| # taz.de -- Deutsche Kolonialgeschichte: Der Kolonialist im Familienalbum | |
| > Nicolai Messerschmidt forscht seinem Ururgroßvater nach, der als Soldat | |
| > in Deutsch-Ostafrika diente – und entdeckt Lücken in den | |
| > Familienerzählungen. | |
| Bild: Ein unbekannter Soldat und Theodor Schneemann | |
| Berlin taz | Steif sitzt er in weißer Militäruniform auf einem Pferd, Füße | |
| in den Steigbügeln, die Zügel straff in den Händen. Im Hintergrund die | |
| Palmen der ostafrikanischen Tropen, eine Lehmhütte. Neben dem Pferd, etwas | |
| tiefer gestellt, ein Schwarzer Soldat. Der weiße Mann mit Schnurrbart | |
| blickt auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto streng nach vorn. Sein | |
| Ururenkel Nicolai Messerschmidt betrachtet das Foto 120 Jahre später durch | |
| seine eckigen Brillengläser, als er durch das schwere Familienalbum | |
| blättert. Seit ihm seine Großmutter das Album als Jugendlichem zeigte, | |
| lassen ihn die Fragen nicht los: Wer war dieser Mann? Und was hat er dort | |
| in Ostafrika getan? | |
| Als kleiner Junge saß Nicolai Messerschmidt oft im Wohnzimmer seiner | |
| Großmutter Berbel, an der Wand hinter sich ein Gemälde der afrikanischen | |
| Savanne. In der Ecke stand ein alter Holztisch, ein Mitbringsel seines | |
| Ururgroßvaters, darauf eine geschnitzte Elefantenfigur, allerdings von | |
| Karstadt. Heute, mit 28 Jahren, erinnert sich Messerschmidt, wie er | |
| aufmerksam den Erzählungen seiner Großmutter über die Abenteuer ihres | |
| Großvaters in Ostafrika lauschte. | |
| Persönlich kennengelernt hatte die Großmutter ihren Opa Theodor Schneemann | |
| nicht mehr. Familiengeschichten aus der Kolonialzeit habe sie trotzdem gern | |
| erzählt, berichtet Messerschmidt. Nur zu einem Bild habe es in seiner | |
| Jugend keine Antworten gegeben. | |
| Messerschmidt blättert die Seiten des Albums um, bis er bei einer Postkarte | |
| innehält, die aus der tropischen Urlaubsidylle heraussticht. Die Karte | |
| zeigt eine Gruppe von sieben Schwarzen Frauen, schwere Eisenketten hängen | |
| ihnen um den Hals. In ihren Händen halten sie lange Holzhämmer. Einige | |
| blicken ernst, andere traurig in die Kamera. | |
| Dorfgemeinschaften vertrieben, Menschen in Zwangsarbeit gedrängt | |
| Das Foto zeugt von der Anwesenheit der kaiserlichen Truppen in der Kolonie | |
| Deutsch-Ostafrika, die mit Urlaubsidylle nichts zu tun hatte. In Gebieten | |
| des heutigen Tansania, Burundi, Ruanda und Mosambik ließen die deutschen | |
| Kolonialisten zwischen 1885 und 1918 Plantagen für Kautschuk, Hanf, | |
| Baumwolle und Kaffee errichten und drängten Menschen durch unbezahlbare | |
| Steuern in die Zwangsarbeit. Für die deutschen Siedler:innen vertrieben | |
| sie ganze Dorfgemeinschaften von ihren Feldern und nahmen ihnen ihre | |
| Lebensgrundlage. Zu dieser Zeit war auch Messerschmidts Ururgroßvater vor | |
| Ort. | |
| „Bis in die 2000er Jahre hinein gab es in Deutschland [1][kaum eine | |
| kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit]“, sagt der Historiker | |
| Jürgen Zimmerer. Er leitete bis 2024 die Forschungsstelle „Hamburgs | |
| (post-)koloniales Erbe“. Das erklärt, warum Messerschmidts Großmutter | |
| lieber nicht über den Nationalsozialismus redete, gerne aber über die | |
| Kolonialzeit. „Es gab für die Menschen keinen Grund, über den Kolonialismus | |
| zu schweigen, weil man sich nicht schuldig fühlte“, so Zimmerer. Bis heute | |
| gebe es in Deutschland eine koloniale Amnesie, die die Gewalt der Deutschen | |
| in den Kolonien verdränge. | |
