# taz.de -- Deutsche Kolonialgeschichte: Der Kolonialist im Familienalbum | |
> Nicolai Messerschmidt forscht seinem Ururgroßvater nach, der als Soldat | |
> in Deutsch-Ostafrika diente – und entdeckt Lücken in den | |
> Familienerzählungen. | |
Bild: Ein unbekannter Soldat und Theodor Schneemann | |
Berlin taz | Steif sitzt er in weißer Militäruniform auf einem Pferd, Füße | |
in den Steigbügeln, die Zügel straff in den Händen. Im Hintergrund die | |
Palmen der ostafrikanischen Tropen, eine Lehmhütte. Neben dem Pferd, etwas | |
tiefer gestellt, ein Schwarzer Soldat. Der weiße Mann mit Schnurrbart | |
blickt auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto streng nach vorn. Sein | |
Ururenkel Nicolai Messerschmidt betrachtet das Foto 120 Jahre später durch | |
seine eckigen Brillengläser, als er durch das schwere Familienalbum | |
blättert. Seit ihm seine Großmutter das Album als Jugendlichem zeigte, | |
lassen ihn die Fragen nicht los: Wer war dieser Mann? Und was hat er dort | |
in Ostafrika getan? | |
Als kleiner Junge saß Nicolai Messerschmidt oft im Wohnzimmer seiner | |
Großmutter Berbel, an der Wand hinter sich ein Gemälde der afrikanischen | |
Savanne. In der Ecke stand ein alter Holztisch, ein Mitbringsel seines | |
Ururgroßvaters, darauf eine geschnitzte Elefantenfigur, allerdings von | |
Karstadt. Heute, mit 28 Jahren, erinnert sich Messerschmidt, wie er | |
aufmerksam den Erzählungen seiner Großmutter über die Abenteuer ihres | |
Großvaters in Ostafrika lauschte. | |
Persönlich kennengelernt hatte die Großmutter ihren Opa Theodor Schneemann | |
nicht mehr. Familiengeschichten aus der Kolonialzeit habe sie trotzdem gern | |
erzählt, berichtet Messerschmidt. Nur zu einem Bild habe es in seiner | |
Jugend keine Antworten gegeben. | |
Messerschmidt blättert die Seiten des Albums um, bis er bei einer Postkarte | |
innehält, die aus der tropischen Urlaubsidylle heraussticht. Die Karte | |
zeigt eine Gruppe von sieben Schwarzen Frauen, schwere Eisenketten hängen | |
ihnen um den Hals. In ihren Händen halten sie lange Holzhämmer. Einige | |
blicken ernst, andere traurig in die Kamera. | |
Dorfgemeinschaften vertrieben, Menschen in Zwangsarbeit gedrängt | |
Das Foto zeugt von der Anwesenheit der kaiserlichen Truppen in der Kolonie | |
Deutsch-Ostafrika, die mit Urlaubsidylle nichts zu tun hatte. In Gebieten | |
des heutigen Tansania, Burundi, Ruanda und Mosambik ließen die deutschen | |
Kolonialisten zwischen 1885 und 1918 Plantagen für Kautschuk, Hanf, | |
Baumwolle und Kaffee errichten und drängten Menschen durch unbezahlbare | |
Steuern in die Zwangsarbeit. Für die deutschen Siedler:innen vertrieben | |
sie ganze Dorfgemeinschaften von ihren Feldern und nahmen ihnen ihre | |
Lebensgrundlage. Zu dieser Zeit war auch Messerschmidts Ururgroßvater vor | |
Ort. | |
„Bis in die 2000er Jahre hinein gab es in Deutschland [1][kaum eine | |
kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit]“, sagt der Historiker | |
Jürgen Zimmerer. Er leitete bis 2024 die Forschungsstelle „Hamburgs | |
(post-)koloniales Erbe“. Das erklärt, warum Messerschmidts Großmutter | |
lieber nicht über den Nationalsozialismus redete, gerne aber über die | |
Kolonialzeit. „Es gab für die Menschen keinen Grund, über den Kolonialismus | |
zu schweigen, weil man sich nicht schuldig fühlte“, so Zimmerer. Bis heute | |
gebe es in Deutschland eine koloniale Amnesie, die die Gewalt der Deutschen | |
in den Kolonien verdränge. | |
