| # taz.de -- Tagebuch aus Estland: Wann kann es wieder Kaviar sein? | |
| > In Estland steigen Lebensmittelpreise und auch die Mehrwertsteuer. Die | |
| > Regierung sagt, dass die Militärausgaben Vorrang haben. | |
| Bild: Schnell mal in den Supermarkt: Ladenzeile in Narva | |
| Am ersten Tag nach meinem Umzug von [1][Russland] nach [2][Estland] vor | |
| drei Jahren ging ich als Erstes zum Supermarkt. Ich stand noch unter dem | |
| Eindruck des ersten Monats der russischen Invasion in der Ukraine 2022, | |
| hatte nur 1.000 Euro Ersparnisse, wollte aber trotzdem die Überquerung der | |
| Grenze feiern. In der estnischen Grenzstadt Narva kaufte ich ein Baguette, | |
| eine Packung Butter und eine Dose roten Kaviar. | |
| Butterbrot mit Kaviar! Das war eine Mischung aus Stereotypen über den | |
| „russischen Chic“ und echter Nostalgie. In den Mythen über Russland steckt | |
| immer auch ein Körnchen Wahrheit: Zu Zeiten der Zaren konnte der | |
| Stadtbewohner Kaviar in jedem Buffet kaufen, zum Beispiel am Bahnhof. | |
| Kaviar war für die Mittelschicht durchaus bezahlbar, man aß ihn mit Löffeln | |
| als Vorspeise oder gab sie in Pfannkuchen. In der Sowjetzeit wurde Kaviar | |
| jedoch zu einem Festtagsgericht: Man strich ihn dünn auf eine Scheibe Brot, | |
| um den Eindruck von Überfluss zu erwecken. | |
| Wahrscheinlich kennt die Mehrheit der Bevölkerungen der ehemaligen | |
| [3][sowjetischen Länder] diesen Geschmack. Salzig, cremig, ein Fest mit | |
| Tränen der Armut in den Augen. Er war also genau das Richtige für den | |
| ersten Tag in der Emigration, wenn sich Freude, Tränen und Angst zu | |
| gleichen Teilen vermischen. | |
| Weißbrot, ein Stück Butter, eine Dose Kaviar, ein paar Flaschen | |
| Sprudelwasser und Cola kosteten mich damals in Narva insgesamt 15 Euro. | |
| Drei Jahre und fünf Monate später gehe ich in der estnischen Hauptstadt | |
| Tallinn in einen Supermarkt und kaufe ungefähr die gleichen Lebensmittel. | |
| Das ergibt etwas weniger als 20 Euro. Der Kaviar macht mehr als die Hälfte | |
| des Einkaufskorbs aus – 11 Euro für 100 Gramm. Aber auf jeden Fall scheint | |
| es, als müsse man den Kaviar nach sowjetischer Art dünn auftragen. | |
| ## Niedriger Mindestlohn, nicht viel höherer Durchschnittslohn | |
| Mein absurdes Beispiel mit dem Kaviar spiegelt einen allgemeinen Trend | |
| wider. Selbst bei einem ganz bescheidenen Einkauf, bei dem ich nur vier | |
| oder fünf Dinge besorgen muss, die zu Hause fehlen, gebe ich selten weniger | |
| als 20 Euro aus. Der Preis für einen wöchentlichen Einkauf für zwei | |
| Personen liegt bei über 150 Euro. Dabei liegt der durchschnittliche | |
| Bruttolohn in Estland bei 1.980 Euro. Viele Menschen in Estland leben sogar | |
| vom Mindestlohn, der hier 886 Euro beträgt. Da bleibt sowieso kein Geld für | |
| Kaviar. | |
| Die Verteuerung von Lebensmitteln ist eines der wichtigsten Probleme für | |
| die Einwohner Estlands, mich eingeschlossen. Nach Angaben des lokalen | |
| Statistikamtes und Eurostat sind die Lebensmittelpreise in Estland im Juni | |
| 2025 um etwa 39 Prozent höher als im März 2022. Am 1. Juli 2025 wurde | |
| meinem Geldbeutel ein weiterer Schlag versetzt. An diesem Tag stieg die | |
| Mehrwertsteuer in Estland von 22 Prozent auf 24 Prozent, ohne die in | |
| anderen europäischen Ländern geltende Ausnahme für Lebensmittel. Dies ist | |
| bereits die zweite Erhöhung innerhalb von zwei Jahren – am 1. Januar 2024 | |
| stieg die Steuer bereits von 20 auf 22 Prozent. In beiden Fällen begründete | |
| die von der rechtsliberalen Reformpartei geführte Regierung die Erhöhung | |
| der Abgaben mit Verteidigungsausgaben. | |
| Ich habe keine Zweifel daran, dass die Verteidigungsausgaben erhöht werden | |
| müssen. Und ich denke, dass dies die Meinung der Mehrheit der Menschen in | |
| Estland ist. Wir fürchten einen Angriff Russlands. Aber auch die steigenden | |
| Preise für Lebensmittel, Energie und Medizin untergraben das Vertrauen in | |
| die Zukunft. Es ist eine Sackgasse, aus der kein Ausweg erkennbar ist. | |
| [4][Alexey Schischkin] ist Journalist aus St. Petersburg. Seit der | |
| russischen Invasion in die Ukraine lebt und arbeitet er im Exil in Estland. | |
| Er war Teilnehmer eines [5][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung]. | |
| Aus dem Russischen von [6][Tigran Petrosyan]. | |
| Durch Spenden an die [7][taz Panter Stiftung] werden unabhängige und | |
| kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts | |
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| 22 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alexey Schischkin | |
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