| Heute möchte Nicolai Messerschmidt verstehen, welche historischen | |
| Realitäten sich hinter den Abenteuergeschichten seines Ururgroßvaters | |
| verbergen. Als Abschlussprojekt seines Studiums der Gesellschaftstheorie | |
| hat er sich deshalb nicht nur mit dem Fotoalbum seiner Großmutter | |
| beschäftigt, sondern mit einer ganzen Kiste voller Dokumente. „Afrikakiste“ | |
| nannte seine Großmutter die Pappkiste, in der sie Schneemanns Nachlass | |
| aufbewahrte. | |
| Darin stieß Messerschmidt auf Briefe und Postkarten, die Schneemann an | |
| Verwandte in Deutschland geschickt hatte, sowie auf ausgeschnittene | |
| Zeitungsartikel. Im deutschen Bundesarchiv fand er zudem die Personalakte | |
| seines Ururgroßvaters, sie stammt aus den Unterlagen des | |
| Reichskolonialamts. Geübt entziffert er die alte Handschrift auf dem | |
| ausgestellten Formular. Unteroffizier Theodor Schneemann, Stiefelmaße: 27 ½ | |
| cm. Körpergröße: 1,67. Dienstbeschädigungen: Malaria. | |
| ## 1903 ging er zur Kaiserlichen Schutztruppe | |
| „Aus all diesen Dokumenten habe ich eine grobe Biografie meines | |
| Ururgroßvaters erstellt“, sagt Messerschmidt. Was er bisher weiß: | |
| Schneemann wird 1879 in eine Bauernfamilie in Rittmarshausen bei Göttingen | |
| geboren. Mit 18 Jahren tritt er der Kavallerie der preußischen Armee bei. | |
| 1903 geht er schließlich zur Kaiserlichen Schutztruppe für | |
| Deutsch-Ostafrika. Er ist in Dar es Salaam stationiert. | |
| Die heutige Millionenstadt an der Küste Tansanias hat damals gerade 20.000 | |
| Einwohner:innen. Sie ist der Verwaltungssitz der 1895 gegründeten Kolonie, | |
| die fast doppelt so groß ist wie das damalige deutsche Reich. 1907 | |
| heiratete Schneemann Bertha Kopp aus Rittmarshausen. Sie zieht zu ihm nach | |
| Dar es Salaam, wo sie gemeinsam einen Sohn bekommen. | |
| In Göttingen führt Messerschmidt heute durch das Foyer eines | |
| selbstorganisierten Theaters. Eine kleine Wanderausstellung mit dem Titel | |
| „Das Album“ zeigt dort die alten Fotografien aus dem Album seines | |
| Ururgroßvaters und erklärt zugleich den historischen Hintergrund samt der | |
| abgebildeten kolonialen Machtgefüge. | |
| Gemeinsam mit der Gruppe Göttingen Postkolonial hat Messerschmidt die | |
| Ergebnisse seiner Spurensuchen kuratiert. Vor jeder Aufführung können die | |
| Theaterbesucher:innen einen Blick auf die Aufsteller im Foyer werfen. | |
| „Ich möchte anderen Familien, deren Kolonialgeschichte in einer Kiste auf | |
| dem Dachboden schlummert, eine Hilfestellung für die Aufarbeitung an die | |
| Hand geben“, sagt Messerschmidt. | |
| ## Die Folgen der Ausbeutung | |
| In Tansania sind [2][Spuren des deutschen Kolonialismus] bei genauem | |
| Hinsehen bis heute erkennbar – zum Beispiel in der gotischen | |
| St.-Joseph-Kathedrale an der Hafenpromenade Dar es Salaams oder in | |
| Kiswahili-Begriffen wie „shule“. Die ausbeuterischen Wirtschaftspraktiken | |
| der deutschen Kolonialherrschaft beeinträchtigten lokale Gemeinden bis in | |
| die Gegenwart, schreibt die Historikerin Nancy Rushohora von der | |
| Universität Dar es Salaam. Besonders die ehemaligen Maji-Maji-Gebiete im | |
| Süden des Landes seien bis heute von der wirtschaftlichen Entwicklung des | |
| Landes abgehängt – eine Folge der Kolonialzeit. | |
| Damalige Widerstandsführer werden heute in Tansania als Nationalhelden | |
| geehrt: Die Straße in Dar es Salaam, die einst nach dem deutschen | |
| Gouverneur Hermann von Wissmann benannt war, erinnert heute an Chief | |
