| # taz.de -- Über die humanitäre Lage im Gazastreifen: „Geld in Gaza fühlt … | |
| > Die Lage der Menschen in Gaza sei katastrophal, sagt Jouanna Hassoun. Mit | |
| > ihrer Organisation Transaidency bringt sie Lebensmittel zu den Menschen. | |
| Bild: Ein Palästinenser hat für sich und die Familie Lebensmittelreste aus de… | |
| taz: Frau Hassoun, in der Nacht hat US-Präsident Donald Trump verkündet, es | |
| gebe eine erste Einigung zwischen Israel und der Hamas: Die Geiseln sollen | |
| freikommen, die israelische Armee sich auf eine vereinbarte Linie | |
| zurückziehen. Wie fühlen Sie sich? | |
| Jouanna Hassoun: Ich habe Angst. In den nächsten Tagen kann noch so viel | |
| geschehen. Ich weine, weil da ein kleiner Funke Hoffnung ist. Und ich | |
| weine, weil ich ahne, was noch kommt: dass nach all dem Leid, dem | |
| Schweigen, der Zerstörung die Menschen begreifen, was ihnen angetan wurde. | |
| Und Krieg und Besatzung sind damit ja nicht vorbei. Trotzdem mache ich | |
| weiter. Die Menschen brauchen uns, jetzt mehr denn je. | |
| taz: In Gaza hungern die Menschen, Sie verteilen dort Lebensmittel. Wie | |
| sieht das aus? | |
| Hassoun: Die Lage der Menschen in Gaza ist katastrophal. Und die Versorgung | |
| ist es auch. Wir können die Not nicht beheben, aber immerhin einen Teil | |
| dazu beitragen, sie zu lindern. Dazu kaufen unsere Leute vor Ort, was auch | |
| immer sie auftreiben können. Linsen zum Beispiel. Am Anfang konnten wir nur | |
| Linseneintöpfe machen. Dann kamen Teigtaschen oder Reis mit Spinat. Neulich | |
| konnten wir sogar ein Gericht mit Dosenfleisch machen. | |
| taz: Wie funktioniert das, mitten in so einer Situation an Lebensmittel zu | |
| kommen? | |
| Hassoun: Wir können natürlich kein Essen nach Gaza hineinbringen. Wir | |
| akquirieren Spendengelder und lassen das unseren Vertrauenspersonen in Gaza | |
| zukommen. Und mit dem Geld können unsere Leute vor Ort dann Mehl kaufen. | |
| Linsen. Alles, was sie irgendwie finden – zu sehr hohen Preisen. Wir | |
| erreichen damit natürlich nur einen Bruchteil der Menschen. Aber es werden | |
| mehr, anfangs konnten wir 100 Personen unterstützen, inzwischen sind wir | |
| bei knapp 10.000. Und es ist das, was wir beitragen können, damit die | |
| Menschen nicht hungern. | |
| taz: Und wer sind die Menschen, die Sie unterstützen? | |
| Hassoun: Am Anfang waren das Freunde und Bekannte in Gaza. Ich habe die | |
| Spendenaktion im Mai zu meinem Geburtstag gestartet, erst ganz privat, weil | |
| diese Menschen dringend Unterstützung brauchten. Ich bin gar nicht davon | |
| ausgegangen, dass es solche Wellen schlägt. Aber wir haben so viele | |
| Spendengelder bekommen, dass klar war: Wir müssen das professionalisieren. | |
| Jetzt läuft das über Transaidency, die Organisation, mit der wir schon seit | |
| 2015 humanitäre Hilfe in verschiedenen Regionen leisten, auch im Sudan, im | |
| Jemen, in Syrien oder der Türkei. Und die Menschen kommen zu uns über | |
| Kontakte. Wir versuchen, die zu finden, die uns am dringendsten brauchen. | |
| Die immobil sind zum Beispiel, die keine finanzielle Unterstützung von | |
| Verwandten im Ausland haben oder die chronisch krank sind. | |
| taz: Kann man einfach so Geld nach Gaza überweisen? | |
| Hassoun: Es gibt derzeit kein funktionierendes Bankensystem. Manche Händler | |
| akzeptieren Zahlungen über Bank-Apps, doch meist sind wir auf Bargeld | |
| angewiesen – und dafür braucht es Strukturen, die sehr hohe Gebühren | |
| verlangen, teils mit mafiösen Zügen. In der schlimmsten Phase lagen diese | |
| Abzüge bei über 50 Prozent, inzwischen bei knapp 30 Prozent. Das bedeutet: | |
| Von 1.000 Euro Spendengeldern kommen oft nicht einmal 700 Euro direkt bei | |
