# taz.de -- Ombudsfrau über NSU-Dokuzentrum: „Überlebende und Angehörige s… | |
> Ein Gesetzentwurf für das geplante NSU-Dokuzentrum ist gescheitert. | |
> Angehörigen-Vertreterin Barbara John sagt, was in Zukunft besser werden | |
> muss. | |
Bild: Veranstaltung zum Gedenken für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt 20… | |
taz: Frau John, das Gesetz für ein NSU-Dokuzentrum [1][ist Ende Januar | |
gescheitert]. Die Bundesregierung wollte damit einen Gedenk- und Lernort in | |
Berlin schaffen. SPD und Grüne haben aber keine Mehrheit mehr gefunden. Was | |
bedeutet das für die überlebenden Opfer und die Angehörigen? | |
Barbara John: Natürlich ist es eine Enttäuschung, dass es jetzt erst mal | |
nicht weitergeht. Umso mehr hoffen die Angehörigen-Familien, dass auch die | |
nächste Bundesregierung das Projekt wieder aufnimmt. Grundsätzlich sind sie | |
nach wie vor bereit, sich zu engagieren. | |
taz: Wer trägt die Schuld? | |
John: Die Ampel hat zu spät mit diesem komplexen Vorhaben angefangen. SPD, | |
Grüne und FDP hatten sich das Dokuzentrum 2021 in den Koalitionsvertrag | |
geschrieben, aber erst im Sommer 2024 legte das Bundesinnenministerium | |
[2][einen Gesetzentwurf] vor. Andererseits war es ja auch für SPD, Grüne | |
und FDP nicht abzusehen, dass ihre Koalition kurz darauf auseinanderbrechen | |
würde. Mit mehr Zeit hätte es klappen können. Ich sehe das als eine | |
Verkettung unvorhersehbarer Umstände an. | |
taz: Die Union hätte das Projekt retten können, indem sie zustimmt. | |
John: Es ging hier um ein Gesetz der Ampelkoalition. Bei der Anhörung im | |
Innenausschuss gab es Einwände von vielen Seiten. Sollten die einfach | |
durchgewunken werden? Als ich die teilnehmenden CDU-Abgeordneten nach der | |
Sitzung ansprach, sagten sie, es gäbe keine grundsätzliche Ablehnung. Aber | |
ohne Beratung der Einwände sei das nicht möglich gewesen. | |
taz: Das Vorhaben würde also auch unter einem Kanzler Friedrich Merz | |
weiterverfolgt? | |
John: Es gibt eine prinzipielle Wertschätzung des Anliegens. Wird die Union | |
den nächsten Bundeskanzler stellen, kommt das Thema nach meiner | |
Einschätzung wieder auf den Tisch, | |
taz: Sollte die nächste Bundesregierung den gescheiterten Gesetzentwurf | |
dann genau so wieder aufgreifen? | |
John: Es braucht Nachbesserungen. Konkret geht es ja bei dem Gesetzentwurf | |
darum, eine Stiftung zu schaffen, die das Dokuzentrum aufbauen und tragen | |
soll. Im Stiftungsrat sind bisher aber zu wenig Plätze für Vertreter der | |
Angehörigen vorgesehen. Sie fühlen sich reglementiert und bevormundet von | |
den staatlichen Behörden. Eine Familie ist deshalb aus dem Projekt | |
ausgestiegen. Und sie haben einen Punkt: Die überlebenden Opfer und die | |
Angehörigen der Ermordeten sollten im Mittelpunkt stehen, selbst wenn es | |
der Bundesregierung und dem Parlament mehr um Erinnerungspolitik geht. | |
taz: Erinnerungspolitik? | |
John: Die Bundesregierung will ein politisches Dokumentationszentrum. Es | |
soll auch als kollektive Mahnung und Erinnerung an die europaweit | |
singulären Terrortaten des NSU dienen. Aber das soll auch der Einstieg sein | |
in ein größeres Thema, nämlich die Entwicklung von Rassismus und | |
Rechtsterrorismus in Deutschland seit 1945. Ein durchaus berechtigtes | |
Interesse. Für die Angehörigen und die Überlebenden stehen aber | |
gleichberechtigt die unvorstellbar harten Schicksale ihrer Familien im | |
Mittelpunkt. | |
taz: In Chemnitz [3][wird bereits ein NSU-Dokuzentrum aufgebaut.] Warum | |
braucht es noch eins in Berlin? Anders als in Chemnitz gibt es hier keine | |
