| # taz.de -- 10 Jahre „Wir schaffen das!“: Willkommen in der Traum(a)stadt | |
| > Das Jubiläum ist unserem Kolumnisten Anlass, daran zu erinnern, dass seit | |
| > Sommer 2015 mit den Geflüchteten auch traumatisierte Menschen zu uns | |
| > kommen. | |
| Bild: Der vergessene Krieg: Khartum, der Präsidentenpalast, nachdem dieser im … | |
| Happy Birthday, [1][„Wir schaffen das!“] Angela Merkels Satz feiert | |
| Zehnjähriges. Für die einen ist er gut gealtert, für die anderen immer noch | |
| eine Unverschämtheit. Für mich ist das Jubiläum Anlass, an etwas anderes zu | |
| erinnern: Seit dem Sommer 2015 kommen mit den Geflüchteten [2][auch | |
| traumatisierte Menschen] zu uns. | |
| Sie sind natürlich nicht die ersten ihrer Art. Vor ihnen kam, zum Beispiel, | |
| [3][meine Familie aus Kabul]. Davor kamen sogenannte Gastarbeiter, die für | |
| ganz eigene Erfahrungen von Entwurzelung und Ausgrenzung stehen. Und davor? | |
| Mauerbau, Vertreibung, Weltkriege und Shoah. Heute stapeln sich in Berlin | |
| alte und neue Traumata: Verelendung, Wohnungslosigkeit und sexuelle Gewalt, | |
| Raub und Mord. Sie sind nicht vergleichbar, aber jedes Trauma verursacht | |
| sein eigenes schweres Leid. | |
| Ich denke auch an den Vater einer Freundin. Er musste zum Ende des Zweiten | |
| Weltkriegs mit anhören, wie sowjetische Soldaten im Nebenzimmer seine | |
| ältere Schwester vergewaltigten. Die Schreie bekomme er bis heute nicht aus | |
| dem Kopf. Auch das ist Berlin. | |
| Die Stadt bleibt ein Ort, an dem sich Wunden überlagern. Jüdische | |
| Berliner:innen leben in Angst, zeigen kaum noch ihr Jüdisch-Sein. | |
| Gleichzeitig sehen viele mit Entsetzen, dass nach dem Trauma des 7. Oktober | |
| eine reaktionär-rechtsextremistische Regierung in Israel auch in ihrem | |
| Namen Verbrechen begeht und das Leben der Geiseln zusätzlich gefährdet. | |
| Palästinensische Berliner:innen wiederum betrauern ihre getöteten | |
| Angehörigen und sorgen sich um vertriebene Verwandte. Sie erleben, wie sie | |
| durch legitime Kritik an der israelischen Regierung und an deutschen | |
| Doppelstandards unter Generalverdacht geraten, als antisemitisch oder | |
| islamistisch. Wie Protest delegitimiert und Identitäten geleugnet werden. | |
| Auch das ist Berlin. | |
| Und all die Ukrainer:innen und Angehörigen russischer Soldaten … Oder | |
| Menschen aus dem Sudan, die ihre Familien in einem vergessenen Bürgerkrieg | |
| verlieren, ganz ohne Sondersendungen. Auch in diesem Text bleiben Konflikte | |
| und Schicksale ungenannt. Aber sie schwingen mit – in Blicken, im | |
| Schweigen, im Alltag von uns allen. | |
| Was ist überhaupt ein psychisches Trauma? Die WHO beschreibt die „seelische | |
| Verletzung“ als ein „Ereignis außergewöhnlicher Bedrohung oder mit | |
| katastrophalem Ausmaß“. In seinem Standardwerk „The Body Keeps The Score“ | |
| [4][ergänzt der Traumaforscher Bessel van der Kolk]: „Trauma is not the | |
| story of something that happened back then, but the current imprint of that | |
| pain, horror, and fear living inside.“ Diese Abdrucke haben oft | |
| [5][posttraumatische Belastungsstörungen zur Folge], manchmal erst Jahre | |
| später. Traumata wirken nach: in Körpern und Seelen, in Beziehungen, in | |
| Familiengeschichten und Gesellschaften, oft über Generationen hinweg. | |
| Berlin ist voll von diesen Prägungen. In Moabit, [6][wo das „Zentrum | |
| Überleben“ Geflüchtete begleitet]. In Pankow, wo [7][Flinta*-Workshops] | |
| Räume für Atem und Sprache schaffen. In Jugendzentren, Wartezimmern und an | |
| so vielen anderen Stellen, [8][viele unterfinanziert und um den Fortbestand | |
| bangend]. | |
| Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – geht es oft erstaunlich | |
| „gesittet“ zu. Keine Selbstverständlichkeit für eine Stadt, in der sich so | |
| viele Geschichten von Gewalt, Verlust und Überleben kreuzen, manchmal | |
| miteinander konkurrieren. Vieles fehlt, anderes ätzt, einiges scheitert. | |
| Aber dass wir miteinander aushalten, was wir an Schmerz mitbringen – das | |
| ist vielleicht das eigentlich Beeindruckende. Das ist ein kleines „Wir | |
| schaffen das“, jeden Tag aufs Neue. Aller Hetze und Anfeindungen zum Trotz. | |
| Und gegen jeden Paternalismus. | |
| 17 Aug 2025 | |
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| [1] /!vn6100475/ | |
| [2] https://www.baff-zentren.org/themen/flucht-trauma/psychosoziale-auswirkunge… | |
| [3] /Erinnerung-an-Loewenzahn/!6097172 | |
| [4] https://www.traumapro.org/the-body-keeps-the-score | |
| [5] https://www.baff-zentren.org/publikationen/versorgungsberichte-der-baff/ | |
| [6] https://www.baff-zentren.org/publikationen/versorgungsberichte-der-baff/ | |
| [7] http://www.trixiewiz.de/flintraum/ | |
| [8] /Psychologische-Hilfe-fuer-Gefluechtete/!6098152 | |
| ## AUTOREN | |
| Bobby Rafiq | |
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