| # taz.de -- Ein Besuch in Konstanz am Bodensee: Unter Nimbys | |
| > Beim Städtchen Konstanz im Süden Baden-Württembergs gibt es klares | |
| > Wasser, reiche Menschen – und eine sehr dezente EU-Außengrenze zu | |
| > besichtigen. | |
| Bild: Eine wirklich entspannte Grenze: Konstanz am Bodensee | |
| Konstanz sei klein, aber schön und die gesunde Luft tue Menschen jeder | |
| Nation und jeden Alters gut: So in etwa notiert im 15. Jahrhundert Dietrich | |
| von Nieheim anlässlich des Konzils von Konstanz, auf dem das Abendländische | |
| Schisma beendet werden sollte. Nach der mehrjährigen Zusammenkunft der | |
| Kirchenoberhäupter zwischen 1414 und 1418 hatte die katholische Kirche die | |
| Anzahl ihrer Päpste von drei auf einen reduziert, Legitimitätsstreit | |
| beigelegt und den Reformator Jan Hus auf dem Scheiterhaufen verbrannt. | |
| Etwas mehr als sechs Jahrhunderte später sonnt sich ein hochgewachsener | |
| älterer Herr mit prallem Bauch und sehr dünnen Beinen am Ufer des | |
| Seerheins. Am Wasser lassen Weiden ihre Äste hängen, ein Motorboot zieht | |
| vorbei. | |
| Auch nach Jahrhunderten trifft Dietrich von Nieheims Beschreibung noch zu: | |
| Konstanz ist so schön. Die Alpen liegen schwer über dem Bodensee und fügen | |
| sich mit Licht, Wasser und der Silhouette der Altstadt zu einem Anblick wie | |
| in einer komponierten Ideallandschaft zusammen. Der sonnengebräunte Herr | |
| trägt eine kleine Badehose, die sehr gut sichtbar wird, als er seine Beine | |
| im Kopfstand erst gerade zum Himmel streckt, dann V-förmig zum | |
| Gliederschisma öffnet und schließt. Die Bewegungen führt er mit der | |
| erprobten Ruhe eines Menschen aus, der sich seiner Handlung ganz sicher | |
| ist. | |
| ## Gelassenheit als Lebensmotto | |
| Das gelassene Auftreten der Einheimischen unterscheidet sich vom | |
| touristischen Schlendern, das sich Zeit für zufällige Entdeckungen lässt, | |
| durch Zielbewusstsein, hat aber nichts von der demonstrativen oder | |
| notwendigen Eile einer Großstadt. | |
| „Ist das wirklich Deutschland?“, schreibt der Hamburger Rapper Disarstar im | |
| Sommer über ein Foto von sich am Bodensee. Kurz vorher hatten bei seinem | |
| Auftritt beim Konstanzer Campus Festival Tausende Menschen mit ihm „Siamo | |
| Tutti Antifascisti“ gesungen, wir sind alle Antifaschist*innen. Disarstars | |
| Frage spiegelt die Verwunderung, die viele beim ersten Besuch empfinden. Ob | |
| die Summe der Eindrücke aus Konstanz eigentlich repräsentativ für dieses | |
| Land sein könne, sollte dringend mit Ja beantwortet werden. | |
| Denn ein paar Dinge laufen hier ganz grundsätzlich richtig: Wer auf dem | |
| Bodensee in Seenot gerät, wird gerettet. Bewegungen über die EU-Grenze, die | |
| mitten in der Innenstadt zu verlaufen scheint, weil Konstanz und das | |
| Schweizer Kreuzlingen der Lebensgewohnheit nach einen Ort bilden, passieren | |
| selbstverständlich und sind Ausdruck der vielfach verflochtenen Beziehungen | |
| der Menschen auf beiden Seiten dieser Grenze. Fingerspitzen haben Worte in | |
| Staub auf den Scheiben eines verwaisten Grenzerbüdchens geschrieben. Zu Fuß | |
| flaniert man über die Grenze, kontrolliert wird man eher im Auto oder Bus | |
| außerhalb der Stadt. | |
| Konstanz hat den Klimanotstand ausgerufen und entsendet mit Andreas Jung | |
| einen verhältnismäßig klimasensiblen Unionspolitiker in den Bundestag. | |
| Die Unsichtbarkeit akuter Probleme, die zur sofortigen Handlung aufrufen, | |
| führt auch bei Urlauber*innen zur Beruhigung. Die multiplen Krisen der | |
| Welt existieren weiter, aber leiser, wie hinter einer schalldämpfenden | |