| den Menschen an. So schwer es fällt: Im Krieg bleibt uns leider kein | |
| anderer Weg. | |
| taz: Und was bekommt man für das Geld dann? | |
| Hassoun: [1][Die Preise sind wirklich sehr hoch]. Eine Lebensmittelausgabe | |
| – bestehend aus Reis und Kartoffeln – kostet derzeit etwa 1.600 Euro für | |
| knapp 160 Portionen. Eine Einkaufstasche mit Grundnahrungsmitteln für zwei | |
| bis drei Tage kostet etwa 52 Euro. Für Wasser haben wir in der schlimmsten | |
| Zeit etwa 500 Euro für 4.500 Liter bezahlt. Jetzt sind es etwa 350. | |
| Und es ändert sich ständig, je nachdem, ob gerade Hilfslieferungen | |
| reinkommen und wie viele. Geld fühlt sich hier an wie Monopoly-Geld, weil | |
| es an sich kaum noch einen Wert hat – außer dem einen: dass Menschen durch | |
| sein Vorhandensein und [2][die Möglichkeit, Lebensmittel zu kaufen,] | |
| überleben können. | |
| taz: Inzwischen kommen deutlich mehr Hilfslieferungen nach Gaza als noch im | |
| Mai. Auch kommerzielle Transporte dürfen wieder passieren. Ist das spürbar? | |
| Hassoun: Es ist spürbar für die Menschen, die Geld haben. Die zum Beispiel | |
| von Familie oder Freunden im Ausland unterstützt werden. Oder für | |
| Hilfsorganisationen wie uns. Die Preise gehen ein bisschen runter, und auch | |
| das Angebot wird ein kleines bisschen besser – wie gesagt, neulich konnten | |
| wir ein bisschen Fleisch besorgen. Aber für die Menschen, die keinen Cent | |
| haben, macht das keinen Unterschied. | |
| taz: Hilfsorganisationen können Preise zahlen, die für die Menschen vor Ort | |
| kaum stemmbar sind. Treibt das die Preise nicht noch in die Höhe? | |
| Hassoun: Das ist leider so. Aber welche Alternative haben wir? Wir können | |
| die Menschen ja nicht verhungern lassen. In einer besseren Welt würden so | |
| viele Hilfsmittel reinkommen, dass es Organisationen wie uns nicht bräuchte | |
| und dass den Plünderern und Mafiosis die Grundlage für solche Wucherpreise | |
| entzogen würde. | |
| Aber wir haben es ja nicht mit einer Naturkatastrophe zu tun, sondern mit | |
| Aushungern durch eine künstliche Verknappung von Lebensmitteln seitens | |
| Israels. Und ich sehe ja den Unterschied bei den Familien, die wir | |
| versorgen: Kinder, die anfangs wirklich wie Zombies ausgesehen haben und | |
| nach einigen Wochen zumindest wieder wie Menschen aussehen. Das ist | |
| entscheidend: dass wir ein bisschen Hoffnung und Menschlichkeit geben | |
| können. | |
| taz: Lässt die Hamas Ihre Leute vor Ort machen, oder ist das eine Gefahr | |
| für sie? | |
| Hassoun: Bisher sind [3][die Hamas] oder welche dieser kriminellen Clans | |
| nie aufgetaucht, ich hoffe, das bleibt so, toi, toi, toi. Wir agieren aber | |
| bewusst informell und sehr behutsam, sind vor allem in kleineren Camps, die | |
| quasi vergessen sind. Da verteilen wir das Essen oder stellen den | |
| Wassertank hin und verschwinden wieder. | |
| taz: Sie engagieren sich nicht nur vor Ort, sondern machen auch in | |
| Deutschland schon sehr lange Bildungsarbeit zu Israel und Palästina. Kurz | |
| nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 haben Sie zusammen mit Shai | |
| Hoffmann das Trialog-Projekt ins Leben gerufen, in dem israelische und | |
| palästinensische Personen gemeinsam an Schulen mit Jugendlichen sprechen. | |
| Wie läuft diese Arbeit? | |
| Hassoun: Sie wird von Tag zu Tag schwerer. [4][Social Media ist voll von | |
| gewaltvollen Bildern]. Viele Jugendliche, die familiäre Bezüge in die | |
| Region haben, finden sich in der medialen Berichterstattung in Deutschland | |
| nicht wieder. Da hat sich etwas verhärtet. Auch in der Diskussion: Es ist | |
| immer schwieriger, an sie heranzukommen. Und ich frage mich wirklich: Wie | |
