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# taz.de -- Deutsche Kolonialgeschichte: Der Kolonialist im Familienalbum
> Nicolai Messerschmidt forscht seinem Ururgroßvater nach, der als Soldat
> in Deutsch-Ostafrika diente – und entdeckt Lücken in den
> Familienerzählungen.
Bild: Ein unbekannter Soldat und Theodor Schneemann
Berlin taz | Steif sitzt er in weißer Militäruniform auf einem Pferd, Füße
in den Steigbügeln, die Zügel straff in den Händen. Im Hintergrund die
Palmen der ostafrikanischen Tropen, eine Lehmhütte. Neben dem Pferd, etwas
tiefer gestellt, ein Schwarzer Soldat. Der weiße Mann mit Schnurrbart
blickt auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto streng nach vorn. Sein
Ururenkel Nicolai Messerschmidt betrachtet das Foto 120 Jahre später durch
seine eckigen Brillengläser, als er durch das schwere Familienalbum
blättert. Seit ihm seine Großmutter das Album als Jugendlichem zeigte,
lassen ihn die Fragen nicht los: Wer war dieser Mann? Und was hat er dort
in Ostafrika getan?
Als kleiner Junge saß Nicolai Messerschmidt oft im Wohnzimmer seiner
Großmutter Berbel, an der Wand hinter sich ein Gemälde der afrikanischen
Savanne. In der Ecke stand ein alter Holztisch, ein Mitbringsel seines
Ururgroßvaters, darauf eine geschnitzte Elefantenfigur, allerdings von
Karstadt. Heute, mit 28 Jahren, erinnert sich Messerschmidt, wie er
aufmerksam den Erzählungen seiner Großmutter über die Abenteuer ihres
Großvaters in Ostafrika lauschte.
Persönlich kennengelernt hatte die Großmutter ihren Opa Theodor Schneemann
nicht mehr. Familiengeschichten aus der Kolonialzeit habe sie trotzdem gern
erzählt, berichtet Messerschmidt. Nur zu einem Bild habe es in seiner
Jugend keine Antworten gegeben.
Messerschmidt blättert die Seiten des Albums um, bis er bei einer Postkarte
innehält, die aus der tropischen Urlaubsidylle heraussticht. Die Karte
zeigt eine Gruppe von sieben Schwarzen Frauen, schwere Eisenketten hängen
ihnen um den Hals. In ihren Händen halten sie lange Holzhämmer. Einige
blicken ernst, andere traurig in die Kamera.
Dorfgemeinschaften vertrieben, Menschen in Zwangsarbeit gedrängt
Das Foto zeugt von der Anwesenheit der kaiserlichen Truppen in der Kolonie
Deutsch-Ostafrika, die mit Urlaubsidylle nichts zu tun hatte. In Gebieten
des heutigen Tansania, Burundi, Ruanda und Mosambik ließen die deutschen
Kolonialisten zwischen 1885 und 1918 Plantagen für Kautschuk, Hanf,
Baumwolle und Kaffee errichten und drängten Menschen durch unbezahlbare
Steuern in die Zwangsarbeit. Für die deutschen Siedler:innen vertrieben
sie ganze Dorfgemeinschaften von ihren Feldern und nahmen ihnen ihre
Lebensgrundlage. Zu dieser Zeit war auch Messerschmidts Ururgroßvater vor
Ort.
„Bis in die 2000er Jahre hinein gab es in Deutschland [1][kaum eine
kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit]“, sagt der Historiker
Jürgen Zimmerer. Er leitete bis 2024 die Forschungsstelle „Hamburgs
(post-)koloniales Erbe“. Das erklärt, warum Messerschmidts Großmutter
lieber nicht über den Nationalsozialismus redete, gerne aber über die
Kolonialzeit. „Es gab für die Menschen keinen Grund, über den Kolonialismus
zu schweigen, weil man sich nicht schuldig fühlte“, so Zimmerer. Bis heute
gebe es in Deutschland eine koloniale Amnesie, die die Gewalt der Deutschen
in den Kolonien verdränge.