| Makunganya. 1894 kämpfte er gegen die deutschen Truppen. Aus | |
| Grundschulbüchern lernen die Kinder die Geschichten antikolonialen | |
| Wiederstandes. Jedes Jahr am 27. Februar gedenkt die Nation den | |
| Widerstandskämpfer:innen gegen die Kolonialherrschaft. | |
| In der Ausstellung in Göttingen zeigt Messerschmidt auch einige Fotos von | |
| Schneemann, auf denen er auf einem Zebra reitet, eines vor seine Kutsche | |
| spannt oder ein blass gestreiftes Zebroid – halb Pferd, halb Zebra – am | |
| Strick führt. Als Leiter des Schutztruppengestüts sei es seine Aufgabe | |
| gewesen, Zebras zu domestizieren und mit Pferden zu kreuzen, erzählt | |
| Messerschmidt. | |
| Das Kaiserreich hoffte, sie als widerstandsfähige Nutztiere für | |
| Militärexpeditionen ins afrikanische Inland einzusetzen. Anders als Pferde | |
| sind sie weniger anfällig für die von der Tsetsefliege verbreitete | |
| Schlafkrankheit. Das Vorhaben kam jedoch nie über die Testphase hinaus und | |
| scheiterte schließlich. „Dieses Motiv der Unterwerfung der afrikanischen | |
| Natur zieht sich durch den gesamten Nachlass“, erklärt Messerschmidt. „Den | |
| Kontinent zu beherrschen, hieß für die Kolonialherren auch, seine Natur zu | |
| bezwingen.“ | |
| ## Stolz auf den Ururgroßvater | |
| In der „Afrikakiste“ seiner Großmutter ist er auf einen Zeitungsartikel von | |
| 1903 aus der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung gestoßen. Darin werden die | |
| Erfolge des Stallmeisters Theodor Schneemann gewürdigt. Über 120 Jahre | |
| wurde dieser Zeitungsausschnitt an die nächste Generation weitervererbt. | |
| „Meine Familie war immer stolz auf diese Leistung von Schneemann“, erinnert | |
| sich Messerschmidt. Schließlich gelten Zebras als nur schwer | |
| domestizierbare, geschweige denn als reitbare Tiere. | |
| Auch er erzählt noch heute gerne von den Zebras seines Ururgroßvaters. Er | |
| fragt sich aber auch, wie viel von diesem Erfolg tatsächlich Schneemann | |
| zuzuschreiben ist. Die meiste Arbeit in der Armee wurde nicht von Deutschen | |
| verrichtet. Vorwiegend bestand die Schutztruppe aus Nubiern, Somaliern und | |
| Zulus. Während der Stationierung Schneemanns unterstanden den etwa 260 | |
| deutschen Offizieren bis zu 2.500 sogenannte Askaris. Sie waren die | |
| Fußsoldaten in der streng nach rassistischen Hierarchien aufgebauten | |
| Truppe. | |
| Messerschmidt beugt sich über einen Aufsteller, um auf ein kleines Detail | |
| auf einem der Fotos hinzuweisen. Schräg hinter Schneemann auf seinem Pferd | |
| steht ein weiterer weißer Offizier. Er posiert für das Foto, indem er seine | |
| Waffe auf einem vor sich hockenden Schwarzen Untergebenen richtet. „Eine | |
| widerliche Inszenierung ihrer Macht“, sagt Messerschmidt. Im Laufe der | |
| Recherche habe er immer mehr Details der Erniedrigung entdeckt, die ihm als | |
| Jugendlichem entgangen waren. | |
| Den Schwarzen Soldaten in kurzer Hose zum Beispiel, der am Rand eines | |
| weiteren Fotos zu sehen ist. Er hält einem weißen Offizier, der gerade für | |
| das Foto in einer Kutsche posiert, sein Bier. Auf einem anderen Foto sieht | |
| er einen weißen Kameraden von Schneemann, der sich eine Trommel wie eine | |
| Mütze auf den Kopf zieht, wohl um sich über die lokale Kultur lustig zu | |
| machen. „Sie fanden das normal, für sie waren die Schwarzen Menschen | |
| weniger Wert“, sagt Messerschmidt. | |
| ## Für manche Antworten ist es zu spät | |
| Eine Postkarte aus der Kiste seiner Großmutter bringt ihn immer wieder zum | |
