| # taz.de -- Der israelische Zeichner Zeev Engelmayer: Hoffnung in diesen schwar… | |
| > Seit dem 7. Oktober 2023 hat Zeev Engelmayer 700 Postkarten gezeichnet. | |
| > Die Bilder sind voller Empathie, und zwar nicht nur für die eigene Seite. | |
| Bild: Tel Aviv 2024: Mit Postern demonstriert Zeev Engelmayer für die Befreiun… | |
| Zeev Engelmayer sitzt in seinem Büro in Tel Aviv und kramt in einer Kiste. | |
| Eine Zeichnung nach der anderen zieht er hervor. Dann hält er ein Bild | |
| hoch: ein Regenbogen über einer Blumenwiese. Darauf sitzen, der | |
| Betrachterin den Rücken zugewandt, eine Frau und zwei kleine Kinder. | |
| Rothaarig. Sie blicken in die Ferne. Es ist ein farbenfrohes Bild. „Das war | |
| der traurige Tag, an dem wir erfahren haben, dass Shiri Bibas und ihre | |
| Kinder Ariel und Kfir nicht mehr leben“, sagt Engelmayer. | |
| Und blättert weiter: lächelnde und weinende Gesichter, Umarmungen, | |
| Beerdigungen, Hoffnung, Trauer. Meistens in bunten Farben, mit Filzstift, | |
| fast wie Kinderzeichnungen. Weit mehr als 700 Bilder hat der israelische | |
| Cartoonist und Illustrator seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 | |
| veröffentlicht, unter dem Titel „Hagluyah hayomit“ – die tägliche | |
| Postkarte. | |
| Bis zum 7. Oktober war der heute 63-Jährige vor allem für seine Kunstfigur | |
| Shoshke bekannt: eine schrille und vor allem sehr nackte blonde Frau, laut, | |
| die sich nicht darum schert, was andere denken. Erst als Cartoon | |
| entstanden, ließ Engelmayer sich 2016 für eine Ausstellung in Tel Aviv | |
| einen Ganzkörperanzug nähen und wurde selbst zu Shoshke. | |
| Seitdem ist die freiheitsliebende Figur mit der übergroßen Vulva zu einer | |
| der bekanntesten Polit-Aktivistinnen Israels geworden, immer präsent auf | |
| Demonstrationen gegen die Korruption des Premierministers, gegen den | |
| autoritären Umbau der Justiz, für die Rechte der Palästinenser und anderer | |
| Minderheiten im Land und für die israelische Demokratie. | |
| ## Videos der Gewalt | |
| „Seit dem 7. Oktober war ich nicht mehr Shoshke“, sagt Engelmayer heute. | |
| Stattdessen zeichnet er Postkarten. Erst hatte er gar nicht vor, daraus ein | |
| inzwischen seit über zwei Jahren andauerndes Projekt zu machen. „Es war | |
| einfach mein Weg, mit dem Schrecken umzugehen.“ | |
| Stunde um Stunde hätten sie während der Raketenalarme im Schutzraum | |
| verbracht. „Ich habe all diese grässlichen Bilder und Videos der Gewalt | |
| gesehen, in den Nachrichten, auf meinem Telefon, überall, und konnte nicht | |
| glauben, dass das wahr ist“, sagt Engelmayer. Auf einem Tisch habe ein | |
| Stift gelegen. „Da habe ich angefangen zu zeichnen.“ | |
| Eines der ersten Bilder, veröffentlicht am 13. Oktober 2023, zeigt in | |
| Schwarzweiß weinende und am Boden liegende Menschen in Graustufen. „Ich | |
| musste [1][an Guernica denken,] sagt Engelmayer, das berühmte | |
| Antikriegsgemälde Picassos aus dem Jahr 1937. | |
| Das erste bunte Bild zeigte einen Kibbuz, Häuser mit roten Dächern, den | |
| Wasserturm, die roten Windröschen, die für den Süden Israels so | |
| charakteristisch und seit dem 7. Oktober ein Symbol der Solidarität | |
| geworden sind. „Etwas Schreckliches wird geschehen“, steht unter der | |
| Zeichnung. | |
| ## Regenbogen über Gaza und Tel Aviv | |
| Wenige Tage später ein weiteres Bild: Die gleiche Ansammlung von Gebäuden, | |
| aber alles brennt. Vermummte Männer ziehen mordend umher, Menschen liegen | |
| in Blutlachen. „Es ist Be’eri, aber es könnte jedes der Kibbuzim sein“, | |
| sagt Engelmayer. „Zwei Wochen lang habe ich all die schrecklichen Bilder | |
| gezeichnet, die wir jeden Tag gesehen haben. Dann dachte ich: Genug. Die | |