Heute möchte Nicolai Messerschmidt verstehen, welche historischen | |
Realitäten sich hinter den Abenteuergeschichten seines Ururgroßvaters | |
verbergen. Als Abschlussprojekt seines Studiums der Gesellschaftstheorie | |
hat er sich deshalb nicht nur mit dem Fotoalbum seiner Großmutter | |
beschäftigt, sondern mit einer ganzen Kiste voller Dokumente. „Afrikakiste“ | |
nannte seine Großmutter die Pappkiste, in der sie Schneemanns Nachlass | |
aufbewahrte. | |
Darin stieß Messerschmidt auf Briefe und Postkarten, die Schneemann an | |
Verwandte in Deutschland geschickt hatte, sowie auf ausgeschnittene | |
Zeitungsartikel. Im deutschen Bundesarchiv fand er zudem die Personalakte | |
seines Ururgroßvaters, sie stammt aus den Unterlagen des | |
Reichskolonialamts. Geübt entziffert er die alte Handschrift auf dem | |
ausgestellten Formular. Unteroffizier Theodor Schneemann, Stiefelmaße: 27 ½ | |
cm. Körpergröße: 1,67. Dienstbeschädigungen: Malaria. | |
## 1903 ging er zur Kaiserlichen Schutztruppe | |
„Aus all diesen Dokumenten habe ich eine grobe Biografie meines | |
Ururgroßvaters erstellt“, sagt Messerschmidt. Was er bisher weiß: | |
Schneemann wird 1879 in eine Bauernfamilie in Rittmarshausen bei Göttingen | |
geboren. Mit 18 Jahren tritt er der Kavallerie der preußischen Armee bei. | |
1903 geht er schließlich zur Kaiserlichen Schutztruppe für | |
Deutsch-Ostafrika. Er ist in Dar es Salaam stationiert. | |
Die heutige Millionenstadt an der Küste Tansanias hat damals gerade 20.000 | |
Einwohner:innen. Sie ist der Verwaltungssitz der 1895 gegründeten Kolonie, | |
die fast doppelt so groß ist wie das damalige deutsche Reich. 1907 | |
heiratete Schneemann Bertha Kopp aus Rittmarshausen. Sie zieht zu ihm nach | |
Dar es Salaam, wo sie gemeinsam einen Sohn bekommen. | |
In Göttingen führt Messerschmidt heute durch das Foyer eines | |
selbstorganisierten Theaters. Eine kleine Wanderausstellung mit dem Titel | |
„Das Album“ zeigt dort die alten Fotografien aus dem Album seines | |
Ururgroßvaters und erklärt zugleich den historischen Hintergrund samt der | |
abgebildeten kolonialen Machtgefüge. | |
Gemeinsam mit der Gruppe Göttingen Postkolonial hat Messerschmidt die | |
Ergebnisse seiner Spurensuchen kuratiert. Vor jeder Aufführung können die | |
Theaterbesucher:innen einen Blick auf die Aufsteller im Foyer werfen. | |
„Ich möchte anderen Familien, deren Kolonialgeschichte in einer Kiste auf | |
dem Dachboden schlummert, eine Hilfestellung für die Aufarbeitung an die | |
Hand geben“, sagt Messerschmidt. | |
## Die Folgen der Ausbeutung | |
In Tansania sind [2][Spuren des deutschen Kolonialismus] bei genauem | |
Hinsehen bis heute erkennbar – zum Beispiel in der gotischen | |
St.-Joseph-Kathedrale an der Hafenpromenade Dar es Salaams oder in | |
Kiswahili-Begriffen wie „shule“. Die ausbeuterischen Wirtschaftspraktiken | |
der deutschen Kolonialherrschaft beeinträchtigten lokale Gemeinden bis in | |
die Gegenwart, schreibt die Historikerin Nancy Rushohora von der | |
Universität Dar es Salaam. Besonders die ehemaligen Maji-Maji-Gebiete im | |
Süden des Landes seien bis heute von der wirtschaftlichen Entwicklung des | |
Landes abgehängt – eine Folge der Kolonialzeit. | |
Damalige Widerstandsführer werden heute in Tansania als Nationalhelden | |
geehrt: Die Straße in Dar es Salaam, die einst nach dem deutschen | |
Gouverneur Hermann von Wissmann benannt war, erinnert heute an Chief | |
