit. Sie holte ihr Abitur nach und ging ins Studium der | |
| Sozialwissenschaften, das sie sich unter anderem mit Führungen über das | |
| ehemalige Reichsparteitagsgelände finanzierte. So sei sie auf den Radar des | |
| Professors geraten, der sie eines Tages unvermittelt anrief: Ob sie nicht | |
| ihre Diplomarbeit über einen jüdischen Holocaustüberlebenden schreiben | |
| wolle. | |
| „Ich habe sofort Ja gesagt, was eigentlich ein bisschen ungünstig war: | |
| Meine Tochter war gerade vier Monate alt. Aber es hat mich so wahnsinnig | |
| interessiert.“ Fast zwei Jahre lang trifft sie sich regelmäßig mit Josef | |
| Jakubowicz, hört zu, nimmt auf, tippt alles ab. Mair zeigt zwischen Daumen | |
| und Zeigefinger die Stärke des Papierstapels: „So ein dickes Ding.“ | |
| ## An Autobahn mitarbeiten | |
| Jakubowicz erzählt von der Jugend mit Schlittenfahren und Schabbatliedern | |
| in der Synagoge, vom Einmarsch deutscher Truppen in Polen und der | |
| Umbenennung seiner Heimatstadt Oświęcim. Jakubowicz war nur 300 Meter vom | |
| späteren Stammlager Auschwitz aufgewachsen, sein Elternhaus wurde von den | |
| Nazi abgerissen. 1941 kam er ins Zwangsarbeiterlager Annaberg in | |
| Oberschlesien, er musste am Bau der Autobahn mitarbeiten. | |
| „Vieles wusste ich nicht“, erinnert sich Mair. „[3][Zwangsarbeiterlager | |
| Annaberg?] Davon hatte ich ja noch nie gehört.“ Jakubowicz erzählt, wie | |
| seine Hände beim Verlegen von Schienen am Eisen festfroren, wie er im Lager | |
| Markstädt wochenlang Zementsäcke schleppte, wie er bis zur Ohnmacht | |
| geprügelt wurde, weil er Lebensmittel an Mithäftlinge verteilt hatte, wie | |
| der Zufall ihm immer wieder beim Überleben half: im KZ Fünfteichen, im KZ | |
| Groß-Rosen, in Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen. | |
| „Den letzten Zählappell kurz vor der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 | |
| machte Josef Jakubowicz nicht mehr mit“, heißt es in Birgit Mairs Buch, „Er | |
| legte sich neben einen Leichenhaufen und stellte sich tot.“ | |
| Josef erzählt ihr alles, denkt Mair, bis sie feststellt: Über seine Familie | |
| spricht er nicht. Sie beginnt gezielt nachzufragen, um zusammen mit | |
| Jakubowicz einen Stammbaum zu erstellen, Stück für Stück, Name für Name: 34 | |
| Mitglieder seiner Kernfamilie sind ermordet worden. Das Baby seiner Tante, | |
| das erzählt er erst, als das Aufnahmegerät nicht mehr läuft, sei erstickt | |
| worden, damit es die versteckte Gruppe nicht durch Schreien verrät. In | |
| solchen Momenten sei er zusammengebrochen. | |
| Mair ist damals Anfang dreißig. Wie lernt man, mit Geschichten, die einem | |
| auf solche Weise anvertraut werden, umzugehen? „Ich hatte ein kleines | |
| Wutzi-Baby zu Hause und so viel darüber gelesen, wie die SS Babys ermordet | |
| hat. Ich habe viel geweint.“ Als die Interviewarbeit losging, sagt sie, sei | |
| auch ihre Muttermilch versiegt. | |
| Die Arbeit ist extrem belastend, aber auch elektrisierend. Auf Jakubowicz | |
| folgt Franz Rosenbach, Sinto, Auschwitz-Überlebender. Rosenbach habe sie | |
| bei einer Gerichtsverhandlung gegen einen Antifaschisten kennengelernt, die | |
