| # taz.de -- Thriller „A House of Dynamite“: Die Zahnpasta ist aus der Tube | |
| > Kathryn Bigelow probt im Thriller „A House of Dynamite“ den Ernstfall auf | |
| > globaler Ebene. Die Action verlegt sie in die Hierarchie der | |
| > US-Regierung. | |
| Bild: Ein fast normaler Tag im Weißen Haus: Captain Olivia Walker (Rebecca Fer… | |
| Der Ernstfall bedeutet: Es geht alles sehr schnell. „19 Minuten bis zum | |
| Einschlag“, meldet eine Stimme aus irgendeinem Kontrollraum. Menschen in | |
| Anzügen und Uniformen rücken ihre Sitze gerade, setzen sich die Headsets | |
| auf, konzentrieren sich. Aber noch glaubt niemand so wirklich an den | |
| Ernstfall. Diejenigen, die es wissen müssten, die Vorgesetzten in den | |
| jeweiligen Räumen, werfen ihren besorgten Untergebenen beruhigende Blicke | |
| zu und machen beschwichtigende Handbewegungen. „Du hast es im Griff. Wir | |
| haben das tausendmal geübt.“ | |
| Dann gibt es eine Fehlfunktion, damit war zu rechnen. Aber dann eben noch | |
| eine. Und dann die trockene Meldung eines „negativen Kontakts“. Damit hat | |
| keiner gerechnet. Nun sind es noch sechs Minuten. Und eine Stadt mit zehn | |
| Millionen Einwohnern ist bereits aufgegeben. Sorry, Chicago. | |
| Allein schon wegen dieses Vibe Shifts muss man Kathryn Bigelows „A House of | |
| Dynamite“ gesehen haben. Wie sich von einem Moment auf den anderen alles | |
| verändert, die Stimmung kippt, eine Art Schockfrost einsetzt. Eben noch gab | |
| es die Illusion von Kontrolle, von Übersicht, von geregeltem Ablauf. Im | |
| nächsten Moment ist alles anders, der Zug abgefahren, die Zahnpasta aus der | |
| Tube. Welche Handlungsoptionen gibt es überhaupt noch? Eine Figur | |
| beschreibt es als eine Wahl zwischen Kapitulation oder Selbstmord. „Ihre | |
| Entscheidung, Mr. Präsident!“ | |
| Angst vor dem Atomkrieg | |
| In den 1980er Jahren war die Angst vor dem Atomkrieg so alltäglich wie | |
| heute die Themen des Kulturkampfs. Je mehr sich die Gegner des Kalten | |
| Kriegs einander annäherten, desto größer wurde die Furcht vor einer | |
| eventuellen Fehlfunktion der Systeme. Was, wenn irgendwo ein Flugobjekt | |
| hochgeht und auch nur versehentlich den Erstschlag auslöst? | |
| Es gab damals schon Filme darüber. Sidney Lumet hat bereits 1964 mit | |
| „Angriffsziel Moskau“ den Roman „Fail Safe“ adaptiert. 1983 war „WarG… | |
| mit Matthew Broderick ein internationaler Kinohit. Im selben Jahr sang Nena | |
| den epochemachenden Song dazu: „99 Luftballons … auf ihrem Weg zum | |
| Horizont“. | |
| Bigelow verweist am Anfang von „A House of Dynamite“ mit Schriftzug darauf, | |
| dass es seinerzeit die Übereinkunft gab, die Zahl der Atomwaffen zu | |
| begrenzen, um das Risiko eines Atomkriegs zu verringern. Inzwischen scheint | |
| das in Vergessenheit geraten zu sein. | |
| Ihr Film ist ein Weckruf, wenn man so will. Er bringt in Erinnerung, wie | |
| groß die Gefahr immer noch ist. Fast überdeutlich erklärt im Film selbst | |
| der von Idris Elba verkörperte amerikanische Präsident die Metapher des | |
| Titels, da sitzt er schon im Helikopter unterwegs zum Atombunker. Auf | |
| Deutsch beschreibt man die Lage bündig mit: Wir sitzen auf einem | |
| Pulverfass. | |
| Mehr als eine Warnung vor dem Ernstfall | |
| Aber Bigelows Film ist zugleich mehr als nur die Warnung davor, wie schnell | |
| im Ernstfall alles geht und wie wenig Optionen dann noch bleiben. Wie schon | |
| in [1][„The Hurt Locker“ (2008)] und besonders in [2][„Zero Dark Thirty“ | |
| (2012)] interessiert sich Bigelow für Entscheidungsprozesse. Und zwar | |
| sowohl für die der Institutionen mit ihren Handbüchern, ihren Apparaten und | |
| Hierarchien als auch für die in den Köpfen der Menschen mit ihrem Wissen, | |
| ihren Erinnerungen und ihren hochschießenden Emotionen. | |
| „A House of Dynamite“ ist in drei ungefähr gleich lange Kapitel geteilt. Im | |
| ersten wird ein Flugkörper über dem Pazifik entdeckt. Zuerst denkt man | |
| noch, er geht direkt ins All, dann stellt man fest, dass die Flugbahn einen | |
| Bogen beschreibt, und dann, dass das Ende dieses Bogens in der Gegend bei | |
| Chicago liegt. Die bereits erwähnten „19 Minuten bis zum Einschlag“ werden | |
| gemeldet. | |
| In der Raketenabwehrstation in Alaska und im Lagezentrum des Weißen Hauses | |