Makunganya. 1894 kämpfte er gegen die deutschen Truppen. Aus | |
Grundschulbüchern lernen die Kinder die Geschichten antikolonialen | |
Wiederstandes. Jedes Jahr am 27. Februar gedenkt die Nation den | |
Widerstandskämpfer:innen gegen die Kolonialherrschaft. | |
In der Ausstellung in Göttingen zeigt Messerschmidt auch einige Fotos von | |
Schneemann, auf denen er auf einem Zebra reitet, eines vor seine Kutsche | |
spannt oder ein blass gestreiftes Zebroid – halb Pferd, halb Zebra – am | |
Strick führt. Als Leiter des Schutztruppengestüts sei es seine Aufgabe | |
gewesen, Zebras zu domestizieren und mit Pferden zu kreuzen, erzählt | |
Messerschmidt. | |
Das Kaiserreich hoffte, sie als widerstandsfähige Nutztiere für | |
Militärexpeditionen ins afrikanische Inland einzusetzen. Anders als Pferde | |
sind sie weniger anfällig für die von der Tsetsefliege verbreitete | |
Schlafkrankheit. Das Vorhaben kam jedoch nie über die Testphase hinaus und | |
scheiterte schließlich. „Dieses Motiv der Unterwerfung der afrikanischen | |
Natur zieht sich durch den gesamten Nachlass“, erklärt Messerschmidt. „Den | |
Kontinent zu beherrschen, hieß für die Kolonialherren auch, seine Natur zu | |
bezwingen.“ | |
## Stolz auf den Ururgroßvater | |
In der „Afrikakiste“ seiner Großmutter ist er auf einen Zeitungsartikel von | |
1903 aus der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung gestoßen. Darin werden die | |
Erfolge des Stallmeisters Theodor Schneemann gewürdigt. Über 120 Jahre | |
wurde dieser Zeitungsausschnitt an die nächste Generation weitervererbt. | |
„Meine Familie war immer stolz auf diese Leistung von Schneemann“, erinnert | |
sich Messerschmidt. Schließlich gelten Zebras als nur schwer | |
domestizierbare, geschweige denn als reitbare Tiere. | |
Auch er erzählt noch heute gerne von den Zebras seines Ururgroßvaters. Er | |
fragt sich aber auch, wie viel von diesem Erfolg tatsächlich Schneemann | |
zuzuschreiben ist. Die meiste Arbeit in der Armee wurde nicht von Deutschen | |
verrichtet. Vorwiegend bestand die Schutztruppe aus Nubiern, Somaliern und | |
Zulus. Während der Stationierung Schneemanns unterstanden den etwa 260 | |
deutschen Offizieren bis zu 2.500 sogenannte Askaris. Sie waren die | |
Fußsoldaten in der streng nach rassistischen Hierarchien aufgebauten | |
Truppe. | |
Messerschmidt beugt sich über einen Aufsteller, um auf ein kleines Detail | |
auf einem der Fotos hinzuweisen. Schräg hinter Schneemann auf seinem Pferd | |
steht ein weiterer weißer Offizier. Er posiert für das Foto, indem er seine | |
Waffe auf einem vor sich hockenden Schwarzen Untergebenen richtet. „Eine | |
widerliche Inszenierung ihrer Macht“, sagt Messerschmidt. Im Laufe der | |
Recherche habe er immer mehr Details der Erniedrigung entdeckt, die ihm als | |
Jugendlichem entgangen waren. | |
Den Schwarzen Soldaten in kurzer Hose zum Beispiel, der am Rand eines | |
weiteren Fotos zu sehen ist. Er hält einem weißen Offizier, der gerade für | |
das Foto in einer Kutsche posiert, sein Bier. Auf einem anderen Foto sieht | |
er einen weißen Kameraden von Schneemann, der sich eine Trommel wie eine | |
Mütze auf den Kopf zieht, wohl um sich über die lokale Kultur lustig zu | |
machen. „Sie fanden das normal, für sie waren die Schwarzen Menschen | |
weniger Wert“, sagt Messerschmidt. | |
## Für manche Antworten ist es zu spät | |
Eine Postkarte aus der Kiste seiner Großmutter bringt ihn immer wieder zum | |
Nachdenken. Es ist eine Ansichtskarte des Vesuvs. Schneemann verschickte | |