| sollen wir das retten, was da kaputtgegangen ist? An Vertrauen in | |
| Institutionen, an Vertrauen in die Demokratie … Ich glaube, wir können die | |
| Folgen dieser gesellschaftlichen Spaltung noch gar nicht umfassend absehen. | |
| Aber ich bin sicher: Das wird uns noch in zehn Jahren verfolgen. Umso | |
| wichtiger ist, dem etwas entgegenzusetzen. | |
| Deshalb führen wir nicht nur die Trialoge durch, sondern arbeiten in | |
| Projekten wie „Brücken bauen“ kontinuierlich zu Israel/Palästina. Mein | |
| Verein Transaidency setzt sich seit seiner Gründung für Dialog und | |
| Begegnung ein – und ich arbeite seit 18 Jahren in diesem Feld. | |
| taz: Wie arbeiten Sie? | |
| Hassoun: Unser Vorteil ist, dass wir uns in diesen Trialogen auf einer | |
| menschlichen Ebene begegnen, mit unterschiedlichen Perspektiven – die aber | |
| immer für Menschlichkeit einstehen und für ein Miteinander, das wir auch | |
| vorleben. Dazu gehört auch, die Meinung des anderen auszuhalten und auch | |
| mal zu sagen: Hey, ich finde nicht gut, was du gerade sagst, und bin nicht | |
| deiner Meinung. Aber lass uns doch wenigstens im Gespräch bleiben, statt | |
| aufeinander loszugehen. | |
| taz: Für solche Gleichzeitigkeiten scheint gerade wenig Raum zu sein. Oft | |
| scheint es eher, als müsse man sich für „die eine“ oder für „die ander… | |
| Seite entscheiden, oder? | |
| Hassoun: Fakt ist: Wir haben in Deutschland einen Anstieg von | |
| [5][Antisemitismus]. Fakt ist auch: Wir haben ebenso einen Anstieg von | |
| [6][antimuslimischem und antipalästinensischem Rassismus]. Beides | |
| existiert. Aber die Menschen denken meistens in: schwarz oder weiß, gut | |
| oder böse. Dazu kommt, dass viele wenig Kontakt mit jüdischen oder | |
| palästinensischen Personen haben und oft auch wenig Hintergrundwissen. Und | |
| dann daraus folgern, eine sei die richtige Seite und auf der stünden sie. | |
| Am Ende wäre die einzige richtige Seite, auf der man stehen sollte, die der | |
| Menschlichkeit. Das ist so banal eigentlich, aber das fällt den meisten | |
| schwer. | |
| taz: Und wie können Sie das ändern? | |
| Hassoun: Wir gehen mit den Jugendlichen ins Gespräch. Und die sind | |
| schonungslos ehrlich, das sage ich Ihnen. Aber das können wir dann eben | |
| auch hinterfragen: Aha, du denkst also so. Warum? Woher hast du deine | |
| Informationen? Was ist deine Intention? Es ist ja ehrenvoll, dass du dich | |
| für die Rechte der Palästinenser einsetzt – aber hast du auch Mitgefühl f�… | |
| die jüdische Seite? Und wenn nein, warum nicht? Umgekehrt genauso: Wenn du | |
| nur Mitgefühl für die Geiseln hast, aber nicht für die Menschen in Gaza: | |
| Warum ist das so? Woher kommt das? Ich rede jetzt nicht von den Hardlinern, | |
| den komplett Radikalisierten. Die erreichen wir natürlich nicht. Aber die | |
| vielen anderen, bei denen können wir erstaunlicherweise auch in dieser | |
| polarisierten Lage wirklich etwas bewegen. | |
| taz: Warum funktioniert das, was glauben Sie? | |
| Hassoun: Weil wir es ganz real vorleben. Ich selber gehe momentan nicht | |
| mehr in Schulen, mir fehlt dafür die Kraft und die Zeit. Aber wir haben ein | |
| tolles Team. Das trifft oft auf Kinder und Jugendliche, die nur Hass und | |
| Gewalt auf ihren Smartphones sehen und „die anderen“ [7][bis aufs Blut | |
| hassen]. Und dann kommt eine israelische oder jüdische Person zusammen mit | |
| einer palästinensischen Person, und sie stehen miteinander für die Rechte | |
| des jeweils anderen ein. Für viele ist es unvorstellbar, dass es so etwas | |
| überhaupt gibt. Es dann selbst zu erfahren – das macht wirklich einen | |
| Unterschied. | |
| 9 Oct 2025 | |
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