| – an der Wand sieht man an einer Stelle das berühmte Foto mit Barack Obama, | |
| Hillary Clinton und all den anderen, wie sie am 1. Mai 2011 die Erschießung | |
| Osama bin Ladens beobachten – kommen die Prozesse in Gang. | |
| Informationen werden gesammelt, die Videokonferenz mit dem General, dem | |
| Sicherheitsberater, dem Verteidigungsminister und dem Präsidenten ist | |
| eingerichtet. Wer die Rakete abgeschossen hat, lässt sich schon nicht mehr | |
| feststellen. Der Countdown läuft, und auf einmal wird deutlich, dass die | |
| Handbücher und Befehlsreihen vielleicht vorbereitet sind, aber nicht die | |
| Menschen. | |
| Drei verschiedene Perspektiven | |
| Zweimal setzt Bigelow die Uhr zurück und schildert die Ereignisse aus | |
| jeweils anderer Perspektive. Wobei es nicht im „Rashomon“-Stil darum geht, | |
| andere Seiten oder Widersprüche zu enthüllen. Der Fokus verlagert sich in | |
| der Hierarchie nach oben. Weil sie miteinander interagieren, bleiben die | |
| Akteure im Wesentlichen dieselben, nur dass sie vom Vorder- in den | |
| Hintergrund treten. | |
| In der ersten Sequenz gruppiert sich die Erzählung um die | |
| Sicherheitsbeamtin Olivia Walker (Rebecca Ferguson) im Lagezentrum des | |
| Weißen Hauses herum. In der zweiten bildet der Verteidigungsminister (Jared | |
| Harris) und in der letzten der US-Präsident (Elba) den Brennpunkt der | |
| Aufmerksamkeit. | |
| Aber im Unterschied zum üblichen Actionfilm agieren diese Figuren eben | |
| nicht als zentrale Helden, die Einfluss nehmen aufs Geschehen. Sie alle | |
| werden dargestellt als Teile ihrer jeweiligen Apparate, ihrer | |
| Institutionen, mehr oder weniger zur puren Reaktion verdammt. Der Ernstfall | |
| müsste den Beweis dafür liefern, dass die Einzelnen versagen können, aber | |
| die Institution sich bewährt. Genau das stellt dieser Film infrage. | |
| Keiner kann die inhärent öden Abläufe von Kommandozentralen und | |
| Regierungsbüros so spannend darstellen wie Kathryn Bigelow. Mit ihrem | |
| meisterhaften Gespür für Rhythmus collagiert sie hier den individuellen | |
| Alltag von mehr als einem Dutzend einzelner Figuren an den verschiedenen | |
| Enden der Betroffenheit. Dass Olivia Walker die Nacht durchwachte, weil ihr | |
| kleiner Sohn Fieber hatte, dass ihr Adjutant vorhat, seiner Freundin einen | |
| Heiratsantrag zu machen, dass der Vize des Sicherheitsberaters im Stau | |
| steht, diese Dinge schildert der Film mit der Atemlosigkeit eines | |
| Heist-Movies. | |
| Summe der Zufälligkeiten | |
| Die Alltäglichkeit macht die Figuren menschlich. Es könnte verkitschend | |
| wirken – eine junge Frau ist schwanger und jetzt geht die Welt unter! –, | |
| aber in diesem Film ergibt die Summe der Zufälligkeiten und | |
| Individualitäten noch etwas anderes. Je höher in der Hierarchie, desto | |
| chaotischer wird es. Nicht, weil „oben“ die schlechteren Menschen sitzen, | |
| sondern weil es eben auch da nur Menschen sind. | |
| Bigelows Film erhebt Anspruch auf absolute Aktualität. Aber in einem läuft | |
| er ganz gegen den Strich: In keiner Szene, noch nicht mal im Hintergrund | |
| versteckt irgendwo, gibt es eine Anspielung auf die aktuelle US-Regierung | |
| und Donald Trump. | |
| Der Verteidigungsminister, den Jared Harris hier verkörpert, wird in kurzen | |
| Szenen als um seine kürzlich verstorbene Frau trauernder Witwer | |
| charakterisiert, der die Vorstellung, nun auch noch seine Tochter zu | |
| verlieren, nicht erträgt. Den US-Präsidenten gibt Idris Elba als an diesem | |
| Tag etwas ausgepowerten, aber prinzipiell fähigen Mann. Aber was nutzt all | |
| die Kompetenz angesichts einer Entscheidung, die lautet: Selbstmord oder | |
| Kapitulation? | |
| An einer Stelle hat die Gegenwart diesen Film bereits überholt: Der | |
| Bildschirm, der im Lagezentrum dem Verteidigungsminister vorbehalten ist, | |
| trägt im Film noch immer die Bezeichnung „SecDef“, kurz für Secretary of | |
| Defense. Da müsste dem Willen von Amtsinhaber Pete Hegseth nach inzwischen | |
| wohl „SecWar“, kurz für Secretary of War, stehen, was einem einen Schauer | |
| über den Rücken jagt. | |
| 8 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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