Heute möchte Nicolai Messerschmidt verstehen, welche historischen
Realitäten sich hinter den Abenteuergeschichten seines Ururgroßvaters
verbergen. Als Abschlussprojekt seines Studiums der Gesellschaftstheorie
hat er sich deshalb nicht nur mit dem Fotoalbum seiner Großmutter
beschäftigt, sondern mit einer ganzen Kiste voller Dokumente. „Afrikakiste“
nannte seine Großmutter die Pappkiste, in der sie Schneemanns Nachlass
aufbewahrte.
Darin stieß Messerschmidt auf Briefe und Postkarten, die Schneemann an
Verwandte in Deutschland geschickt hatte, sowie auf ausgeschnittene
Zeitungsartikel. Im deutschen Bundesarchiv fand er zudem die Personalakte
seines Ururgroßvaters, sie stammt aus den Unterlagen des
Reichskolonialamts. Geübt entziffert er die alte Handschrift auf dem
ausgestellten Formular. Unteroffizier Theodor Schneemann, Stiefelmaße: 27 ½
cm. Körpergröße: 1,67. Dienstbeschädigungen: Malaria.
## 1903 ging er zur Kaiserlichen Schutztruppe
„Aus all diesen Dokumenten habe ich eine grobe Biografie meines
Ururgroßvaters erstellt“, sagt Messerschmidt. Was er bisher weiß:
Schneemann wird 1879 in eine Bauernfamilie in Rittmarshausen bei Göttingen
geboren. Mit 18 Jahren tritt er der Kavallerie der preußischen Armee bei.
1903 geht er schließlich zur Kaiserlichen Schutztruppe für
Deutsch-Ostafrika. Er ist in Dar es Salaam stationiert.
Die heutige Millionenstadt an der Küste Tansanias hat damals gerade 20.000
Einwohner:innen. Sie ist der Verwaltungssitz der 1895 gegründeten Kolonie,
die fast doppelt so groß ist wie das damalige deutsche Reich. 1907
heiratete Schneemann Bertha Kopp aus Rittmarshausen. Sie zieht zu ihm nach
Dar es Salaam, wo sie gemeinsam einen Sohn bekommen.
In Göttingen führt Messerschmidt heute durch das Foyer eines
selbstorganisierten Theaters. Eine kleine Wanderausstellung mit dem Titel
„Das Album“ zeigt dort die alten Fotografien aus dem Album seines
Ururgroßvaters und erklärt zugleich den historischen Hintergrund samt der
abgebildeten kolonialen Machtgefüge.
Gemeinsam mit der Gruppe Göttingen Postkolonial hat Messerschmidt die
Ergebnisse seiner Spurensuchen kuratiert. Vor jeder Aufführung können die
Theaterbesucher:innen einen Blick auf die Aufsteller im Foyer werfen.
„Ich möchte anderen Familien, deren Kolonialgeschichte in einer Kiste auf
dem Dachboden schlummert, eine Hilfestellung für die Aufarbeitung an die
Hand geben“, sagt Messerschmidt.
## Die Folgen der Ausbeutung
In Tansania sind [2][Spuren des deutschen Kolonialismus] bei genauem
Hinsehen bis heute erkennbar – zum Beispiel in der gotischen
St.-Joseph-Kathedrale an der Hafenpromenade Dar es Salaams oder in
Kiswahili-Begriffen wie „shule“. Die ausbeuterischen Wirtschaftspraktiken
der deutschen Kolonialherrschaft beeinträchtigten lokale Gemeinden bis in
die Gegenwart, schreibt die Historikerin Nancy Rushohora von der
Universität Dar es Salaam. Besonders die ehemaligen Maji-Maji-Gebiete im
Süden des Landes seien bis heute von der wirtschaftlichen Entwicklung des
Landes abgehängt – eine Folge der Kolonialzeit.