| Tage sind ohnehin schon so schwarz – ich zeichne jetzt Hoffnung.“ | |
| Ein Regenbogen verbindet [2][Gaza und Tel Aviv.] Über diesen Regenbogen | |
| rutschen lachende Kinder. Am Himmel treiben Schäfchenwolken, aus dem Meer | |
| lächelt ein Wal ihnen zu. „Die Kinder kommen nach Hause“, steht darüber. | |
| Auf einem anderen Bild sitzt eine ältere Frau in einem Golfcart, wie sie in | |
| den Kibbuzim häufig benutzt werden. Sie ist umringt von Tänzerinnen und | |
| Blumen. Es ist eine Abwandlung des Fotos der 85-jährigen Yaffa Adar, die am | |
| 7. Oktober genau auf einem solchen Gefährt und umringt von | |
| Hamas-Mitgliedern aus ihrem Zuhause im Kibbuz Nir Oz entführt wurde. „Aber | |
| ich habe entschieden, nicht die Terroristen und die Gewalt zu zeichnen, | |
| sondern etwas Fröhliches daraus zu machen“, sagt Engelmayer. | |
| Es ist dieses Bild von Yaffa Adar, das der Beginn der „täglichen | |
| Postkarten“ war. Mehr und mehr Angehörige von Entführten und Ermordeten | |
| meldeten sich bei Engelmayer und baten ihn, ihre Liebsten zu zeichnen. „Es | |
| Postkarten zu nennen, nahm mir den Druck“, sagt Engelmayer: Für Kunst | |
| brauche er Zeit, eine Postkarte könne er leichter in die Welt | |
| hinausschicken. | |
| ## Die Angehörigen kämpften weiter | |
| Seitdem zeichnet er. Nicht immer täglich, dafür an manchen Tagen mehrere | |
| Karten. Und seine Bilder finden sich nicht nur im Netz, sondern in ganz | |
| Israel: auf den Demonstrationen für ein Ende des Kriegs und [3][die | |
| Rückkehr der Geiseln.] In Ausstellungen, an Schulen, an Ständen im | |
| Mahane-Yehuda-Markt in Jerusalem, an Verwaltungsgebäuden im ganzen Land. | |
| Und in den Wohnungen der Angehörigen. | |
| „Ich habe die meisten Familien derer, die ich gezeichnet habe, getroffen“, | |
| sagt Engelmayer. Es habe ihn nur noch mehr davon überzeugt, mit dem Projekt | |
| weiterzumachen. „Diese Menschen haben schreckliche Zeiten durchgestanden. | |
| Mit jeder Bombardierung in Gaza steigerte sich auch die Gefahr für ihre | |
| Liebsten. Unsere Regierung, die eigentlich für sie verantwortlich war, hat | |
| sie schrecklich behandelt – und sie haben weiter gekämpft.“ Zu sehen, dass | |
| seine Bilder sie berührten, habe ihn bestärkt. | |
| Hoffnung zu zeichnen, sei jedoch in den vergangenen zwei Jahren oft schwer | |
| gewesen. Ein Bild zeigt den kleinen Kfir Bibas an seinem ersten Geburtstag: | |
| Der rothaarige Junge sitzt vor einem Kuchen mit Kerze, über ihm eine | |
| Girlande und ein Ballon. Farbenfroh, doch der Hintergrund ist düster. Das | |
| Kleinkind ist umringt von vermummten Terroristen. „Da wussten wir noch | |
| nicht, dass Kfir seinen ersten Geburtstag gar nicht erlebt hat“, sagt | |
| Engelmayer. Schwer sei es auch, wenn Angehörige ihn bitten, Gefühle zu | |
| zeichnen: Sehnsucht, Liebe. | |
| Engelmayers Bilder berühren, weil sie so voll sind von dem, was in diesen | |
| Zeiten oft fehlt: tiefe und umfassende Empathie. Und zwar nicht nur für die | |
| „eigene“ Seite. Im April dieses Jahres zeigte eine Postkarte zwei Kinder: | |
| einen rothaarigen Jungen und ein braunhaariges Mädchen, beide umringt von | |
| Schmetterlingen. „Ariel Bibas, 4 Jahre, ist nicht mehr unter uns“, steht | |
| unter dem Jungen. „Naya Abu Daff, 5 Jahre, ist nicht mehr unter uns“, unter | |
| dem Mädchen. Beide Kinder starben in Gaza, der eine durch die Hände der | |
| Hamas, die andere durch israelische Bomben. | |
| ## Die Kinder schützen | |
| „Ariel und Naya sind unschuldige Opfer von Erwachsenenkriegen“, schrieb | |
| Engelmayer neben das Bild. „Sie konnten sich nicht vor Gewalt schützen. Wir | |
| haben es versäumt, sie zu schützen.“ | |
| Es ist nicht das einzige Bild, mit dem Engelmayer die humanitäre | |
| Katastrophe in Gaza zeigt. Hungernde Kinder halten leere Töpfe im Arm. | |