direkte Verbindung zum NSU-Terror. | |
John: Indirekt sehr wohl! Berlin ist das politische Zentrum. In den | |
Tatjahren und danach haben die Bundesregierung und die politischen Parteien | |
den total falschen Ermittlungsansatz der Sicherheitsbehörden schweigend | |
gebilligt. Er passte noch in die verbreitete Parole, Deutschland sei kein | |
Einwanderungsland. Für Berlin spricht außerdem, dass es die Hauptstadt ist, | |
hier können die Bundestagsabgeordneten Besucher einladen, es kommen | |
Menschen aus der ganzen Welt. Ein Gedenkort in Berlin hat eine große | |
Sichtbarkeit und Ausstrahlung. | |
In Chemnitz handelt es sich lediglich um ein Pilotprojekt. Es wird im Mai | |
eröffnet als Teil des Projekts Europäische Kulturhauptstadt 2025 eröffnet | |
und ist nur bis Ende des Jahres finanziert. Für die Angehörigen waren Orte | |
wie Chemnitz und Zwickau anfangs kaum vermittelbar. Das waren die | |
Rückzugsorte in denen das NSU-Trio lebte, nachbarschaftliche Unterstützung | |
erfuhr und die Tatwaffe bekam. | |
taz: Und mit einem Dokuzentrum in Berlin ist die Aufarbeitung dann erst | |
einmal abgeschlossen? | |
John: Ganz und gar nicht. Ich fordere schon lange, dass der Bundestag sich | |
mit Entschädigungen für die Angehörigen und die überlebenden Opfer befasst. | |
Die Hinterbliebenen hatten schwerste Verluste zu verkraften: psychisch, | |
physisch, materiell und auch sozial. Sie leiden noch heute darunter. | |
Was meinen Sie? | |
Beispielsweise musste eine Familie nach dem Mord am Vater den Kiez | |
verlassen, eine andere in der Türkei das Dorf in dem sie lebten, weil sie | |
von der deutschen und türkischen Polizei behelligt wurden, die ihnen eine | |
Verstrickung ins Drogenmilieu nachweisen wollte. In der Schule wurden die | |
Kinder ausgegrenzt, weil ihr ermordeter Vater angeblich kriminell gewesen | |
sei. Eine andere Familie musste ihre Wohnung verkaufen, um finanziell über | |
die Runden zu kommen. | |
taz: Dafür gab es nie eine Entschuldigung und eine Entschädigung? | |
Keine offizielle von den Sicherheitsbehörden. Es gab Ansätze für | |
Schmerzensgeld, aber erst nachdem die Täter sich im November 2011 enttarnt | |
hatten. Noch während der Mordserie und Jahre danach suchten die | |
Ermittlungsbehörden die Täter ja ausschließlich in der Nähe der Opfer, die | |
ihr Leben aus eigener Kraft wieder aufbauen mussten. In dieser Zeit galten | |
sie nicht als Terroropfer. | |
taz: Sie fordern außerdem immer wieder eine Ausweitung der Opferrechte vor | |
Gericht. | |
Beate Zschäpe will offenbar 2026 einen Antrag auf Haftentlassung stellen. | |
Die Tatbetroffenen haben keinerlei Möglichkeiten, dabei mitzureden. Sie | |
müssen nicht einmal informiert werden. | |
taz: Die Angehörigen sollen über Zschäpes Schicksal mitentscheiden? | |
Nein, die Entscheidung liegt allein beim Strafvollstreckungsgericht in | |
München. Es geht auch nicht darum, die Resozialisierung von Frau Zschäpe zu | |
behindern. Sie kann aber mit Hilfe ihres vom Staat bezahlten Anwalts | |
darstellen, wie sie in der Haft zu einer geläuterten Mitbürgerin wurde. Die | |
Terroropfer dagegen haben nicht das Recht, zu berichten, was sie als | |
Überlebende und Angehörige durchgemacht haben. Auch beim ursprünglichen | |
Prozess in München gegen Zschäpe wurde kaum danach gefragt. | |
Es wurden nicht alle Möglichkeiten genutzt, die Opfer über ihre Erfahrungen | |
berichten zu lassen. Durch die Erweiterung der Opferrechte könnte das noch | |
nachgeholt werden, übrigens auch für andere Opfer von Terrorismus. | |
12 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
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