Damalige Widerstandsführer werden heute in Tansania als Nationalhelden
geehrt: Die Straße in Dar es Salaam, die einst nach dem deutschen
Gouverneur Hermann von Wissmann benannt war, erinnert heute an Chief
Makunganya. 1894 kämpfte er gegen die deutschen Truppen. Aus
Grundschulbüchern lernen die Kinder die Geschichten antikolonialen
Wiederstandes. Jedes Jahr am 27. Februar gedenkt die Nation den
Widerstandskämpfer:innen gegen die Kolonialherrschaft.
In der Ausstellung in Göttingen zeigt Messerschmidt auch einige Fotos von
Schneemann, auf denen er auf einem Zebra reitet, eines vor seine Kutsche
spannt oder ein blass gestreiftes Zebroid – halb Pferd, halb Zebra – am
Strick führt. Als Leiter des Schutztruppengestüts sei es seine Aufgabe
gewesen, Zebras zu domestizieren und mit Pferden zu kreuzen, erzählt
Messerschmidt.
Das Kaiserreich hoffte, sie als widerstandsfähige Nutztiere für
Militärexpeditionen ins afrikanische Inland einzusetzen. Anders als Pferde
sind sie weniger anfällig für die von der Tsetsefliege verbreitete
Schlafkrankheit. Das Vorhaben kam jedoch nie über die Testphase hinaus und
scheiterte schließlich. „Dieses Motiv der Unterwerfung der afrikanischen
Natur zieht sich durch den gesamten Nachlass“, erklärt Messerschmidt. „Den
Kontinent zu beherrschen, hieß für die Kolonialherren auch, seine Natur zu
bezwingen.“
## Stolz auf den Ururgroßvater
In der „Afrikakiste“ seiner Großmutter ist er auf einen Zeitungsartikel von
1903 aus der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung gestoßen. Darin werden die
Erfolge des Stallmeisters Theodor Schneemann gewürdigt. Über 120 Jahre
wurde dieser Zeitungsausschnitt an die nächste Generation weitervererbt.
„Meine Familie war immer stolz auf diese Leistung von Schneemann“, erinnert
sich Messerschmidt. Schließlich gelten Zebras als nur schwer
domestizierbare, geschweige denn als reitbare Tiere.
Auch er erzählt noch heute gerne von den Zebras seines Ururgroßvaters. Er
fragt sich aber auch, wie viel von diesem Erfolg tatsächlich Schneemann
zuzuschreiben ist. Die meiste Arbeit in der Armee wurde nicht von Deutschen
verrichtet. Vorwiegend bestand die Schutztruppe aus Nubiern, Somaliern und
Zulus. Während der Stationierung Schneemanns unterstanden den etwa 260
deutschen Offizieren bis zu 2.500 sogenannte Askaris. Sie waren die
Fußsoldaten in der streng nach rassistischen Hierarchien aufgebauten
Truppe.
Messerschmidt beugt sich über einen Aufsteller, um auf ein kleines Detail
auf einem der Fotos hinzuweisen. Schräg hinter Schneemann auf seinem Pferd
steht ein weiterer weißer Offizier. Er posiert für das Foto, indem er seine
Waffe auf einem vor sich hockenden Schwarzen Untergebenen richtet. „Eine
widerliche Inszenierung ihrer Macht“, sagt Messerschmidt. Im Laufe der
Recherche habe er immer mehr Details der Erniedrigung entdeckt, die ihm als
Jugendlichem entgangen waren.
Den Schwarzen Soldaten in kurzer Hose zum Beispiel, der am Rand eines
weiteren Fotos zu sehen ist. Er hält einem weißen Offizier, der gerade für
das Foto in einer Kutsche posiert, sein Bier. Auf einem anderen Foto sieht
er einen weißen Kameraden von Schneemann, der sich eine Trommel wie eine
Mütze auf den Kopf zieht, wohl um sich über die lokale Kultur lustig zu
machen. „Sie fanden das normal, für sie waren die Schwarzen Menschen
weniger Wert“, sagt Messerschmidt.