sie 1905 aus Neapel, wo er nach seinem Heimaturlaub auf das Schiff nach Dar | |
es Salaam wartete. Er schrieb seiner Verlobten: „Liebe Bertha! Gut | |
angekommen. Der Kapitän wollte uns nur sehen. Abfahrt Dienstag. Der | |
Aufstand ist wieder vorbei. Grüße an alle, Dein Theodor.“ | |
Die beiläufige Randnotiz verweist auf eine der grausamsten Episoden | |
deutscher Kolonialherrschaft: [3][den Maji-Maji-Krieg]. Von 1905 bis 1907 | |
erhoben sich die Menschen im südlichen Tansania gegen die | |
Kolonialregierung. Auslöser war die brutale Ausbeutung: Mit Kopfsteuern | |
drängte die Kolonialverwaltung die Bevölkerung in die Arbeit auf deutschen | |
Baumwollplantagen. Wer sich widersetzte, wurde gefoltert, vergewaltigt oder | |
in die Zwangsarbeit getrieben. | |
Der Heiler Kinjikitile Ngwale prophezeite damals, ein heiliges Wasser, Maji | |
auf Kiswahili, werde die Aufständischen vor deutschen Kugeln schützen und | |
ihnen den Sieg bringen. Seine Botschaft einte über ethnische Grenzen hinweg | |
rund 20 Bevölkerungsgruppen zu einem der breitesten antikolonialen | |
Aufstände des Kontinents. Doch die deutschen Schutztruppen schlugen den | |
Aufstand gewaltsam nieder. Kinjikitile wurde gehängt. In einer Politik der | |
„verbrannten Erde“ zerstörten Askaris unter dem Kommando deutscher | |
Offiziere Brunnen und brannten Felder nieder. Schätzungsweise 300.000 | |
Menschen fielen diesem Vernichtungsfeldzug zum Opfer. | |
In Schneemanns Personalakte findet Messerschmidt einen Vermerk: | |
„Beteiligung an der Niederwerfung des […] Aufstandes in D. O. A. 1905, 06, | |
07“. Doch anders als bei den Kameraden sind keine konkreten Gefechte oder | |
Einsatzorte aufgeführt. Ob Messerschmidt darauf hoffen kann, dass sein | |
Ururgroßvater nicht an den Massakern des Maji-Maji-Kriegs direkt beteiligt | |
war, wird er wohl nie erfahren. Es ist zu spät, um Antworten zu bekommen. | |
## Maji-Maji-Krieg in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet | |
Für Messerschmidt ist klar, dass die dunkelsten Seiten der Kolonialzeit in | |
seiner Familie zu lange verschwiegen wurden. Seine Mutter kannte das Album, | |
aber das Foto der Schwarzen Zwangsarbeiterinnen in Ketten war ihr damals | |
nicht aufgefallen. „Als ich anfing, meiner Oma Fragen zu stellen, bereute | |
meine Mutter, dass sie ihre Großeltern nicht danach gefragt hatte“, sagt | |
Messerschmidt. | |
Schon während des Maji-Maji-Kriegs sei dieser in der deutschen | |
Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben, sagt der Historiker Jürgen | |
Zimmerer. Der Grund: Es kämpften nur wenige deutsche Soldaten – die blutige | |
Arbeit überließ das Kaiserreich weitgehend afrikanischen Söldnern. „Auch | |
noch nach dem Verlust der Kolonien infolge des Versailler Vertrags | |
wünschten sich viele das Imperium zurück“, sagt Zimmerer. | |
Ob Messerschmidts Großmutter vom Massaker in Tansania und anderen | |
Verbrechen wusste? 2023, kurz vor ihrem Tod, befragte er sie dazu – wieder | |
auf dem vertrauten Sofa unter dem Gemälde der afrikanischen Savanne, wo er | |
als Kind ihren Geschichten gelauscht hatte. „Sie war sich einerseits | |
bewusst, dass es Krieg und Gewalt gab“, sagt er, „aber andererseits wollte | |
sie ein positives Andenken an ihren Großvater bewahren.“ | |
Ein Foto aus dem Album fehlt in der Ausstellung: Die grausame Postkarte der | |
aneinandergeketteten Zwangsarbeiterinnen. „Wir zeigen es nicht, [4][weil | |