| Nachdenken. Es ist eine Ansichtskarte des Vesuvs. Schneemann verschickte | |
| sie 1905 aus Neapel, wo er nach seinem Heimaturlaub auf das Schiff nach Dar | |
| es Salaam wartete. Er schrieb seiner Verlobten: „Liebe Bertha! Gut | |
| angekommen. Der Kapitän wollte uns nur sehen. Abfahrt Dienstag. Der | |
| Aufstand ist wieder vorbei. Grüße an alle, Dein Theodor.“ | |
| Die beiläufige Randnotiz verweist auf eine der grausamsten Episoden | |
| deutscher Kolonialherrschaft: [3][den Maji-Maji-Krieg]. Von 1905 bis 1907 | |
| erhoben sich die Menschen im südlichen Tansania gegen die | |
| Kolonialregierung. Auslöser war die brutale Ausbeutung: Mit Kopfsteuern | |
| drängte die Kolonialverwaltung die Bevölkerung in die Arbeit auf deutschen | |
| Baumwollplantagen. Wer sich widersetzte, wurde gefoltert, vergewaltigt oder | |
| in die Zwangsarbeit getrieben. | |
| Der Heiler Kinjikitile Ngwale prophezeite damals, ein heiliges Wasser, Maji | |
| auf Kiswahili, werde die Aufständischen vor deutschen Kugeln schützen und | |
| ihnen den Sieg bringen. Seine Botschaft einte über ethnische Grenzen hinweg | |
| rund 20 Bevölkerungsgruppen zu einem der breitesten antikolonialen | |
| Aufstände des Kontinents. Doch die deutschen Schutztruppen schlugen den | |
| Aufstand gewaltsam nieder. Kinjikitile wurde gehängt. In einer Politik der | |
| „verbrannten Erde“ zerstörten Askaris unter dem Kommando deutscher | |
| Offiziere Brunnen und brannten Felder nieder. Schätzungsweise 300.000 | |
| Menschen fielen diesem Vernichtungsfeldzug zum Opfer. | |
| In Schneemanns Personalakte findet Messerschmidt einen Vermerk: | |
| „Beteiligung an der Niederwerfung des […] Aufstandes in D. O. A. 1905, 06, | |
| 07“. Doch anders als bei den Kameraden sind keine konkreten Gefechte oder | |
| Einsatzorte aufgeführt. Ob Messerschmidt darauf hoffen kann, dass sein | |
| Ururgroßvater nicht an den Massakern des Maji-Maji-Kriegs direkt beteiligt | |
| war, wird er wohl nie erfahren. Es ist zu spät, um Antworten zu bekommen. | |
| ## Maji-Maji-Krieg in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet | |
| Für Messerschmidt ist klar, dass die dunkelsten Seiten der Kolonialzeit in | |
| seiner Familie zu lange verschwiegen wurden. Seine Mutter kannte das Album, | |
| aber das Foto der Schwarzen Zwangsarbeiterinnen in Ketten war ihr damals | |
| nicht aufgefallen. „Als ich anfing, meiner Oma Fragen zu stellen, bereute | |
| meine Mutter, dass sie ihre Großeltern nicht danach gefragt hatte“, sagt | |
| Messerschmidt. | |
| Schon während des Maji-Maji-Kriegs sei dieser in der deutschen | |
| Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben, sagt der Historiker Jürgen | |
| Zimmerer. Der Grund: Es kämpften nur wenige deutsche Soldaten – die blutige | |
| Arbeit überließ das Kaiserreich weitgehend afrikanischen Söldnern. „Auch | |
| noch nach dem Verlust der Kolonien infolge des Versailler Vertrags | |
| wünschten sich viele das Imperium zurück“, sagt Zimmerer. | |
| Ob Messerschmidts Großmutter vom Massaker in Tansania und anderen | |
| Verbrechen wusste? 2023, kurz vor ihrem Tod, befragte er sie dazu – wieder | |
| auf dem vertrauten Sofa unter dem Gemälde der afrikanischen Savanne, wo er | |
| als Kind ihren Geschichten gelauscht hatte. „Sie war sich einerseits | |
| bewusst, dass es Krieg und Gewalt gab“, sagt er, „aber andererseits wollte | |
| sie ein positives Andenken an ihren Großvater bewahren.“ | |
| Ein Foto aus dem Album fehlt in der Ausstellung: Die grausame Postkarte der | |
| aneinandergeketteten Zwangsarbeiterinnen. „Wir zeigen es nicht, [4][weil | |