## Für manche Antworten ist es zu spät
Eine Postkarte aus der Kiste seiner Großmutter bringt ihn immer wieder zum
Nachdenken. Es ist eine Ansichtskarte des Vesuvs. Schneemann verschickte
sie 1905 aus Neapel, wo er nach seinem Heimaturlaub auf das Schiff nach Dar
es Salaam wartete. Er schrieb seiner Verlobten: „Liebe Bertha! Gut
angekommen. Der Kapitän wollte uns nur sehen. Abfahrt Dienstag. Der
Aufstand ist wieder vorbei. Grüße an alle, Dein Theodor.“
Die beiläufige Randnotiz verweist auf eine der grausamsten Episoden
deutscher Kolonialherrschaft: [3][den Maji-Maji-Krieg]. Von 1905 bis 1907
erhoben sich die Menschen im südlichen Tansania gegen die
Kolonialregierung. Auslöser war die brutale Ausbeutung: Mit Kopfsteuern
drängte die Kolonialverwaltung die Bevölkerung in die Arbeit auf deutschen
Baumwollplantagen. Wer sich widersetzte, wurde gefoltert, vergewaltigt oder
in die Zwangsarbeit getrieben.
Der Heiler Kinjikitile Ngwale prophezeite damals, ein heiliges Wasser, Maji
auf Kiswahili, werde die Aufständischen vor deutschen Kugeln schützen und
ihnen den Sieg bringen. Seine Botschaft einte über ethnische Grenzen hinweg
rund 20 Bevölkerungsgruppen zu einem der breitesten antikolonialen
Aufstände des Kontinents. Doch die deutschen Schutztruppen schlugen den
Aufstand gewaltsam nieder. Kinjikitile wurde gehängt. In einer Politik der
„verbrannten Erde“ zerstörten Askaris unter dem Kommando deutscher
Offiziere Brunnen und brannten Felder nieder. Schätzungsweise 300.000
Menschen fielen diesem Vernichtungsfeldzug zum Opfer.
In Schneemanns Personalakte findet Messerschmidt einen Vermerk:
„Beteiligung an der Niederwerfung des […] Aufstandes in D. O. A. 1905, 06,
07“. Doch anders als bei den Kameraden sind keine konkreten Gefechte oder
Einsatzorte aufgeführt. Ob Messerschmidt darauf hoffen kann, dass sein
Ururgroßvater nicht an den Massakern des Maji-Maji-Kriegs direkt beteiligt
war, wird er wohl nie erfahren. Es ist zu spät, um Antworten zu bekommen.
## Maji-Maji-Krieg in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet
Für Messerschmidt ist klar, dass die dunkelsten Seiten der Kolonialzeit in
seiner Familie zu lange verschwiegen wurden. Seine Mutter kannte das Album,
aber das Foto der Schwarzen Zwangsarbeiterinnen in Ketten war ihr damals
nicht aufgefallen. „Als ich anfing, meiner Oma Fragen zu stellen, bereute
meine Mutter, dass sie ihre Großeltern nicht danach gefragt hatte“, sagt
Messerschmidt.
Schon während des Maji-Maji-Kriegs sei dieser in der deutschen
Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben, sagt der Historiker Jürgen
Zimmerer. Der Grund: Es kämpften nur wenige deutsche Soldaten – die blutige
Arbeit überließ das Kaiserreich weitgehend afrikanischen Söldnern. „Auch
noch nach dem Verlust der Kolonien infolge des Versailler Vertrags
wünschten sich viele das Imperium zurück“, sagt Zimmerer.
