# taz.de -- Tagebuch aus Kasachstan: Wie sollte man dem Staat vertrauen? | |
> Als Kasachstan beschloss, häusliche Gewalt sei keine Straftat mehr, ging | |
> die Zahl der Delikte nach oben. Menschenrechtsinitiativen müssen weichen. | |
Bild: Demonstration für Frauenrechte in der kasachischen Stadt Almaty, Novembe… | |
In Kasachstan werden jedes Jahr Tausende Frauen Opfer häuslicher Gewalt. | |
Der Staat verspricht Schutz, aber diejenigen, die den Opfern wirklich | |
helfen, geraten selbst in Gefahr. | |
Allein laut offiziellen Statistiken wurden 2024 in [1][Kasachstan] 85.000 | |
Schutzanordnungen erlassen. Etwa 87.700 Mal registrierte die Polizei | |
Delikte wegen [2][Gewalt] in Familien. 70 Menschen wurden von ihren | |
Angehörigen getötet. | |
All dies sind nicht nur Zahlen. In der absoluten Mehrzahl handelt es sich | |
um konkrete Schicksale von Frauen, die jahrelang in Angst gelebt haben. | |
Meist hat es lange Zeit gedauert, bevor sie sich entschlossen haben, zur | |
Polizei zu gehen. Aber dort mussten sie erfahren: Selbst dieser Schritt | |
garantiert keinen Schutz. Die Anzeige kann ohne Reaktion bleiben, und der | |
Aggressor bleibt zu Hause. | |
Es gibt nur wenige Krisenzentren im Land, und die meisten Opfer schaffen es | |
einfach nicht dorthin. Viele schweigen ganz: aus Angst, die Familie „zu | |
entehren“, aus Furcht vor Rache oder aus Misstrauen gegenüber staatlichen | |
Institutionen. Daher gibt es in Wirklichkeit viel mehr Fälle von Gewalt | |
gegen Frauen. | |
Bis 2017 galt [3][häusliche Gewalt] in Kasachstan als Straftat. Dann wurde | |
die strafrechtliche Verantwortung abgeschafft, und die zu erwartende | |
Verwaltungsstrafe für Körperverletzung fiel plötzlich geringer aus als | |
beispieltsweise die Strafe, die für Tierquälerei verhängt wird. Die | |
Gesetzesänderung signalisierte, dass häusliche Gewalt als Privatsache | |
gelten soll. | |
## Erst als ein Ex-Minister seine Frau tötete | |
Erst nach dem Mord an Saltanat Nukenova im Jahr 2023, der von ihrem | |
Ehemann, einem ehemaligen Minister, begangen wurde, mussten die Behörden | |
reagieren. Eine Petition für die Wiedereinführung der strafrechtlichen | |
Verantwortlichkeit wurde innerhalb weniger Tage 150.000-mal unterschrieben. | |
Ein Gesetz, das die Strafen für häusliche Gewalt verschärft, wurde | |
verabschiedet. Aber es erwies sich als schwach: Viele | |
Menschenrechtsaktivist:innen bezeichnen es als halbherzig und | |
begrenzt. Es tauge nicht dazu, die Situation wirklich zu ändern. | |
Wo der Staat versagt, springen Aktivist:innen ein. Eine von ihnen ist | |
[4][Dina Tansari], Gründerin der Stiftung „[5][Ne molchi KZ]“ (Schweige | |
nicht, Kasachstan), die jahrelang verschwiegene Fällen aufgedeckt hat und | |
Opfern Anwälte, Zuflucht und medizinische Hilfe verschaffen konnte. Ihre | |
Stiftung hat sich für die Bestrafung der Täter und Disziplinarmaßnahmen | |
gegen untätige Polizist:innen eingesetzt. | |
Doch 2023 wurden sechs Strafverfahren gegen Dina Tansari eingeleitet – von | |
„Betrug“ bis zur „Verbreitung falscher Informationen“. Sie verließ das | |
Land. Die Regierung wiederum bemühte sich um die Auslieferung der | |
Menschenrechtsaktivistin. Zwei Jahre später erhielt Tansari [6][politisches | |
Asyl in Montenegro]. | |
Der Fall von Dina Tansari zeigt: In Kasachstan kann man strafrechtlich | |
verfolgt werden, auch wenn man sich nicht politisch gegen die Regierung | |
engagiert, sondern lediglich versucht, Frauen zu schützen. Nicht nur, dass | |
der Staat die Opfer nur unzureichend schützt, sondern er kooperiert auch | |
nur widerwillig mit denen, die bereit sind, diese Arbeit für ihn zu | |
leisten. | |
Häusliche Gewalt beschränkt sich nicht auf die eigenen vier Wände. Sie | |
setzt sich fort in Gerichten, in Büros, in Gesetzen, die den Anschein von | |
Schutz erwecken, aber nichts am System ändern. | |
Daher bleibt die Lage der Frauen in Kasachstan weiterhin prekär. Die | |
Verfolgung der Menschenrechtsaktivistin Dina Tansari und ihre Flucht aus | |
dem Land auf der Suche nach Sicherheit erinnern stark an die Ereignisse in | |
Russland nach dem Einmarsch in die Ukraine 2022. In Russland gibt es | |
Dutzende, vielleicht sogar Hunderte solcher Fälle. Angesichts der Tatsache, | |
dass Kasachstan gerne repressive Praktiken aus dem benachbarten | |
„befreundeten“ Land kopiert, muss man sich besorgt fragen, ob die | |
Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten in Kasachstan nicht noch massiver | |
werden könnte. | |
Ich befürchte, sie kann. | |
[7][Nikita Danilin], Jahrgang 1996, ist ein Journalist aus Almaty | |
(Kasachstan). Er war Teilnehmer eines [8][Osteuropa-Workshops der taz | |
Panter Stiftung]. | |
Aus dem Russischen von [9][Tigran Petrosyan]. | |
Durch [10][Spenden an die taz Panter Stiftung] werden unabhängige und | |
kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts | |
„Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt. | |
5 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Kasachstan/!t5017657 | |
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[4] https://www.instagram.com/dinatansari/?hl=de | |
[5] http://www.nemolchi.kz/ | |
[6] https://en.fergana.news/news/139179/ | |
[7] /Nikita-Danilin/!a144060/ | |
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[9] /Tigran-Petrosyan/!a22524/ | |
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## AUTOREN | |
Nikita Danilin | |
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