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# taz.de -- Kreislaufwirtschaft: Algen in Turnschuhen
> Die Bioökonomie will fossile Produkte durch regionale, pflanzliche Stoffe
> ersetzen. Wie das klappen kann – und wo sie schon eingesetzt wird.
Bild: Fossile Bestandteile von Sneakern lassen sich in einem bioökonomischen A…
Bioökonomie – was ist das?
„Eine nicht lineare Wirtschaftsweise“, sagt Brigitte Kempter-Regel. Sie
arbeitet am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik
in Stuttgart und ist Expertin für Bioökonomie. Wirtschaft, die heutzutage
fast ausschließlich auf fossiler Energie und fossilen Rohstoffen beruht,
sei linear, bei Herstellungsprozessen [1][bleibt also immer Abfall übrig].
„In der Bioökonomie ist das anders, hier wird in Kreisläufen
gewirtschaftet, Abfall gibt es hier nicht“, sagt Brigitte Kempter-Regel.
Der Output aus einem Prozess sei der Ausgangspunkt für den nächsten. Neben
biologischen Materialien komme auch biologisches Wissen zum Einsatz.
„Die Bioökonomie ist sehr breit“, sagt auch Ulrich Schurr, Leiter des
Instituts für Pflanzenwissenschaften am Forschungszentrum Jülich: „Ihr
Einsatz reicht von der Nahrungsmittelproduktion über die Herstellung von
Chemikalien und Rohstoffen für die Bauwirtschaft bis hin zu Pharmazeutika.“
Wesen der Bioökonomie sei auch, fossil basierte Rohstoffe zu ersetzen, sagt
der Pflanzenphysiologe und Bioökonom: „Wenn wir in 20 Jahren klimaneutral
werden wollen, dürfen wir nicht nur die energetische Nutzung
defossilisieren, auch die stoffliche Nutzung muss sich grundlegend ändern.“
## Wo gelingt das bereits?
„Schmierstoffe zum Beispiel werden traditionell aus [2][Erdöl]
hergestellt“, sagt Brigitte Kempter-Regel. Müssen sie aber gar nicht, man
kann als Rohstoff auch [3][Raps-, Sonnenblumen- oder Rizinusöl] verwenden.
Bereits heute seien diese teilweise so gut, dass sie auch in besonders
sensiblen Bereichen wie Rennwagen eingesetzt werden können.
Rapsöl etwa wird traditionell bei hohem Druck, hohen Temperaturen und unter
Einsatz teils toxischer Chemikalien hergestellt. Allerdings leidet dabei
die Qualität, und viele Reststoffe, etwa die Schalen und Kerne, gehen
verloren. Am Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biotechnologische Prozesse
haben sie in Leuna einen Extraktions-Reaktor für Raps entwickelt, der
ressourcenschonender arbeitet. Das neue Verfahren arbeitet unter milderen
Prozessbedingungen, was die Struktur der Rapsproteine bei der Verarbeitung
kaum verändert: Neben einem hochwertigeren Öl können auch die Reste genutzt
werden, der Rapsschrot lässt sich beispielsweise zu Burger-Patties und
Pasta verarbeiten oder als nahrhaftes Futtermittel in der Geflügelmast
einsetzen. Aus den Rapsschalen lassen sich wiederum Dämmstoffe herstellen.
Dieses „Ohne Abfall“ illustriert Brigitte Kempter-Regel mit der
Apfelsaft-Herstellung: „Früher wurde lediglich das Fruchtfleisch
ausgepresst und der Saft weiterverarbeitet, heute nutzen wir alles.“ Aus
den festen Rückständen – dem sogenannten Apfeltrester – wird
Verpackungsmaterial hergestellt, und was dann noch übrig bleibt, wandert in
die Biogasanlage zur Energiegewinnung.