Ob Messerschmidts Großmutter vom Massaker in Tansania und anderen
Verbrechen wusste? 2023, kurz vor ihrem Tod, befragte er sie dazu – wieder
auf dem vertrauten Sofa unter dem Gemälde der afrikanischen Savanne, wo er
als Kind ihren Geschichten gelauscht hatte. „Sie war sich einerseits
bewusst, dass es Krieg und Gewalt gab“, sagt er, „aber andererseits wollte
sie ein positives Andenken an ihren Großvater bewahren.“
Ein Foto aus dem Album fehlt in der Ausstellung: Die grausame Postkarte der
aneinandergeketteten Zwangsarbeiterinnen. „Wir zeigen es nicht, [4][weil
die Frauen darauf nie zugestimmt hatten], so erniedrigt fotografiert und
ausgestellt zu werden“, erklärt Messerschmidt. Die Entscheidung traf er
gemeinsam mit den afrodeutschen Prozessbegleiterinnen und Künstlerinnen
Patricia Vester und Wilma Nyari, die die Konzeption der Ausstellung
rassismuskritisch mitgestalteten. „Erst durch die beiden habe ich
begriffen, dass ich diese Bilder nicht einfach unkommentiert an die
Ausstellungswand klatschen kann“, sagt Messerschmidt. Stattdessen steht an
dieser Stelle der Ausstellung ein Gedicht von Vester.
Ihr Schmerz ihre Wut,
verschickt durch die Zeit –
Sie sprechen zu mir
„Ich war hier. Es hat mich gegeben.
Ihre Taten sind Zeugnisse.
Meins, Deins unser Leben
sind verwobene Geschichte –
ALLES LEBEN“
Zu oft fehle die tansanische Perspektive in der deutschen Aufarbeitung,
sagt Vester. „Mit meiner Kunst versuche ich ihre Stimmen einzufangen, sie
sichtbar zu machen.“ Es ist der Versuch der Ausstellung, nicht nur aus
einer weißen Täterperspektive zu erzählen – etwas, das nicht
selbstverständlich sei, so Vester. Bei ihrer Arbeit mit großen Museen stoße
sie immer wieder auf Widerstand, wenn es darum gehe, kritischen Schwarzen
Stimmen Raum zu geben.
Nicolai Messerschmidt würde gerne wissen, wie die Afrikaner:innen in
Dar es Salaam damals über Schneemann gedacht haben. Eine von ihnen – Frau
Symunza – ist die einzige Schwarze Frau, die in seinem Nachlass namentlich
erwähnt wird. Messerschmidt zeigt auf einem Foto der Ausstellung auf die
Frau, die in ein schlichtes Tuch gekleidet ist. Sie steht mit einer Gruppe
Afrikanerinnen vor einem Zeltlager. „Ich würde ihrer Enkelin gerne zuhören,
wie ich meiner Oma zuhörte. Wie wurde in ihrer Familie wohl über die
Kolonialzeit geredet?“, sagt Messerschmidt. Doch sie zu finden, über ein
Jahrhundert später, mit kaum mehr als einem Namen einer Vorfahrin auf der
Rückseite eines vergilbten Fotos, ist heute unmöglich.
„Gäbe es ein zentrales Dokumentationszentrum zum Kolonialismus, könnte
dieses in genau solchen Fällen beraten – wenn Bürgerinnen und Bürger, aber
auch Unternehmen oder Behörden ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten
wollen“, sagt Historiker Zimmerer. Eine vergleichbare Rolle übernehmen
bereits die NS-Gedenkstätten bei der Aufarbeitung der Nazizeit.
Die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte sich den Aufbau
eines solchen Gedenkortes zur Aufgabe gemacht, als sie 2024 die
Aufarbeitung des Kolonialismus – neben DDR und Nationalsozialismus – zur
dritten Säule der deutschen Erinnerungskultur erklärt hatte. „Das war der
Höhepunkt in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus“, sagt Zimmerer.
2023 [5][reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Tansania] und
entschuldigte sich dort erstmals offiziell bei den Nachfahren der Opfer des
Maji-Maji-Krieges. Erreicht worden sei dieser politische Wendepunkt
maßgeblich durch langjährige zivilgesellschaftliche Bemühungen, so
Zimmerer. Seit über 15 Jahren engagierten sich Diaspora-Gemeinschaften und
postkoloniale Gruppen dafür, dass Deutschland endlich Verantwortung für
seine Vergangenheit übernehme.
