# taz.de -- Jahrestag der Taliban-Machtübernahme: Das vergessene Elend | |
> Nicht nur die Taliban sind ein Zerstörer für Afghanistan. Vier Jahre nach | |
> der Machtübernahme steht das Land vor multiplen Krisen, die die Welt | |
> ignoriert. | |
Bild: Vor vier Jahren gingen diese Bilder um die Welt, heute lassen wir die Sch… | |
Vier Jahre Talibanherrschaft, und Afghanistan interessiert niemanden noch | |
so wirklich. In der hiesigen Aufmerksamkeitsökonomie, so scheint es, ist | |
nicht genug Platz für mehr Gräuel. Es ist zynisch, hier in Konkurrenz zum | |
Ukrainekrieg und dem Völkermord in Gaza zu treten. Afghanistan geht unter, | |
wie Haiti, Sudan und Kongo untergehen. | |
Doch das eigentliche Problem ist nicht, dass wir wegschauen. Es ist, wie | |
wir hinschauen, wenn wir es denn tun. Alle Jahre wieder zum Jahrestag der | |
Machtübernahme empören wir uns über die Menschenverachtung der Taliban, | |
berufen uns auf universelle Werte, fordern die Bundesregierung auf, bloß | |
nicht mit diesem Regime gemeinsame Sache zu machen. | |
Als wäre die Kritik an der systematischen Frauenfeindlichkeit – so | |
notwendig sie ist – eine Antwort auf die Frage, wie 40 Millionen Menschen | |
überleben sollen. Als wären die Taliban das erste und einzige Problem | |
Afghanistans. | |
Die Taliban sind zweifellos ein Problem. Sie sind militärisch kampferprobt | |
und geheimdienstlich gut aufgestellt, doch fehlt es ihnen an jeglicher | |
Expertise beim Führen eines Landes. In den unteren Rängen des | |
Beamtenapparats arbeitet zwar nach wie vor dasselbe Personal wie unter der | |
vorherigen Regierung, doch dort, wo Taliban in Führungspositionen | |
eingesetzt werden, fehlt jegliche Kompetenz. Wie eine kopflose Krake, die | |
nicht weiß, was ihre einzelnen Tentakel machen. | |
Die oberste Führung sitzt in Kandahar, der zweitgrößten Stadt im Süden des | |
Landes, fernab der Hauptstadt Kabul. Präsent scheint sie nur beim | |
[1][Erlass von Verboten zu sein, die das Leben von Frauen und Mädchen | |
erschweren]. Frauen und Mädchen ist jegliche weiterführende formelle | |
Bildung untersagt, die Mobilität und Berufstätigkeit massiv beschränkt. | |
Bitter, aber wahr ist: Selbst eine fachlich kompetente Regierung könnte die | |
Probleme Afghanistans nicht alleine bewältigen. | |
## Die Katastrophe unter der Oberfläche | |
Denn die eigentliche Katastrophe liegt tiefer: Es ist die Armut, die | |
Arbeitslosigkeit, die strukturelle Zerstörung eines Landes. In den | |
Jahrzehnten des vermeintlichen „Nation Building“ wurde keine nachhaltige | |
Wirtschaftspolitik betrieben, keine eigene Industrie entwickelt, nur | |
Abhängigkeiten wurden geschaffen. | |
Afghanistan wurde über Jahrzehnte von einem Land der Selbstversorger zu | |
einem Land der Importeure gemacht. Und dann, mit dem [2][Truppenabzug | |
2021], hat man einfach die Infusionsnadel gezogen, den Tropf weggenommen. | |
Die Devisen eingefroren, die Währung geschwächt, Essen fast unerschwinglich | |
gemacht. | |
Die Städte platzen aus allen Nähten. Alleine Kabul beherbergt über 5 | |
Millionen, die meisten leben in informellen Siedlungen. Warum? Weil Krieg | |
und Kriegsverbrechen in den Provinzen stattfanden, weil Binnengeflüchtete, | |
Abgeschobene und Rückkehrer nirgendwo anders im Land mehr Anschluss haben. | |
Die [3][Nachbarländer sind dabei, sich der dort lebenden Afghanen zu | |
entledigen]. Nach Angaben der UN wurden alleine in diesem Jahr mehr als 1 | |
Million Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Generationen von Afghanen, | |
in Iran und Pakistan geboren, werden in ein [4][Land deportiert, das sie | |
nie kannten]. | |
## Keine hausgemachten Probleme der Taliban | |
Hinzu kommt der Klimawandel, der Afghanistan erheblich trifft. Ausgerechnet | |
eines der Länder, das für die wenigsten CO2-Emissionen weltweit | |
verantwortlich ist. | |
Naturkatastrophen häufen sich, Wasserknappheit betrifft akut Millionen | |
Menschen. Das gesamtgesellschaftliche Gefüge, das seit 50 Jahren Krieg | |
erheblichen Schaden davongetragen hat, wird Jahrzehnte der Aufarbeitung | |
benötigen. Das sind nicht die hausgemachten Probleme der Taliban. | |
## NGOs haben die falschen Ansätze | |
Und was ist unsere Antwort? Aktivisten und Teile der afghanischen Diaspora | |
fordern die Achtung der Menschenrechte ein, fordern harte Sanktionen, als | |
würden diese die Taliban und nicht die Bevölkerung treffen. | |