Porsche nutzt nachwachsende Pflanzenfasern, um das Interieur seiner Autos
zu bestücken, der [4][Outdoorspezialist Vaude] verwendet biobasiertes
Polyurethan, das aus landwirtschaftlichen Nebenprodukten wie
Zuckerrohr-Resten hergestellt wird, Continental bietet Reifen an, die mit
Naturkautschuk aus Löwenzahnwurzeln gefertigt wurden. Am Karlsruher
Institut für Technologie ist es Forschern gelungen, aus einem Pilzmyzel
Platten herzustellen, die Span- oder Faserplatten ersetzen können. Während
diese durch ihren Kleber nach der Nutzung auf den Sondermüll müssen, können
die Pilzmyzel-Platten einfach kompostiert werden.
## Sind der Ausgangspunkt immer landwirtschaftliche Produkte?
„Im Prinzip ja, es geht um nachwachsende Rohstoffe“, sagt Ulrich Schurr.
Das betrifft aber auch die Abfälle in der Biotonne oder in der Kläranlage.
„Es geht nicht nur um das, was auf dem Acker wächst.“
Dem pflichtet Brigitte Kempter-Regel bei: „Wir müssen die vorhandenen
Rohstoffe besser nutzen.“ Das, was heute vielfach noch als Abfall angesehen
wird, versuche die Bioökonomie als Rohstoff umzusetzen. Von Krabbenschalen
bis faserigen Pflanzenstängeln – auch bei der Verarbeitung von
Lebensmitteln oder agrarischen Produkten würden Reststoffe zuhauf anfallen.
Zudem gebe es Verfahren in der Forschung, bei denen Mikroorganismen aus
Erzen oder Schrott beispielsweise „s[5][eltene Erden]“ gewinnen, auch wenn
das Verfahren noch nicht marktreif ist.
## Warum hat sich die Bioökonomie noch nicht durchgesetzt?
„Weil fossile Rohstoffe immer noch so billig sind“, sagt Ulrich Schurr. Da
die produzierenden Unternehmen die ökologischen [6][Folgen des Klimawandels
oftmals an die Gesellschaft auslagern könnten], sei die Bioökonomie an
vielen Stellen noch teurer als das fossile System. „Wenn aber zum Beispiel
der Preis für CO2-Zertifikate weiter steigt, dann kommen wir auf
vergleichbare Herstellungskosten.“ Zudem käme ein Verhaltensthema dazu:
„Wir kaufen heute immer noch an vielen Stellen das Billigste, statt nach
dem Nachhaltigsten zu greifen.“ Eine Verhaltensänderung könnte der
Bioökonomie einen Schub bringen.
„Dazu kommt die Mengenfrage“, erläutert Brigitte Kempter-Regel. Erdöl ist
in riesigen Mengen vorhanden, in der Bioökonomie geht es dagegen um
kleinere Rohstoffeinheiten. Bei Weintraubenkernen etwa ist es schwierig,
für diese einen ökonomisch lukrativen Verwertungsweg zu finden.
## Seit wann gibt es die Bioökonomie?
Im Prinzip schon immer, sagt Forscherin Brigitte Kempter-Regel. „Der Bauer
nutzt die [7][Gülle seiner Rinder als Rohstoff]: Der darin enthaltene
Stickstoff geht als Dünger zurück auf die Felder.“ Der Begriff dafür ist
allerdings erst etwa 30 Jahre alt, der Klimawandel habe ein Bewusstsein
dafür geschaffen, Ökonomie anders zu denken.
„Bislang war die Bioökonomie ein stark aus der Wissenschaft getriebenes
Konzept, jetzt geht es darum, dieses in der wirtschaftlichen Praxis
voranzutreiben“, sagt Ulrich Schurr. Er ist Co-Vorsitzender des
Bioökonomierates des Landes Nordrhein-Westfalen, der die Landesregierung
bei der Entwicklung einer Landesstrategie zur Bioökonomie berät. Er hat
zudem die Initiative BioökonomieREVIER ins Leben gerufen, um Forschung in
die Praxis zu überführen. Der Strukturwandel in der Kohleregion Rheinisches
Revier soll das erste Modell für nachhaltige Bioökonomie in Europa werden.
## Weltweit sinkt die verfügbare Ackerfläche, Millionen Menschen hungern.
Gibt es überhaupt genug Platz für die Bioökonomie?