Doch Roth scheiterte mit ihrer Reform der deutschen Erinnerungspolitik. Der
Widerstand, [6][auch bei Gedenkstätten zum Nationalsozialismus und zur
SED-Diktatur], war groß. Dabei ging es nicht nur um Gelder, zentral war die
als Historikerstreit 2.0 bekannte Debatte um die erinnerungspolitische
Positionierung des Kolonialismus im Verhältnis zur Schoah. Seitdem
beobachtet Zimmerer Rückschritte in der kolonialen Aufarbeitung:
Bestehenden und geplanten Projekten seien die Fördermittel entzogen worden.
„Auch die konservative Rechte erkennt zunehmend das politische Potenzial,
das im Widerstand gegen die Aufarbeitung liegt“, warnt er.
Dazu gehöre auch der derzeitige Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. In
dessen 2018 erschienenem Buch „Das Konservative Manifest“ kritisiert er die
seiner Ansicht nach einseitig negative Erinnerungspolitik, die von
„moralischen Gewissensbissen“ geprägt sei. Dem widerspricht der Historiker
Jürgen Zimmerer klar: „Der Kolonialismus ist ein strukturell rassistisches
Unrechtssystem. Punkt. Es gibt keine positiven Seiten.“ Hoffnung, dass sich
unter Weimer etwas an der Erinnerungspolitik ändern wird, hat Zimmerer
kaum. Angesichts der stockenden staatlichen Aufarbeitung des deutschen
Kolonialismus seien aber zivilgesellschaftliche Initiativen wie die von
Nicolai Messerschmidt umso wichtiger.
Der sagt, Erinnerungsarbeit müsse wenn nötig auch den Staat kritisieren.
„Denn der deutsche Kolonialismus ist noch nicht wirklich vorbei.“ Er wirke
fort in der deutschen Abschiebepolitik und in ungleichen Handelsbeziehungen
mit afrikanischen Staaten. Messerschmidt hofft, dass die Besucher:innen
seiner Ausstellung durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch
einen schärferen Blick auf koloniale Kontinuitäten der Gegenwart gewinnen.
„Das ist meine und auch unsere Verantwortung als Nachfahren der
Kolonialisten.“
## Mit Standesdünkel zurückgekommen
Als Schneemann 1910 nach Deutschland zurückkehrte, zog er in eine Wohnung
im Stadtzentrum von Göttingen und erhielt eine Anstellung als Oberinspektor
im städtischen Badehaus – eine angesehene Verwaltungsposition, die ihm
sonst als Sohn einer Bauernfamilie wohl verwehrt geblieben wäre. Dazu kam
ein stattlicher Rentensold für ehemalige Kolonialsoldaten.
„Für ihn bedeutete der Kolonialdienst einen sozialen Aufstieg“, fasst
Messerschmidt zusammen. Er habe einen gewissen Standesdünkel entwickelt, so
erzählt es seine Großmutter. Historiker Jürgen Zimmerer bestätigt: „Das w…
eine häufige Motivation. Selbst wenn man im Kaiserreich ganz unten stand –
in der Kolonie, mit ihrer rassistischen Hierarchie, war man plötzlich
jemand.“
In den betroffenen Communities in Tansania ist die koloniale
Gewalterfahrung auch 120 Jahre später spürbar. Insbesondere der
Maji-Maji-Krieg habe kollektive „traumatische Erinnerungen“ hinterlassen,
die bis heute in den Köpfen weiterleben, schreibt der tansanische
Historiker Reginald Elias Kirey.
Während Messerschmidt in Deutschland beginnt, die Täterperspektive kritisch
zu bearbeiten, fordern in Tansania – auch ermutigt durch die Initiativen
der Herero und Nama in Namibia – Nachkommen der Ngoni finanzielle
Entschädigung, die Rückgabe [7][gestohlener Kulturgüter] und die
Rückführung menschlicher Gebeine von ermordeten Wiederstandskämpfer:innen,
deren Schädel bis heute in deutschen Museen liegen
27 Aug 2025
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Josefine Rein
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