| beide aus Solidarität besuchten. Er spricht mit ihr darüber, wie er als | |
| Kind die Leichen aus dem Krematorium von Auschwitz schleppen musste. Auf | |
| Rosenbachs Beerdigung trifft sie Siegfried Heilig, der den Holocaust | |
| versteckt auf Bauernhöfen und in Wäldern Brandenburgs überlebte. | |
| ## Nazis haben nicht alle kaputt gemacht | |
| Über 600 Gespräche vor Publikum, unzählige gemeinsame Auto- und Zugfahrten, | |
| Heimatbesuche. Den größten Eindruck habe Eva Weyl hinterlassen. Weyl war | |
| sechs Jahre alt, als ihre Eltern die Koffer packten. Nur ein Umzug, sagten | |
| sie. Die Familie kam ins niederländische Lager Westerbork, ein | |
| „Durchgangslager in die Vernichtung“. | |
| Nur 5.000 Menschen hätten diese Scheinwelt überlebt. „Eva ist für mich auch | |
| ein Vorbild, wie man als Frau älter werden und aktiv bleiben kann“, sagt | |
| Mair. „Sie ist an dieser Geschichte nicht verzweifelt, lebt bis heute | |
| alleine, fährt Auto, ist total eigenständig. Eine unheimliche Power. Die | |
| Nazis haben nicht alle kaputt gemacht.“ | |
| Im Jahr 2023 erscheint die erste Auflage des Buches, in dem die Geschichten | |
| festgehalten sind. Über einen Schauspieler in Berlin landet ein Exemplar | |
| auch in Kalifornien, bei Ernest, geborener Ernst, Glaser. Er, damals 99 | |
| Jahre alt, setzt eine Mail an die Autorin auf: „Ich möchte gerne an Ihrem | |
| Programm teilnehmen.“ Die ersten Interviews finden via Zoom statt, es ist | |
| eine Geschichte, die sich noch einmal deutlich von allen anderen | |
| unterscheidet. | |
| Anfang der 30er Jahre lebte die jüdische Familie Glaser mit Onkeln und | |
| Tanten und Großeltern in Berlin. Heute sind die Überlebenden und Nachfahren | |
| über alle Kontinente verstreut. Fast allen gelang in den 30er Jahren die | |
| Ausreise, Ernst und seine Eltern gingen nach Shanghai: Das einzige Ziel, | |
| für das man damals kein Visum brauchte, wenn man es auf einen der | |
| Luxusdampfer schaffte. „Es war die einzige offene Stadt der Welt“, sagt | |
| Mair, „18.000 Juden haben in Shanghai überlebt.“ Aus Glasers exemplarischer | |
| Geschichte hat sie ihr jüngstes Buch gemacht, das im Oktober erscheinen | |
| soll. | |
| Shanghai war eine Zuflucht, aber kein Paradies. Das eigentliche Sagen, | |
| erklärt Mair, hatten ab Ende der 30er Jahre die Japaner. Die wiederum | |
| wurden von den Deutschen unter Druck gesetzt, die Juden in China schlechter | |
| zu behandeln. Die Familie kam in ein Ghetto: einen von Stacheldraht | |
| umzäunten Bereich, den man nur zum Arbeiten verlassen durfte, in dem es | |
| auch Gewalt gab. „Die haben dort auch gehungert. | |
| ## Von Familie erst nichts erzählt | |
| Aber es ist in diesem Ghetto niemand willkürlich ermordet worden, das ist | |
| ein Riesenunterschied.“ Nach Zoomcalls und ersten Auftritten Glasers als | |
| Online-Videogast bei Veranstaltungen in Deutschland, denkt Birgit Mair | |
| 2024: „Der ist jetzt bald hundert. Lange kannst du nicht mehr warten.“ Sie | |
| fliegt zu Ernie, wie sie ihn nennt. Glaser konnte nach dem Krieg endlich in | |
| die USA emigrieren, wo er sich mit Jobs durchschlug, bis er seinen | |