| Glasglocke. Denn fürs Erste ist hier alles in Ordnung: Noch gehört die | |
| Universität zu den Eliteunis, Insekten umtanzen einander in der sauberen | |
| Luft, das Bodenseewasser ist klar, die Menschen sehen zufrieden aus. | |
| Und fit: Das Alter betritt hier nicht als Symbol für Isolation und | |
| Osteoporose die Bühne, sondern radelt zum Tennis. Die älteren Gesichter | |
| sind von der Sonne gefältelt, und die Kleidung, meist dezent sportlich bis | |
| dezent elegant, ist ordentlich gebügelt. | |
| Der Gedanke, dass Menschen mit denkmalgeschützter Immobilie am See und | |
| eigenem Boot nicht mit Kleidung zu protzen brauchen, dass die freiwillige | |
| Selbstauskunft darüber, als wer man gelesen werden möchte, transportiert | |
| durch den kommunikativen Akt des Sich-Bekleidens, womöglich einer | |
| Mietermentalität entspreche, stellt sich ein. | |
| Die Abwesenheit von sichtbarer Armut bei gleichzeitiger Anwesenheit von | |
| ziersamen Bananenbäumen vor bunt gestrichen Altbaufassaden, einer hohen | |
| Lastenraddichte und einer knallvollen Innenstadt, die einen Ausdrücke wie | |
| Leerstand vergessen lässt, deutet an, hier gehe es fast allen gut. | |
| ## Wer arm ist, ist gar nicht hier | |
| Und das stimmt auch. Denn wer sich die Miete in Konstanz nicht leisten kann | |
| oder keine Wohnung findet, ist ja nicht hier, sitzt nicht in den schönen | |
| Cafés der Innenstadt. In Konstanz seien fast alle Mieter*innen | |
| eigentlich wohngeldberechtigt, heißt es am Kneipentresen. In diesen Worten | |
| spiegelt sich die Sorge vor Abstieg und Verdrängung. | |
| Und es heißt auch: Hier setzen sich zugezogene Leute zur Ruhe, für die | |
| Geldsorgen nie ein Thema waren. Die Stadtwerke suchen händeringend | |
| Busfahrer*innen, die Altenheime Pflegekräfte. Günstige Wohnungen gibt es | |
| aber kaum. | |
| Das liegt auch an der geografischen Lage, wie so vieles, das die | |
| Stadtgeschichte beeinflusst hat. Bis heute ist der Bahnhof, der dem Palazzo | |
| Vecchio, dem ehemaligen Stadtparlament von Florenz, nachempfunden ist, nur | |
| mit Tingelzügen erreichbar. Wegen der verkehrsungünstigen Lage am Ende des | |
| Landes, mangelnder Bodenschätze und begrenzter Flächen siedelten sich | |
| historisch in Konstanz keine großen Industriebetriebe an. Stattdessen prägt | |
| schon lange der Tourismus die Region. | |
| Aktivurlauber*innen finden ein Ferienparadies vor, gewässert mit | |
| Schweiß der Arbeitenden, die sich nach einem ganzen Berufsleben im eher | |
| niedrig entlohnten Dienstleistungssektor von ihrer Rente keine Wohnung | |
| leisten können. Menschen mit geringem Einkommen, Rentner*innen und | |
| Studierende blicken auf Angebote wie dieses: 1.495 Euro Kaltmiete für zwei | |
| Zimmer in einem Neubau. | |
| Außerhalb der denkmalgeschützten Altstadt natürlich. Die soll so bleiben, | |
| wie sie ist. Wenn etwas einen Konstanzer Bürger rasend macht, ist es eine | |
| drohende bauliche Veränderung. Allerdings: Wenn man irgendwo aus Versehen | |
| zum „Nimby“ (Ja zu sozialem Wohnungsbau, aber nicht hier, „not in my | |
| backyard“) wird, dann an einem so schönen Ort wie diesem. | |
| ## Keine Bomben auf Konstanz | |
| Auf Konstanz ist keine Bombe gefallen. Einer Stadtlegende nach ließen | |
| Kreuzlingen und Konstanz nachts das Licht an, sodass Konstanz aus der Luft | |
| schwerer zu identifizieren war. Singen und Friedrichshafen hingegen, Städte | |
| mit kriegswichtiger Industrie, aber ohne Verschwesterung mit einem | |
| Schweizer Ort, wurden schwer getroffen. | |
| Der Erzählung folgt oft der Hinweis nach, dass sie vielleicht gar nicht | |
