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# taz.de -- 30 Jahre Dayton-Abkommen: Von Milošević zu Trump
> Der Friedensvertrag von Dayton, der den Bosnien-Krieg beendete, gilt als
> diplomatischer Erfolg. Doch er markiert den Beginn der autoritären Wende
> im Westen.
Bild: Leider blieb mehr von Milošević als dieses Plakat in Belgrad 2001
In den 90ern wütete in Europa [1][ein Krieg, der heute fast vergessen ist].
Damals feierte man in West und Ost den Zusammenbruch der Sowjetunion und
wähnte sich am Ende der Geschichte. Demokratie und Menschenrechte würden
sich nun weltweit durchsetzen. Währenddessen schien Jugoslawien in einem
anachronistischen Krieg unter der Chiffre: „ethnischer Konflikt“
unterzugehen. Die allgemeine Ansicht war, dass sich in dem multikulturellen
Staat eine Gewaltspirale in Gang gesetzt habe, die sich aus einem
jahrhundertealten Hass der Völker aufeinander nährte, der den Westeuropäern
seit dem Ende des Weltkrieges 1945 gänzlich abhanden gekommen sei.
Tatsächlich ist aus zahlreichen Urteilen des [2][Den Haager
Jugoslawientribunal]s bekannt, dass es sich um einen Angriffskrieg Serbiens
unter Führung von Slobodan Milošević handelte. Hierfür mobilisierte er
100.000 Soldaten, Tausende Panzer, Geschütze, Raketen, Flugzeuge und
Hubschrauber. Auf den Trümmern Jugoslawiens wollte er ein Großreich
errichten, in dem er [3][alle Serben vereinen] würde.
Den gleichen Traum hegte der kroatische Präsident Franjo Tudjman, der sich
mit Milošević darüber einigte, Bosnien untereinander aufzuteilen. Der dabei
im Weg stehenden bosnischen Muslime würde man sich durch ethnische
Säuberung und Massenmord entledigen. Was folgte, war eine Gewaltpolitik,
die man seit der Schoah in Europa nicht mehr gesehen hatte. So wurde ein
Lagersystem geschaffen, in dem Zehntausende Bosniaken, Kroaten, Roma
gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden. Sie waren durch den serbischen
Staat aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen, entrechtet, auf ihr
nacktes Dasein reduziert worden.
Statt sich dem entgegenzusetzen, hegten die westeuropäischen politischen
Eliten klammheimlich Sympathie für die „Bereinigung des Balkans“. Aus einem
Gespräch mit US-Präsident Bill Clinton berichtet der Historiker Taylor
Branch: „Während sie ihre Friedenstruppen als Zeichen ihres Engagements
vorhielten, setzten sie sie tatsächlich als Schutzwall ein, damit die
stetige Zerstückelung Bosniens durch serbische Streitkräfte weitergehen
konnte. Als ich (Taylor Branch) meinen Schock über einen solchen Zynismus
zum Ausdruck brachte, der an die blinde Diplomatie gegenüber der Notlage
der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges erinnerte, zuckte
Präsident Clinton mit den Schultern. Er sagte, der französische Präsident
François Mitterrand habe besonders unverblümt gesagt, dass Bosnien nicht
dazugehöre, und britische Beamte hätten auch von einer schmerzhaften, aber
realistischen Wiederherstellung des christlichen Europas gesprochen.“
## Internationales rechtes Netzwerk
Gleichzeitig fand sich zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein
internationales rechtes Netzwerk aufseiten der serbischen Faschisten
zusammen, das bis heute fortwirkt. So gehörte der Front National-Gründer
Jean-Marie Le Pen zu den Besuchern des radikalen Serbenführers Radovan
Karadžić. Heute hält die Partei unter ihrem neuen Namen Rassemblement
National enge Kontakte zu dem ultranationalistischen Präsidenten der
Serbischen Republik (RS) Milorad Dodik wie dem autokratischen Herrscher
Serbiens Alexander Vučić.