| die Frauen darauf nie zugestimmt hatten], so erniedrigt fotografiert und | |
| ausgestellt zu werden“, erklärt Messerschmidt. Die Entscheidung traf er | |
| gemeinsam mit den afrodeutschen Prozessbegleiterinnen und Künstlerinnen | |
| Patricia Vester und Wilma Nyari, die die Konzeption der Ausstellung | |
| rassismuskritisch mitgestalteten. „Erst durch die beiden habe ich | |
| begriffen, dass ich diese Bilder nicht einfach unkommentiert an die | |
| Ausstellungswand klatschen kann“, sagt Messerschmidt. Stattdessen steht an | |
| dieser Stelle der Ausstellung ein Gedicht von Vester. | |
| Ihr Schmerz ihre Wut, | |
| verschickt durch die Zeit – | |
| Sie sprechen zu mir | |
| „Ich war hier. Es hat mich gegeben. | |
| Ihre Taten sind Zeugnisse. | |
| Meins, Deins unser Leben | |
| sind verwobene Geschichte – | |
| ALLES LEBEN“ | |
| Zu oft fehle die tansanische Perspektive in der deutschen Aufarbeitung, | |
| sagt Vester. „Mit meiner Kunst versuche ich ihre Stimmen einzufangen, sie | |
| sichtbar zu machen.“ Es ist der Versuch der Ausstellung, nicht nur aus | |
| einer weißen Täterperspektive zu erzählen – etwas, das nicht | |
| selbstverständlich sei, so Vester. Bei ihrer Arbeit mit großen Museen stoße | |
| sie immer wieder auf Widerstand, wenn es darum gehe, kritischen Schwarzen | |
| Stimmen Raum zu geben. | |
| Nicolai Messerschmidt würde gerne wissen, wie die Afrikaner:innen in | |
| Dar es Salaam damals über Schneemann gedacht haben. Eine von ihnen – Frau | |
| Symunza – ist die einzige Schwarze Frau, die in seinem Nachlass namentlich | |
| erwähnt wird. Messerschmidt zeigt auf einem Foto der Ausstellung auf die | |
| Frau, die in ein schlichtes Tuch gekleidet ist. Sie steht mit einer Gruppe | |
| Afrikanerinnen vor einem Zeltlager. „Ich würde ihrer Enkelin gerne zuhören, | |
| wie ich meiner Oma zuhörte. Wie wurde in ihrer Familie wohl über die | |
| Kolonialzeit geredet?“, sagt Messerschmidt. Doch sie zu finden, über ein | |
| Jahrhundert später, mit kaum mehr als einem Namen einer Vorfahrin auf der | |
| Rückseite eines vergilbten Fotos, ist heute unmöglich. | |
| „Gäbe es ein zentrales Dokumentationszentrum zum Kolonialismus, könnte | |
| dieses in genau solchen Fällen beraten – wenn Bürgerinnen und Bürger, aber | |
| auch Unternehmen oder Behörden ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten | |
| wollen“, sagt Historiker Zimmerer. Eine vergleichbare Rolle übernehmen | |
| bereits die NS-Gedenkstätten bei der Aufarbeitung der Nazizeit. | |
| Die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte sich den Aufbau | |
| eines solchen Gedenkortes zur Aufgabe gemacht, als sie 2024 die | |
| Aufarbeitung des Kolonialismus – neben DDR und Nationalsozialismus – zur | |
| dritten Säule der deutschen Erinnerungskultur erklärt hatte. „Das war der | |
| Höhepunkt in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus“, sagt Zimmerer. | |
| 2023 [5][reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Tansania] und | |
| entschuldigte sich dort erstmals offiziell bei den Nachfahren der Opfer des | |
| Maji-Maji-Krieges. Erreicht worden sei dieser politische Wendepunkt | |
| maßgeblich durch langjährige zivilgesellschaftliche Bemühungen, so | |
| Zimmerer. Seit über 15 Jahren engagierten sich Diaspora-Gemeinschaften und | |
| postkoloniale Gruppen dafür, dass Deutschland endlich Verantwortung für | |
| seine Vergangenheit übernehme. | |
| Doch Roth scheiterte mit ihrer Reform der deutschen Erinnerungspolitik. Der | |
| Widerstand, [6][auch bei Gedenkstätten zum Nationalsozialismus und zur | |