die Frauen darauf nie zugestimmt hatten], so erniedrigt fotografiert und | |
ausgestellt zu werden“, erklärt Messerschmidt. Die Entscheidung traf er | |
gemeinsam mit den afrodeutschen Prozessbegleiterinnen und Künstlerinnen | |
Patricia Vester und Wilma Nyari, die die Konzeption der Ausstellung | |
rassismuskritisch mitgestalteten. „Erst durch die beiden habe ich | |
begriffen, dass ich diese Bilder nicht einfach unkommentiert an die | |
Ausstellungswand klatschen kann“, sagt Messerschmidt. Stattdessen steht an | |
dieser Stelle der Ausstellung ein Gedicht von Vester. | |
Ihr Schmerz ihre Wut, | |
verschickt durch die Zeit – | |
Sie sprechen zu mir | |
„Ich war hier. Es hat mich gegeben. | |
Ihre Taten sind Zeugnisse. | |
Meins, Deins unser Leben | |
sind verwobene Geschichte – | |
ALLES LEBEN“ | |
Zu oft fehle die tansanische Perspektive in der deutschen Aufarbeitung, | |
sagt Vester. „Mit meiner Kunst versuche ich ihre Stimmen einzufangen, sie | |
sichtbar zu machen.“ Es ist der Versuch der Ausstellung, nicht nur aus | |
einer weißen Täterperspektive zu erzählen – etwas, das nicht | |
selbstverständlich sei, so Vester. Bei ihrer Arbeit mit großen Museen stoße | |
sie immer wieder auf Widerstand, wenn es darum gehe, kritischen Schwarzen | |
Stimmen Raum zu geben. | |
Nicolai Messerschmidt würde gerne wissen, wie die Afrikaner:innen in | |
Dar es Salaam damals über Schneemann gedacht haben. Eine von ihnen – Frau | |
Symunza – ist die einzige Schwarze Frau, die in seinem Nachlass namentlich | |
erwähnt wird. Messerschmidt zeigt auf einem Foto der Ausstellung auf die | |
Frau, die in ein schlichtes Tuch gekleidet ist. Sie steht mit einer Gruppe | |
Afrikanerinnen vor einem Zeltlager. „Ich würde ihrer Enkelin gerne zuhören, | |
wie ich meiner Oma zuhörte. Wie wurde in ihrer Familie wohl über die | |
Kolonialzeit geredet?“, sagt Messerschmidt. Doch sie zu finden, über ein | |
Jahrhundert später, mit kaum mehr als einem Namen einer Vorfahrin auf der | |
Rückseite eines vergilbten Fotos, ist heute unmöglich. | |
„Gäbe es ein zentrales Dokumentationszentrum zum Kolonialismus, könnte | |
dieses in genau solchen Fällen beraten – wenn Bürgerinnen und Bürger, aber | |
auch Unternehmen oder Behörden ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten | |
wollen“, sagt Historiker Zimmerer. Eine vergleichbare Rolle übernehmen | |
bereits die NS-Gedenkstätten bei der Aufarbeitung der Nazizeit. | |
Die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte sich den Aufbau | |
eines solchen Gedenkortes zur Aufgabe gemacht, als sie 2024 die | |
Aufarbeitung des Kolonialismus – neben DDR und Nationalsozialismus – zur | |
dritten Säule der deutschen Erinnerungskultur erklärt hatte. „Das war der | |
Höhepunkt in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus“, sagt Zimmerer. | |
2023 [5][reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Tansania] und | |
entschuldigte sich dort erstmals offiziell bei den Nachfahren der Opfer des | |
Maji-Maji-Krieges. Erreicht worden sei dieser politische Wendepunkt | |
maßgeblich durch langjährige zivilgesellschaftliche Bemühungen, so | |
Zimmerer. Seit über 15 Jahren engagierten sich Diaspora-Gemeinschaften und | |
postkoloniale Gruppen dafür, dass Deutschland endlich Verantwortung für | |
seine Vergangenheit übernehme. | |
Doch Roth scheiterte mit ihrer Reform der deutschen Erinnerungspolitik. Der | |
Widerstand, [6][auch bei Gedenkstätten zum Nationalsozialismus und zur | |