„Natürlich ist die Flächenkonkurrenz ein Thema, zumal wir ja auch noch
Platz für die erneuerbaren Energien brauchen“, sagt Ulrich Schurr. Deshalb
bräuchten wir eine andere Landwirtschaft. „Beispielsweise durch die
Digitalisierung: Dabei koppeln wir Ertragsdaten mit Satelliteninformationen
zur Verfügbarkeit von Wasser. Auf diese Weise können wir optimal
Trockenstress von Pflanzen minimieren.“ Zudem seien Agri-Solarsysteme
notwendig: [8][Photovoltaik-Anlagen, die beispielsweise über Obstbäumen
Energie erzeugen], die darunter wachsenden Äpfel oder Kirschen vor Hagel
oder zu starker Sonneneinstrahlung schützen.
Brigitte Kempter-Regel fügt hinzu, dass es bei der Bioökonomie eben nicht
darum gehe, mehr vom Feld zu holen. „Bioökonomie ist, das, was vorhanden
ist, besser zu nutzen.“
## Wie viel Bioökonomie gibt es heute schon in Deutschland?
Nach [9][Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums] arbeiten aktuell rund
4,5 Millionen Menschen im Bereich der Bioökonomie, etwa jeder zehnte
Beschäftigte. „Allerdings ist die Definition nicht sehr scharf“, sagt
Brigitte Kempter-Regel. Beispielsweise rechnet die Statistik die
Altpapier-Wirtschaft mit ein, ein altbewährtes Handwerk, das wenig mit den
innovativen Ansätzen der Bioökonomie zu tun hat. Dennoch sagt die
Statistik, dass etwa 6 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung
„bioökonomisch“ erwirtschaftet werden.
Das Bundesland Sachsen-Anhalt ist bei den Umsatzzahlen Spitzenreiter: 16,4
Prozent der Gesamtwirtschaft wird dort bioökonomisch erwirtschaftet. Es
folgen Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Damit liegen die Anteilswerte
der Bioökonomie in den Ländern deutlich über dem bundesdeutschen Schnitt.
## Wie kann die Bioökonomie die Fossilwirtschaft ablösen?
„Politik muss [10][fossile Folgekosten für die Umwelt] stärker einpreisen�…
sagt Ulrich Schurr. Zudem müsse die Landwirtschaft eine Chance in der
Bioökonomie entdecken, denn sie stehe unter massivem gesellschaftlichen und
ökonomischen Druck: „Mit der Bioökonomie könnten die Bauern in Deutschland
eine neue Perspektive entwickeln.“ Auch die Regionalisierung sei ein
wichtiges Prinzip. „Dadurch wird fossiler Kapitalismus faktisch unmöglich
gemacht.“
„Die Klimaschäden, die fossile Produkte hervorrufen, müssen stärker zu
Buche schlagen“, fordert Brigitte Kempter-Regel. Deshalb sei es richtig,
den [11][Handel mit Emissionszertifikaten] auszuweiten. Ab 2027 werden auch
der Verkehrs- und Gebäudesektor einbezogen, Heizen mit Erdgas oder Tanken
von Benzin wird dann deutlich teurer. „Allerdings reicht das nicht aus, wir
müssen auch fossile Subventionen abschaffen.“ Das biete viele Chancen: „Es
entstehen neue, nachhaltige Wirtschaftsfelder.“
Pilzfasern in Medizinprodukten
In der Trinkwasseraufbereitung, bei der Herstellung von Kosmetikprodukten,
um Papier reißfester zu machen oder in Verpackungen von Lebensmitteln kommt
Chitosan zum Einsatz. Doch vor allem wird Chitosan in der Medizin
verwendet. Hier hilft es durch seine [12][antibakterielle Wirkung] bei
Wundauflagen und beugt Pilzinfektionen vor. Gewonnen wurde das natürliche
Polymer lange hauptsächlich aus Krabbenschalen und ersetzte damit
[13][umweltschädliche Chemikalien wie PFAS.]
Diese herkömmliche Methode lässt sich aber nicht für alles verwenden, da
sie Allergien auslösen kann. „Man könnte zwar in sehr aufwendigen und hoch
chemischen Prozessen das Allergierisiko senken, aber das ist aus
ökologischer Sicht nicht immer sinnvoll“, erklärt Sabine Gruber von der
Hochschule Campus Wien. Forscher:innen entwickelten vor einigen Jahren
nun die Möglichkeit, Chitosan aus der Zellwand von Pilzen herzustellen.
