Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Touristische Hotspots in Berlin: Es gibt hier nichts zu sehen
> Berlin verzeichnet einen Rückgang der Touristen-Zahlen. Beim Blick auf
> seine Sehenswürdigkeiten ist das nur nachvollziehbar.
Bild: Checkpoint Charlie, Fake-Ort des Grauens
East Side Gallery
„Kaum ein Berlin-Besucher verlässt die Stadt ohne ein Selfie vor der East
Side Gallery“, heißt es auf dem „Hauptstadtportal“ berlin.de. Als wäre …
griesgrämig-enttäuschtes Gesicht vor einem Mauerstück, auf dem noch der Tag
„Justin was here 2003“ zu erkennen ist, schon ein Wert an sich. Aber für
die Guido-Knopp-Fans unter den Tourist:innen gehört das Flanieren
entlang der 1,3 Kilometer Mauer-Reste, idyllisch gelegen an der
stadtautobahnähnlichen Mühlenstraße, trotzdem zum Pflichtprogramm. Gerade
zum Jahrestag des Mauerbaus.
Bestaunt werden dann mittelmäßige Graffiti mit ausgelutschten Motiven, wie
dem „Bruderkuss“, der noch nicht einmal als Symbol eines sexuell liberalen
Berlins herhalten kann. Würde ein x-beliebiges Graffiti der East Side
Gallery am Stromkasten einer westdeutschen Kleinstadt auftauchen, würde
noch jeder Hans-Jürgen aus der Doppelhaushälfte gegenüber eigenständig zur
weißen Farbrolle greifen. Aber in Berlin so: „Oh!“
Highlights der Mauer sind die Stellen ohne sie, die Mauerdurchbrüche,
Opfergaben der Stadt für das Kapital. Da steht dann plötzlich statt der
„längsten Freiluftgalerie der Welt“ ein [1][Glasturm mit
Eigentumswohnungen]. Noch würdeloser wird es an jener 50-Meter-Öffnung, die
von der Spree einen freien Werbeblock auf die O2/Mercedes/Uber-Arena und
das umliegende Büro-Kommerz-Trostlos-Viertel ermöglichen soll. Alles, was
es jetzt noch braucht, ist ein Uber, um hier wegzukommen.
Bewertung: 1/5 Sternen
Potsdamer Platz
Der [2][Potsdamer Platz] in Mitte ist das beste Beispiel dafür, wie Berlin
Tourist:innen krampfhaft vorzuspielen versucht, eine Metropole von
internationalem Rang zu sein. Für Freund:innen moderner Architektur mögen
die von Star-Architekten entworfenen Bürotürme vielleicht ein Highlight
sein, für alle anderen bietet der Ende der 90er auf dem Reißbrett
entworfene Platz nichts.
Selbst nach über 20 Jahren hat es der Platz nicht geschafft, einen eigenen
Charakter zu entwickeln. Austauschbare Systemgastronomie reiht sich an
leerstehende Shoppingpassagen und Multiplex-Kinos. Daran ändert auch der
trostlose Versuch nichts, dem Ort etwas historische Tiefe zu verleihen,
indem man noch eine Replik von Deutschlands erster Ampel und ein Stück
Berliner Mauer aufgestellt hat.
Geradezu peinlich ist der „Boulevard der Stars“, eine Art deutscher Walk of
Fame. Die Sterne der deutschen Schauspieler:innen sind verwittert,
teils geklaut, teils unlesbar. Egal, heißt es vom Bezirksamt Mitte, das
sich ohnehin nicht zuständig fühlt. Auch das Premierenkino ist längst weg,
genauso wie das Programmkino Arsenal und das Deutsche Filmmuseum. Die
weltweit bekannte Show der Blueman-Group, die seit 2004 immerhin
zuverlässig Besucher:innen an den Platz gelockt hat, wird Ende August
eingestellt. Der Potsdamer Platz will Times Square sein, bietet aber im
Grunde nicht mehr als die Fußgängerzone in der Innenstadt von Hannover.
Bewertung: 2/5 Sternen
Stadtschloss
Wenn Sie sehen wollen, wie sich klerikale Rechte im dritten Jahrtausend
nach unserer Zeitrechnung die Stadt zurückerobern, lohnt ein Besuch im
Schloss, ganz modern Humboldt Forum genannt. Denn es ist nicht irgendein
Schloss, das da schon seit jeher als Mahnmal für diktatorische Verhältnisse
vor sich hin thront und das man aus Denkmalschutzgründen einfach nicht
loswird. Es ist ein Schloss, das es bis vor Kurzem noch gar nicht gab. Wie
das in Braunschweig, nur ohne Shopping-Center.