SED-Diktatur], war groß. Dabei ging es nicht nur um Gelder, zentral war die | |
als Historikerstreit 2.0 bekannte Debatte um die erinnerungspolitische | |
Positionierung des Kolonialismus im Verhältnis zur Schoah. Seitdem | |
beobachtet Zimmerer Rückschritte in der kolonialen Aufarbeitung: | |
Bestehenden und geplanten Projekten seien die Fördermittel entzogen worden. | |
„Auch die konservative Rechte erkennt zunehmend das politische Potenzial, | |
das im Widerstand gegen die Aufarbeitung liegt“, warnt er. | |
Dazu gehöre auch der derzeitige Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. In | |
dessen 2018 erschienenem Buch „Das Konservative Manifest“ kritisiert er die | |
seiner Ansicht nach einseitig negative Erinnerungspolitik, die von | |
„moralischen Gewissensbissen“ geprägt sei. Dem widerspricht der Historiker | |
Jürgen Zimmerer klar: „Der Kolonialismus ist ein strukturell rassistisches | |
Unrechtssystem. Punkt. Es gibt keine positiven Seiten.“ Hoffnung, dass sich | |
unter Weimer etwas an der Erinnerungspolitik ändern wird, hat Zimmerer | |
kaum. Angesichts der stockenden staatlichen Aufarbeitung des deutschen | |
Kolonialismus seien aber zivilgesellschaftliche Initiativen wie die von | |
Nicolai Messerschmidt umso wichtiger. | |
Der sagt, Erinnerungsarbeit müsse wenn nötig auch den Staat kritisieren. | |
„Denn der deutsche Kolonialismus ist noch nicht wirklich vorbei.“ Er wirke | |
fort in der deutschen Abschiebepolitik und in ungleichen Handelsbeziehungen | |
mit afrikanischen Staaten. Messerschmidt hofft, dass die Besucher:innen | |
seiner Ausstellung durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch | |
einen schärferen Blick auf koloniale Kontinuitäten der Gegenwart gewinnen. | |
„Das ist meine und auch unsere Verantwortung als Nachfahren der | |
Kolonialisten.“ | |
## Mit Standesdünkel zurückgekommen | |
Als Schneemann 1910 nach Deutschland zurückkehrte, zog er in eine Wohnung | |
im Stadtzentrum von Göttingen und erhielt eine Anstellung als Oberinspektor | |
im städtischen Badehaus – eine angesehene Verwaltungsposition, die ihm | |
sonst als Sohn einer Bauernfamilie wohl verwehrt geblieben wäre. Dazu kam | |
ein stattlicher Rentensold für ehemalige Kolonialsoldaten. | |
„Für ihn bedeutete der Kolonialdienst einen sozialen Aufstieg“, fasst | |
Messerschmidt zusammen. Er habe einen gewissen Standesdünkel entwickelt, so | |
erzählt es seine Großmutter. Historiker Jürgen Zimmerer bestätigt: „Das w… | |
eine häufige Motivation. Selbst wenn man im Kaiserreich ganz unten stand – | |
in der Kolonie, mit ihrer rassistischen Hierarchie, war man plötzlich | |
jemand.“ | |
In den betroffenen Communities in Tansania ist die koloniale | |
Gewalterfahrung auch 120 Jahre später spürbar. Insbesondere der | |
Maji-Maji-Krieg habe kollektive „traumatische Erinnerungen“ hinterlassen, | |
die bis heute in den Köpfen weiterleben, schreibt der tansanische | |
Historiker Reginald Elias Kirey. | |
Während Messerschmidt in Deutschland beginnt, die Täterperspektive kritisch | |
zu bearbeiten, fordern in Tansania – auch ermutigt durch die Initiativen | |
der Herero und Nama in Namibia – Nachkommen der Ngoni finanzielle | |
Entschädigung, die Rückgabe [7][gestohlener Kulturgüter] und die | |
Rückführung menschlicher Gebeine von ermordeten Wiederstandskämpfer:innen, | |
deren Schädel bis heute in deutschen Museen liegen | |
27 Aug 2025 | |
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