| stimme. Tatsächlich löschten auch die Kreuzlinger*innen zeitweise das | |
| Licht. Die Legende bleibt am Leben, vermutlich auch, weil sie den Wunsch | |
| danach, in den Schweizer*innen enge Verbündete zu wissen, erfüllt. | |
| Kreuzlingen hat den höchsten Ausländeranteil im Kanton Thurgau, über 50 | |
| Prozent. Diese Ausländer sind oft Deutsche auf der Suche nach einem | |
| besseren Leben. Auch sogenannte Grenzgänger pendeln reichlich zur Arbeit in | |
| die Schweiz, für höhere Gehälter setzt man sich für eine Stunde und 17 | |
| Minuten in einen Zug zum Züricher Hauptbahnhof. | |
| Die Gegenbewegung füllt die Konstanzer Geschäfte mit Kunden: An einem | |
| Samstag im August ist das Parkhaus des Lago-Einkaufszentrums ungefähr zur | |
| Hälfte gefüllt mit Autos aus der Schweiz. „Brauchen Sie einen | |
| Ausfuhrschein?“, heißt es an der Kasse. Die schwer tütenbeladenen Menschen, | |
| wie aus der Zeit vor dem Onlineshopping, ziehen durch die Stadt, essen und | |
| trinken, nutzen das Fitnessstudio oder besuchen ihr Pferd. | |
| Als Mensch mit deutschem Mindestlohn blickt man den vollen Tüten etwas | |
| wehmütig nach und macht sich schnell ein paar relativierende Gedanken – | |
| immerhin wohnt man ja schon in Konstanz, wie viel besser soll es denn noch | |
| werden? Vielleicht erklärt genau dieses Gefühl auch, warum die Stadt trotz | |
| all der Schönheit nicht abdreht, sondern sich etwas Bodenständiges bewahrt | |
| hat: Bei den Nachbarn ist es wirklich auch nicht schlecht. Man bleibt am | |
| Boden: Mit der Schere schneidet man den Rasen nach, kollektiv lärmen die | |
| motorisierten Heckenscheren und Laubbläser am Stadtrand. Die fruchtbare | |
| Natur sei ihm manchmal zu viel, berichtet ein Kleingärtner. | |
| Nicht nur die Pflanzentriebe werden eifrig zurückgeschnitten, auch die | |
| eigenen, die fleischlichen, sind verkehrsberuhigt und eingekürzt, geflirtet | |
| wird seltenst. Spaziert man durch die Stadt, ruhig und zielgerichtet, mit | |
| sich und seinen Aufgaben beschäftigt, entstehen freundliche Blickkontakte, | |
| aber zum Stehenbleiben ist dann doch keine Zeit. | |
| Auf dem Bläzleplatz kühlt sich ein Kind im Wassernebel, hier wurde ein | |
| Sommerort eingerichtet, an dem gemütliche Sitzplätze genutzt werden können, | |
| ohne dass dafür etwas bestellt werden muss. Zwischen den bunten Kissen | |
| erinnert eine Gedenkstele an einen der Abgründe in der Stadtgeschichte: Am | |
| 29. August 1970 wurde hier der Lehrling Martin Katschker getötet. | |
| Vorangegangen war eine Flugblattaktion der NPD, die Bürger aufforderte, | |
| sich gegen „Gammler“ zu wehren. Gemeint waren langhaarige Jugendliche, die | |
| sich nach dem ersten Open-Air-Konzert in der Region („Konstanzer | |
| Woodstock“) weiter im öffentlichen Raum aufhielten. | |
| Die weiterführende Information der Stadt fragt ganz offen, ob es sich dabei | |
| um „das erste rechtsextremistische Tötungsdelikt in der Bundesrepublik | |
| Deutschland“ handelt. Gerichtlich wurde es damals nicht so gewertet. Die | |
| Stele ist unauffällig. Manche Konstanzer*innen haben sie noch nie zur | |
| Kenntnis genommen. | |
| Während sich ein Mensch nach einem Umzug nach Beverly Hills plötzlich mit | |
| den Möglichkeiten der plastischen Chirurgie befassen könnte, lädt Konstanz | |
| dazu ein, fitter, fleißiger und ordentlicher zu werden. Denn damit es | |
| weiterhin so aussehen kann, als hätte niemals eine Bombe eingeschlagen, | |
| müssen halt alle mitkärchern. | |
| 6 Sep 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Donata Künßberg | |
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