Eine [5][jüngst veröffentlichte Studie] hat festgestellt, dass US- und | |
EU-Sanktionen global mit mindestens einer halben Million Toten jährlich | |
korrelieren. Es trifft immer die Vulnerabelsten. Als wären wir nicht längst | |
bei der Tatsache angekommen, dass das Völkerrecht tot und jegliche Moral | |
eine Frage des politischen Interesses ist, nicht der Universalität. | |
Andere NGOs schaffen Abhängigkeit statt nachhaltige Strukturen. Sie | |
sprechen über [6][Frauenrechte] und Bildung – wichtige Themen, zweifellos – | |
oft jedoch fern der Realität des Landes. Als wäre der Zugang zu Bildung die | |
dringendste Frage für Familien, die sich fragen, wie sie den Winter | |
überleben sollen. | |
## Abschiebung und Akzeptanz | |
Während hierzulande vor 9/11 niemand so recht wusste, wo Afghanistan liegt | |
und man dann zwanzig Jahre „Friedens- und Demokratiesicherung“ propagierte, | |
ist heute die Stimmung: Abschiebung – möglichst bis gestern. | |
Die Taliban werden international Stück für Stück [7][anerkannt]. Auch | |
hierzulande sollen mittlerweile zwei ihrer Diplomaten akkreditiert werden, | |
um Abschiebungen zu erleichtern. | |
In den zensierten Medien Afghanistans läuft eine Erfolgsmeldung nach der | |
anderen: Händeschütteln hier, eine Freihandelszone da. Und in diesem | |
Wahnsinn boomt der Tourismus durch gelangweilte Westler, die Afghanistan | |
als exotisches Abenteuer entdecken. | |
## Nicht nur zum Jahrestag hinschauen | |
Wenn wir über Afghanistan alle Jahre wieder zum Jahrestag der | |
[8][Taliban-Machtübernahme] sprechen, als wäre der 15. August 2021 ein | |
singuläres Ereignis, das einzig und alleine für jede Misere in Afghanistan | |
verantwortlich ist, und wenn wir alles auf die Menschenverachtung dieses | |
Regimes reduzieren, kehren wir die signifikanten Krisen, Klimawandel, | |
Massenvertreibungen, grassierende Armut unter den Teppich. | |
Wir warten auf das nächste Ereignis, das den bereits bestehenden | |
Katastrophen dieser Erde die Aufmerksamkeit raubt. | |
Afghanistan ist bereits vergessen. Doch Wegschauen führt nicht dazu, dass | |
[9][Afghanistan und seine Bevölkerung aufhören], Teil dieser Welt zu sein, | |
mit einem Anspruch darauf, mit Menschlichkeit und Verantwortung behandelt | |
zu werden. | |
In Zeiten der systematischen Entsolidarisierung erscheint dies immer ferner | |
und ferner. | |
15 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Unterdrueckung-von-Frauen/!6100131 | |
[2] /Deutsche-Verantwortung-in-Afghanistan/!5789672 | |
[3] /Massenabschiebungen-in-Pakistan/!6104596 | |
[4] /Abschiebeflug-nach-Afghanistan/!6099857 | |
[5] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/10076 | |
[6] /Soziologin-ueber-Antifeminismus/!6094497 | |
[7] /Unterdrueckung-von-Frauen-IStGH-erlaesst-Haftbefehle-gegen-Taliban-Anfuehr… | |
[8] /Abzug-aus-Afghanistan/!5789435 | |
[9] /Afghanische-Gefluechtete-in-Iran/!6092990 | |
## AUTOREN | |
Mina Jawad | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Taliban | |
Macht | |
Frauenfeindlichkeit | |
Bildungspolitik | |
NGO | |
Kabul | |
Jahrestag | |
Social-Auswahl | |
Friedrich Merz | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Islamabad | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Bundesregierung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Abschiebungen nach Afghanistan: Organisierte Verantwortungslosigkeit | |
Die Bundesregierung erweckt den Anschein von Geschäftigkeit bei der | |
Aufnahme gefährdeter Afghan*innen in Deutschland. De facto tut sie | |
nichts. | |
Afghanistan-Protestcamp in Berlin: Kampf gegen die Gleichgültigkeit | |
Anlässlich des Jahrestags der Machtübernahme der Taliban findet am | |
Alexanderplatz ein Protestcamp statt – auch gegen die deutsche | |
Abschiebepolitik. | |
Massenabschiebungen in Pakistan: Regierungsamtliche Xenophobie | |
Pakistan will 1,4 Millionen Afghanen abschieben. Es braucht Hilfe aus dem | |
Ausland – Solidarität kommt einzig von der Zivilbevölkerung in Afghanistan. | |
Konsuln der Taliban: Die Abschiebung heiligt die Mittel | |
Zum ersten Mal seit ihrer Machtübernahme schicken die Taliban Vertreter | |
nach Deutschland. Die zwei Konsuln sollen die Abschiebungen erleichtern. | |
Abschiebeflug nach Afghanistan: Symbolpolitik mit gefährlichen Konsequenzen | |
Sicherer wird Deutschland durch die Abschiebung von 80 Straftätern nicht. | |
Man stärkt aber die islamistischen Taliban. Ein Risiko für die ganze | |
Region. |