| Mütter, die ihre toten Kinder beweinen. Neun Kinder einer einzigen Familie, | |
| die in ihrem Zuhause durch israelische Bomben starben, das älteste 12 Jahre | |
| alt, das jüngste erst sieben Monate. In der Bildbeschreibung hat Engelmayer | |
| die Namen aller neun Kinder aufgeschrieben. „In israelischen Medien habe | |
| ich diese Namen nirgends gefunden“, sagt Engelmayer. Er habe sie in | |
| ausländischen Zeitungen gesucht. | |
| Als das israelische Militär Ende November und während der Waffenruhe die 8 | |
| und 11 Jahre alten Brüder Juma and Fadi Abu Asi in Khan Yunis tötete, weil | |
| sie die Gelbe Linie überquert hatten, zeichnete er die beiden und schrieb: | |
| „Kinder sind keine Feinde“, und: „Wenn wir keine Tränen, keinen Schmerz … | |
| kein schreckliches Bedauern über den Tod von Kindern finden, wenn wir nicht | |
| Emotionen und Mitgefühl wiederherstellen, werden wir keine Zukunft haben | |
| als gutes und moralisches Land.“ | |
| „Israelische Medien berichten kaum über das Leid in Gaza“, sagt Engelmayer. | |
| Die Toten blieben Zahlen, keine Menschen mit Geschichten. Und das forme das | |
| Bild mit, das Menschen in Israel vom Krieg hätten. „Was in Israel passiert, | |
| ist eine Tragödie, die hier jeder kennt. Aber die Tragödie in Gaza, und | |
| auch im Westjordanland – die sind hier wenigen bewusst.“ | |
| ## Gegen alles, was er glaubt | |
| Wenig überraschend sind so auch die Reaktionen mancher Menschen auf diese | |
| Postkarten. „Leute schreiben mir, ich könne nicht gleichzeitig über Ariel | |
| und Naya sprechen.“ | |
| Er sei bestürzt, wenn er Menschen sagen höre, in Gaza gebe es keine | |
| unschuldigen Zivilisten. „Es ist schrecklich. Es sind solche Aussagen, die | |
| es überhaupt möglich gemacht haben, dort so viele Menschen zu töten“, sagt | |
| Engelmayer. „Und solche Worte kommen auch von unseren Politikern. In diesem | |
| Land sind Menschen an der Macht, [4][die antidemokratisch sind,] die den | |
| Tempel wieder aufbauen und Gaza und die besetzten Gebiete annektieren | |
| wollen. Das geht gegen alles, woran ich glaube.“ | |
| Wann das Projekt der „täglichen Postkarten“ enden wird? „Ich dachte, ich | |
| zeichne, bis die letzte Geisel zu Hause ist“, sagt Engelmayer. Der Körper | |
| eines letzten Entführten ist noch in Gaza, die Familie des Polizisten Ran | |
| Gvili wartet darauf, ihn bestatten zu können. „Aber inzwischen bin ich | |
| nicht mehr so sicher“, sagt Engelmayer. „Inzwischen habe ich das Gefühl, | |
| das ganze Land wurde von dieser schrecklichen Regierung in Geiselhaft | |
| genommen.“ | |
| 9 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Steinmeier-auf-Staatsbesuch-in-Spanien/!6133459 | |
| [2] /Versoehnung-in-Israel-und-Palaestina/!6117496 | |
| [3] /Nach-ueber-zwei-Jahren-Geiselhaft-in-Gaza/!6119918 | |
| [4] /Proteste-in-Israel/!6131880 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
| ## TAGS | |
| Israel | |
| Gaza | |
| 7. Oktober 2023 | |
| Künstler | |
| Porträt | |
| Social-Auswahl | |
| Tunnel | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| 491 Tage in Hamas-Gefangenschaft: Im Tunnel von Gaza | |
| Eli Sharabi war eines der Entführungsopfer beim Terrorüberfall der Hamas am | |
| 7. Oktober 2023. In einem bewegenden Buch beschreibt er seine Zeit als | |
| Gefangener. | |
| Beisetzung toter Geisel: Kaddish für Itay | |
| Nach 760 Tagen ist der israelische Soldat Itay Chen seiner Familie tot | |
| zurückgegeben worden. Der Riss durchs Land zeigte sich bei seiner | |
| Trauerfeier. | |
| Über die humanitäre Lage im Gazastreifen: „Geld in Gaza fühlt sich an wie … | |
| Die Lage der Menschen in Gaza sei katastrophal, sagt Jouanna Hassoun. Mit | |
| ihrer Organisation Transaidency bringt sie Lebensmittel zu den Menschen. |