Auch der Vordenker des neuen russischen Imperialismus Alexander Dugin zählt
zu den Verbündeten der serbischen Extremisten. Lega Nord Chef Umberto Bossi
zeigte sich von der Politik des SDS begeistert. Mitglieder der
neofaschistischen Bewegung Goldene Morgenröte stellten die Griechische
Freiwilligen-Garde. Igor Wsewolodowitsch Girkin, Kampfname Strelkov,
kämpfte für die Armee der RS und gilt als einer der Drahtzieher des
Donbass-Konflikts. Er soll für den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges
17 verantwortlich sein und in Višegrad an einem Massenmord an Muslimen
teilgenommen haben. Seine bosnischen Kriegsmemoiren erschienen in Russland.
Wie zu Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs, in dem Linke aus aller Welt für
die Republikanischen Garden kämpften, kamen in den 90er Jahren nun die
rechten Kräfte zusammen, um für die Blut-und-Boden-Ideologie der kommenden
Zeit einzustehen. Sie warteten nur darauf, dass sie mithilfe der nächsten
Krisen in die Regierungen gehievt würden, um ihren Traum von ethnisch
reinen Nationalstaaten zu verwirklichen. Siehe AfD, Trump, Fidesz, RN,
Ukip.
Heute knüpft Trumps Vertrauter und ideologischer MAGA-Vordenker Steve
Bannon Bande mit Dodik, wie auch zu Viktor Orbán, der als
Milošević-Bewunderer und Freund Putins gilt. Regelmäßig treffen sich die
antiliberalen Kräfte, um sich über ihre Strategien auszutauschen und
einander zu stützen, wie 2023 in Serbien.
## „White Supremacy“-Ideologie
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Autoren des „Project 2025“
(eine Blaupause für Donald Trumps Umbau der USA in eine Diktatur) sich
ausgerechnet ein Beispiel am Umbau Ungarns nehmen. Orbán bediente sich
nicht nur Miloševićs Machttechnik, sich staatliche Institutionen dienbar zu
machen, indem er sie mit ihm treu ergebenen Gefolgsleuten besetzte und
gegen die Bürokratie wetterte, sondern ließ sich sogar von seinen Reden
anregen. Die ideologischen Verbindungen sind klar. Die MAGA-Bewegung, die
auf der „White Supremacy“-Ideologie ruht, fürchtet, dass sie innerhalb der
USA zu einer Minderheit wird und auf Dauer die Macht in den politischen
Institutionen verliert.
Was sich in Bosnien abspielte, war kein Rückfall in überwunden geglaubte
Formen, wie der Philosoph Giorgio Agamben 1995 schrieb. Vielmehr handelt es
sich um blutige Vorboten einer kommenden Ordnung, die sich weltweit
durchsetzen würde, sofern die Prinzipien, auf denen sie fußt, nicht infrage
gestellt würden. Kollektive ethnische Exklusivität statt individueller
Bürgerrechte. Eine Verschiebung der juridisch-politischen Ordnung unter
Rückgriff auf Ausnahmezustände. So wie der Westen in Bosnien handeln würde,
sähe seine eigene Zukunft aus.
Und was tat der Westen? Er teilte Bosnien in zwei Entitäten, die RS, die
damals vollständig von Nichtserben gesäubert war, und die Föderation
Bosnien-Herzegowina (FBuH), die vorwiegend Bosniaken und Kroaten bewohnen.
In der RS haben Bosniaken und Kroaten nicht die gleichen Rechte wie Serben,
umgekehrt sind Serben in der FBuH Bosniaken und Kroaten rechtlich nicht
gleichgestellt und die anderen, die sich keiner der drei Ethnien zugehörig
fühlen, stehen ohnehin hinten an.