Gebaut wurde es, um den Segnungen des deutschen Kolonialismus, den Schätzen
aus Raubzügen und Plünderungen einen Raum im Zentrum der Stadt zu geben.
Eine Maßnahme im Sinne des nation building sozusagen. Und da darf der
religiöse Bezug nicht fehlen: Unter dem [3][goldenen Kuppelkreuz], das den
Machtanspruch des Christentums im gottlosen Berlin zementieren soll, steht
eine Inschrift mit Unterwerfungsaufforderung: „Daß im Namen Jesu sich
beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der
Erde sind.“ Den neurechten Spender:innen gefällt’s.
Einst stand hier der Palast der Republik, der tatsächlich einen Besuch wert
gewesen war. Doch der DDR-Prachtbau, der zuletzt als spektakulärer
Kulturort diente und davor stand, Berlins Centre Pompidou zu werden, wurde
von kleingeistiger Provinzpolitik und rechtem Geldadel dem Erdboden gleich
gemacht. Die nächste Schlosssprengung ist übrigens 2050. Dann können Sie
wieder kommen.
Bewertung: 1/5 Sternen
Checkpoint Charly
„You are leaving the American sector“, steht auf einem Schild. Links davon
spießt eine Stange das Porträt eines sowjetischen Soldaten auf, wie ein
gigantisches Eis am Stiel. Der Soldat schaut streng herunter, als möchte er
die Tourist:innen warnen: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu
sehen!“
Hier, am [4][Checkpoint Charlie], trennten zwischen 1961 und 1990 nur
wenige Meter Ost von West, Kapitalismus und Cordhütchen-Sozialismus, zwei
Mächte der Superlative – samt Mauer und Schießbefehl. Was davon übrig ist:
eine US-Kontrollbaracke mit Sandsäcken, hinter denen Tourist:innen für
ein schnelles Foto posieren. Mehrere Minuten stehen sie dafür mitten auf
der Straße an.
Dabei ist am Checkpoint nichts mehr original. Zwischen 1990 und 1991 wurden
in Berlin 155 Kilometer Mauer plattgemacht, dazu 302 Beobachtungstürme, 20
Bunkeranlagen, die Grenzübergänge. Allen voran der Checkpoint Charlie,
feierlich von der US Army am 22. Juni 1990 abtransportiert.
Ein Investor wollte die Gegend zum „American Business Center“ umbauen.
Hunderte von Firmen sollten in fünf Gebäuden Platz finden, 3.500
Arbeitsplätze entstehen. Das Projekt aber blieb lange in Verhandlungen
stecken. Nur drei Grundstücke wurden bebaut. 2003 rutschte die
Nachfolgefirma in die Insolvenz.
Im Jahr 2000 bauten Berliner:innen das Kontrollhäuschen wieder als
Gedenkort nach, so wie es in den 60ern ausgesehen haben soll. Auftraggeber
war das nahegelegene Mauermuseum. Berlin habe es versäumt, den Ort
würdevoll zu behandeln, sagen die Betreiber später.
Wo die Business-Pläne auf der Ostseite platzten, stehen heute ein
360-Grad-Panorama, in dem Besucher den Mauerbau erleben sollen, und ein
Minimuseum zum Kalten Krieg. Äußerlich vom Museum kaum zu unterscheiden:
die Fressmeile, gleich nebenan.
Bewertung: 1/5 Sternen
Kiezleben
Die erfahrene Berlin-Besucherin weiß: Der eigentliche Reiz der Hauptstadt
liegt nicht in seiner Architektur oder in dem lächerlichen Bemühen,
Großstadt sein zu wollen, sondern in ihrem lebendigen Kiezleben. Ein Abend
in einer coolen, alternativen Bar, ein Nachmittag im Park, ein wenig
Straßenmusik an der Ecke?
Leider haben das auch Travel-Influencer:innen entdeckt (2025 haben
[5][Tiktok] und Instagram ja den ehrwürdigen „Lonely Planet“ verdrängt),
sodass die nach Authentizität lechzenden Touri-Massen eine Nachbarschaft
nach der anderen in belanglose Sauf- und Fressmeilen verwandeln. Das beste
Beispiel für diese Entwicklung ist die Simon-Dach-Straße in Friedrichshain,
die jedes Wochenende zum Pilgerort für saufwütige Tourist:innen wird.
Der Prozess der Simon-Dachisierung läuft wie folgt: Travel-Influencer:innen
hypen einen Kiez mit sympathischen Kneipen und gutem gastronomischen
Angebot. Die gesteigerte Nachfrage ruft wiederum weitere Bars und
Restaurants auf den Plan, was wiederum die Mieten hochtreibt und
sämtlichen, nicht auf Gastronomie oder Tourismus ausgelegten Einzelhandel
verdrängt. Die Neuankömmlinge sind meist Ableger von Läden, die woanders in
der Stadt schon gut laufen: Korean Barbeque, Vegan-Thai und indische
Cocktail-Happy-Hour. Das Endergebnis, das sich so ähnlich auch in Neukölln
und im Prenzlauer Berg abzeichnet, lohnt den Besuch nicht.