Besonders häufig werden dabei der Schwarzschimmel (Aspergillus niger) oder
der Köpfchenschimmel (Mucor rouxii) verwendet. Auch wenn der
Chitosan-Anteil in den Pilzen geringer ist, können Forscher:innen heute
durch gesteuerte Fermentation große Mengen an Pilzbiomasse wachsen lassen.
Mithilfe von Enzymen werden die Chitosan-Anteile in den Pilzen extrahiert,
von Fetten und Proteinen befreit und in Chitosan umgewandelt.
In der [14][Medizin können mit Chitosan] Wundauflagen, Pflaster, Pulver und
Schwämme hergestellt werden, die bei Verletzungen und Operationen dabei
helfen, Blutungen zu stillen. Zudem kann Chitosan die Wundheilung
beschleunigen und Narbenbildung reduzieren. Auch in der Augenheilkunde kann
Chitosan eingesetzt werden. Daraus wird eine Lösung produziert, die bei
Operationen zum Einsatz kommt. Außerdem hilft Chitosan bei Knochenbrüchen
und wird in Nasentamponaden nach Nasen-OPs verwendet.
Algen in Turnschuhen
Vielleicht laufen alle Sneaker-Träger*innen bald auf Algen – und lösen
damit zwei Probleme auf einmal: Denn wenn an Stränden, Seen und Teichen die
[15][Algen wuchern], dann kann das für die zahlreichen Organismen an diesen
Orten schnell zu Sauerstoffmangel führen. Außerdem ersetzt der Algenschaum
erdölbasierte Produkte, die heute in der Automobilindustrie, in
Verpackungen und eben in der Schuhherstellung verwendet werden.
Bereits 2015 gründete sich das Unternehmen [16][„Bloom“] und präsentierte
eine erste Lösung. Mittlerweile gibt es einige Firmen, die sich auf die
Algenmethode spezialisiert haben. Dabei werden die Algen zunächst
geerntet, getrocknet und zu feinem Pulver zermahlen. Anschließend wird es
mit einer Art Bioplastik vermischt. Daraus entsteht ein spezieller
Schaumstoff, der je nach Zusammensetzung zu 15 bis 60 Prozent aus Algen
besteht und aus dem dann Lauf- und Innensohlen gefertigt werden.
Die Verarbeitung verhindert, dass die giftigen Algen weiterhin die Gewässer
belasten und reinigt gleichzeitig Wasser und Luft. So können bei der
Produktion eines Paares Sneaker etwa 38 Liter belastetes Wasser gereinigt
und zurückgeführt sowie 2 bis 5 Kilogramm CO2 pro Paar eingespart werden.
Optisch ist das Endprodukt von algenfreien Schuhen nicht zu unterscheiden,
auch die Herstellungskosten sind ähnlich. Große Marken wie Adidas und Nike
verwenden die Algen-Lösung bereits. Popstar Billie Eilish kollaborierte mit
Nike für die [17][„grüne Revolution in der Modebranche“] und entwarf eine
eigene Kollektion.
27 Sep 2025
## LINKS
[1] /Zero-Waste-in-Berlin/!6045389
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[7] /Landwirtschaft-in-Norddeutschland/!5607308
[8] /Energiewende-in-der-Landwirtschaft/!5872229
[9] https://www.bundeswirtschaftsministerium.de/Redaktion/DE/Dossier/industriel…
[10] /Duerre-Hitze-Fluten/!6113703
[11] /EU-Emissionshandel/!6058364
[12] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2024/daz-49-2024/chitosan…
[13] /Lobbyschlacht-um-Ewigkeitschemikalien/!6062888
[14] https://www.investieren-in-sachsen-anhalt.de/heppemedicalchitosan
[15] /Giftige-Algen-in-Polen/!6031494
[16] https://www.bloommaterials.com/
[17] https://www.hausvoneden.de/lifestyle/algen-die-gruene-revolution-in-der-mo…
## AUTOREN
Nick Reimer
Raweel Nasir
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