Der [4][Dayton-Vertrag] transformierte die durch Gewalt geschaffene Ordnung
in einen Verfassungsrahmen und bestätigte juristisch die
Institutionalisierung des Ausnahmezustands. Die Menschenrechte der Opfer
blieben im Namen der Stabilität suspendiert. Bosnien war nicht nur
Kriegsschauplatz, sondern ein Labor ethnischen Engineerings. Dayton wurde
zum Modell, um nach ethnischen Kategorien Bevölkerungsmanagement in Kosovo,
in Irak, in Afghanistan, in Libyen zu betreiben. Heute dient es als
verborgene Matrix in westlichen Demokratien, um hinter dem Anschein von
Rechtsstaatlichkeit Ausnahmezonen einzurichten, etwa in außereuropäischen
Flüchtlingslagern.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends 2001 setzte sich die Entrechtungslogik im
Westen fort. Nach den Anschlägen vom 11. September schufen die USA im
„Krieg gegen den Terror“ die Figur des „non-citizen combatant“ und
errichteten mit Guantánamo ein Lager, in dem die „Feinde“ rechtlos waren.
Weltweit unterhielt die CIA geheime Lager, in denen sie willkürlich
Terrorverdächtige einsperren konnte, ohne rechtliche Grenzen. Die gleiche
Entrechtungslogik wie in den serbischen Lagern.
Frankreich schränkte nach den Terroranschlägen 2015 die Freiheitsrechte
seiner Bürger ein. Unter anderem durften Sicherheitsdienste Menschen auf
bloßen Verdacht hin verhaften oder Hausdurchsuchungen ohne gerichtlichen
Beschluss durchführen. Australien nutzte die Insel Nauru, um Schutzsuchende
in einem „Open-Air-Gefängnis“ von seinem Staatsgebiet fernzuhalten. Unter
Rückgriff auf Ausnahmesituationen erlaubt der Staat Drohnenmorde,
geheimdienstliche Ausspähung ohne richterliche Kontrolle sowie die digitale
Überwachung von eigenen und fremden Bürgern. Bald gibt es zwischen den
westlichen Rechtsstaaten und autokratisch geführten Ländern keine
Unterscheidung mehr. Ob es Minderheiten wie die Uiguren in China, die
Aleviten in Syrien, die Kurden in der Türkei, die Rohingya in Myanmar,
indigene Völker in Südamerika oder politische Gruppen wie die Aktivisten in
Hongkong oder Black Lives Matter sind.
Sympathisanten sind, die als nicht „dazugehörend“ kategorisiert werden: Sie
alle drohen, von den Staaten auf ihr nacktes Leben reduziert zu werden.
Wie schnell der Sturz des Rechtsstaates vor sich geht, zeigt das Vorgehen
der US-Regierung im März 2025. Unter Rückgriff auf den „Alien Enemies Act“
von 1798 schuf man ein rechtliches Vakuum, indem venezolanische Migranten
zu „feindlichen Ausländern“ erklärt wurden, ohne dass individuelle Vergeh…
nachgewiesen werden mussten. Nach einem Abkommen mit El Salvador schob
Trump die Migranten in ein dortiges Gefängnis ab. Eine exterritoriale
Ausnahmezone, in der die Menschen weder unter US-amerikanisches Recht noch
unter regulären salvadorianischen Rechtsschutz fallen.
Trumps Rhetorik stammt direkt aus dem ethnonationalistischen Handbuch, das
mit Dayton internationale Legitimität erlangte. Offen unterstützt er die
ethnische Säuberung des Gazastreifens als Lösung des Konflikts, ganz so,
wie das auch Karadžić in Bosnien vorgeschwebt hatte. Dass nun insbesondere
die Europäer in einen Abgrund blicken, verwundert nicht. Sie standen für
ihre Werte in den 90er Jahren nicht ein, weil sie die Bosniaken als nicht
zugehörig erachteten. Das Recht schütteten sie zu in den bosnischen
Massengräbern.
9 Sep 2025
## LINKS
[1] /Balkan-Korrespondent-ueber-den-Jugoslawienkrieg/!5896694
[2] /UN-Tribunal-zu-Ex-Jugoslawien/!5469999
[3] /Gedenken-an-Srebrenica/!6097180
[4] /25-Jahre-Abkommen-von-Dayton/!5725704
## AUTOREN
Sead Husic
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