Bewertung: 2/5 Sternen
Alexanderplatz
Ein großzügiger Platz im Herzen der Stadt ist stets ein erster Anlaufpunkt
für Tourist:innen, um den Vibe eines Ortes zu fühlen, ihn zu riechen und zu
erleben. Was in München der Marienplatz oder in Dresden der Theaterplatz,
ist in Berlin der, ähm, Alex? Diese zügige Betonwüste umgeben aus einem
wahnwitzigen Mix aus semihistorischen, ostigen und spätkapitalistischen
Gebäuden ist alles, nur kein Wohlfühlort, der dazu einlädt, von hier aus
die Stadt zu entdecken. Stattdessen: ewige Baustelle voller gehetzter
Gestalten mit aschfahlen Gesichtern am größten Umsteigebahnhof des Landes.
Hier gibt es kein Café, in dem man Platz nehmen möchte, um die immer noch
ins alte, bald wohl nicht mehr existente Kaufhaus strömenden
DDR-Rentner:innen, die letzten herumlungernden Punks oder jugendlichen
Grufties zu beobachten. Stattdessen ist hier etwa 350 Tage im Jahr
Weihnachtsmarkt mit Buden voller Zuckerwatte und BFC-Dynamo-Merchandise.
Der Platz als Kulisse für Bretterbuden. Willkommen in Berlins Favela. Wie
zum Wahrzeichen des Elends thront ein Polizei-Klohäuschen in der Mitte des
Platzes.
Man könnte meinen, erträglich ist all das nur aus der Höhe des nahen
Fernsehturms, der übrigens nicht Alex heißt, liebe Tourist:innen, sondern
eben Fernsehturm. Doch auch in der Höhe gibt es nichts Faszinierendes. Denn
der einst kultige Beweis für die Überlegenheit des Arbeiter- und
Bauernstaates ist zuletzt zur Fassade eines [6][hochpreisigen
Edelschuppens] verkommen, in der man Currywurst by Tim Raue für etwa 70
Euro essen kann. Verbrämt wird das Ganze mit einer durchgestylten
Werbekampagne, in der auch der tätowierte Kuttenträger in „Berlins High
Society“ aufgenommen wird. It's so Berlin. It's so stupid. Auch hier gilt:
Bitte gehen Sie weiter.
Bewertung: 1/5 Sternen
12 Aug 2025
## LINKS
[1] /Luxusbau-an-der-East-Side-Gallery/!5459407
[2] /Potsdamer-Platz-in-Berlin/!5830258
[3] /Berliner-Schloss-bekommt-Kreuz/!5686728
[4] /Leitlinien-fuer-den-Checkpoint-Charlie/!5911750
[5] /Berlin-tokt/!t6103804
[6] /Neues-im-Berliner-Fernsehturm/!5979598
## AUTOREN
Erik Peter
Jonas Wahmkow
Moritz Tübbecke
## TAGS
Tourismus
Berliner Mauer
Alexanderplatz
Berlintourismus
Humboldt Forum
Potsdamer Platz
Elektronik
Massentourismus
TikTok
Tourismus
ITB Tourismus Börse
## ARTIKEL ZUM THEMA
IFA in Berlin: Die Roboter rufen
Anfang September zieht die Internationale Funkausstellung allerlei
Technik-Begeisterte zur Berliner Messe. Die Branche scheint das zu
brauchen.
Zurückgehende Besucherzahlen in Berlin: Keine Stadt für Tourist:innen
Immer weniger Menschen kommen in die Hauptstadt. Nicht verwunderlich, wenn
krampfhaft versucht wird, sie mit austauschbaren Attraktionen anzulocken.
Schlimmste Orte Berlins: Angeschissen in der Tiktok-Hölle
„Ein Tag in Berlin für meinen Erzfeind“ heißt der neuste Trend auf Tiktok.
Die taz macht mit und spielt ironisch die schlimmsten Orte Berlins durch.
Tourismuswachstum in Berlin: Immer mehr Touris und weiter keinen Plan
In Berlin entstehen aktuell 10.000 neue Hotelbetten. Die Grünen fordern
eine stadtweite Hotelplanung, um tourismusgebeutelte Kieze zu schützen.
Berlin auf der ITB 2024: Maskottchen rührt die Werbetrommel
Es geht wieder steil nach oben mit Besucherzahlen. Auf der ITB wird um mehr
Touris geworben. Grüner kritisiert die unkritische Freude am Overtourism.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.