| Schulabschluss nachholte und nach Stanford ging, um zu studieren. | |
| Den Rest seines Lebens widmete er der Konservierung. „Diese Karriere ist | |
| sein ganzer Stolz. Er hat es den Nazis gezeigt.“ Glaser lebt in der Nähe | |
| von San Francisco. Dort setzen Mair und er ihre Gespräche fort. Er öffnet | |
| seinen Aktenschrank. Immer mehr Dokumente und Familienfotos drückt er | |
| seinem Besuch aus Deutschland in die Hand. Eine Überlebendenbiografie in | |
| allen denkbaren Details. Erst da sei ihr klar geworden, dass es ein | |
| Buchprojekt ist. | |
| Einen Tag lang hätten sie nur über Berlin gesprochen, einen über Shanghai, | |
| einen über die Nachkriegszeit. Am dritten Tag fällt ihr auf: Nur über seine | |
| Familie hat er noch nichts erzählt. Es ist das alte Muster. Den vierten Tag | |
| widmen sie nur diesem Thema. Mit 15 Stunden Interviewmaterial kehrt sie | |
| nach Nürnberg zurück, plus die Vor- und Nachbesprechungen per Zoom, rund | |
| 100 E-Mails, drei Ordner voll mit Quellen. | |
| Birgit Mair veröffentlicht nur im Selbstverlag, aus Prinzip. Man könne ja | |
| nicht wissen, wie sich ein Verlag in Zukunft politisch entwickle. Die | |
| letzten Zeuginnen und Zeugen, das Buch fast 400 Seiten stark, konnte sie | |
| dank umfangreicher öffentlicher und privater Förderung für 20 Euro auf den | |
| Markt bringen. Beim Glaser-Projekt schaut es weniger gut aus. Das Buch ist | |
| layoutet, abgesegnet, druckfertig. Am 16. November soll es in der Berliner | |
| Friedenskirche präsentiert werden, Ernie wird per Video zugeschaltet sein. | |
| Rund 10.000 Euro koste die Produktion, Arbeitszeit nicht mitgerechnet. | |
| Davon sei sie noch weit entfernt. Ein Crowdfunding soll helfen. | |
| Wenn das Buchprojekt abgeschlossen ist, muss sie eine Pause machen, sagt | |
| sie. Die Vorträge, die Besuche an Schulen, das geht natürlich weiter. Aber | |
| die Arbeit hat sich verändert, die Schüler:innen seien generell | |
| verschlossener geworden, die rassistischen Provokationen hätten zugenommen. | |
| Zu Vorträgen fährt sie nicht mehr allein. „Die werden frecher, also müssen | |
| wir unsere Schutzmaßnahmen hochfahren.“ | |
| Die, das meint auch die AfD, die immer wieder versucht, ihre Auftritte zu | |
| verhindern oder zu stören. Aus Sachsen und Thüringen habe sie seit Jahren | |
| so gut wie keine Aufträge mehr bekommen, und auch im Rest des Landes | |
| versuchen Auftraggeber, zum Beispiel Stiftungen, sie immer davon zu | |
| überzeugen, die Partei doch einfach nicht zu nennen: „Vor Wahlen bin ich | |
| kompromissbereit“, sagt sie, „aber generelles Sprechverbot lasse ich mir | |
| nicht erteilen. Das mache ich nicht mit.“ | |
| Man dürfe nicht aufhören, etwas dagegen zu tun, weniger hirnen, mehr tun. | |
| Und zwischendurch auch mal wieder vergessen, heute Abend zum Beispiel, beim | |
| Italiener. | |
| In einer früheren Version des Artikels haben wir geschrieben, Ernest Glaser | |
| habe in Stanford Lebensmitteltechnik studiert. Das haben wir in der | |
| aktuellen Version korrigiert. | |
| 9 Oct 2025 | |
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