| SED-Diktatur], war groß. Dabei ging es nicht nur um Gelder, zentral war die | |
| als Historikerstreit 2.0 bekannte Debatte um die erinnerungspolitische | |
| Positionierung des Kolonialismus im Verhältnis zur Schoah. Seitdem | |
| beobachtet Zimmerer Rückschritte in der kolonialen Aufarbeitung: | |
| Bestehenden und geplanten Projekten seien die Fördermittel entzogen worden. | |
| „Auch die konservative Rechte erkennt zunehmend das politische Potenzial, | |
| das im Widerstand gegen die Aufarbeitung liegt“, warnt er. | |
| Dazu gehöre auch der derzeitige Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. In | |
| dessen 2018 erschienenem Buch „Das Konservative Manifest“ kritisiert er die | |
| seiner Ansicht nach einseitig negative Erinnerungspolitik, die von | |
| „moralischen Gewissensbissen“ geprägt sei. Dem widerspricht der Historiker | |
| Jürgen Zimmerer klar: „Der Kolonialismus ist ein strukturell rassistisches | |
| Unrechtssystem. Punkt. Es gibt keine positiven Seiten.“ Hoffnung, dass sich | |
| unter Weimer etwas an der Erinnerungspolitik ändern wird, hat Zimmerer | |
| kaum. Angesichts der stockenden staatlichen Aufarbeitung des deutschen | |
| Kolonialismus seien aber zivilgesellschaftliche Initiativen wie die von | |
| Nicolai Messerschmidt umso wichtiger. | |
| Der sagt, Erinnerungsarbeit müsse wenn nötig auch den Staat kritisieren. | |
| „Denn der deutsche Kolonialismus ist noch nicht wirklich vorbei.“ Er wirke | |
| fort in der deutschen Abschiebepolitik und in ungleichen Handelsbeziehungen | |
| mit afrikanischen Staaten. Messerschmidt hofft, dass die Besucher:innen | |
| seiner Ausstellung durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch | |
| einen schärferen Blick auf koloniale Kontinuitäten der Gegenwart gewinnen. | |
| „Das ist meine und auch unsere Verantwortung als Nachfahren der | |
| Kolonialisten.“ | |
| ## Mit Standesdünkel zurückgekommen | |
| Als Schneemann 1910 nach Deutschland zurückkehrte, zog er in eine Wohnung | |
| im Stadtzentrum von Göttingen und erhielt eine Anstellung als Oberinspektor | |
| im städtischen Badehaus – eine angesehene Verwaltungsposition, die ihm | |
| sonst als Sohn einer Bauernfamilie wohl verwehrt geblieben wäre. Dazu kam | |
| ein stattlicher Rentensold für ehemalige Kolonialsoldaten. | |
| „Für ihn bedeutete der Kolonialdienst einen sozialen Aufstieg“, fasst | |
| Messerschmidt zusammen. Er habe einen gewissen Standesdünkel entwickelt, so | |
| erzählt es seine Großmutter. Historiker Jürgen Zimmerer bestätigt: „Das w… | |
| eine häufige Motivation. Selbst wenn man im Kaiserreich ganz unten stand – | |
| in der Kolonie, mit ihrer rassistischen Hierarchie, war man plötzlich | |
| jemand.“ | |
| In den betroffenen Communities in Tansania ist die koloniale | |
| Gewalterfahrung auch 120 Jahre später spürbar. Insbesondere der | |
| Maji-Maji-Krieg habe kollektive „traumatische Erinnerungen“ hinterlassen, | |
| die bis heute in den Köpfen weiterleben, schreibt der tansanische | |
| Historiker Reginald Elias Kirey. | |
| Während Messerschmidt in Deutschland beginnt, die Täterperspektive kritisch | |
| zu bearbeiten, fordern in Tansania – auch ermutigt durch die Initiativen | |
| der Herero und Nama in Namibia – Nachkommen der Ngoni finanzielle | |
| Entschädigung, die Rückgabe [7][gestohlener Kulturgüter] und die | |
| Rückführung menschlicher Gebeine von ermordeten Wiederstandskämpfer:innen, | |
| deren Schädel bis heute in deutschen Museen liegen | |
| 27 Aug 2025 | |
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