# taz.de -- Krankheit PCOS: Isabel will Blut sehen | |
> Unter dem Polyzystischen Ovarialsyndrom leidet in etwa jede zehnte Frau – | |
> doch das Gesundheitssystem ignoriert dies. Die Betroffene Isabel Flieter | |
> berichtet. | |
Bild: Zwei Tage pro Woche blockt Isabel Flieter für Arzttermine | |
Der Terminkalender von Isabel Flieter ist mal wieder voll: Sie geht zu | |
einem Psychiater, einem Hausarzt, einer Hautärztin, einer Gynäkologin und | |
einer Endokrinologin, also einer Fachärztin für Hormon- und | |
Stoffwechselerkrankungen. | |
Seit Kurzem besucht Flieter eine psychosomatische Klinik in Düsseldorf, und | |
eigentlich müsste sie noch zum Nephrologen, einem Nierenspezialisten, sowie | |
regelmäßig zum Herzultraschall. Falls sie eine Diabetesdiagnose bekommt, | |
und das ist wahrscheinlich, käme ein Diabetologe dazu. Zwei volle Tage pro | |
Woche blockt sie für diese Termine, den Rest der Woche füllt sie mit | |
Vorlesungen. | |
All diese Ärzt*innen sind Teil eines Systems, das ihre Krankheit im Blick | |
behalten soll. Isabel Flieter hat das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS), | |
eine der häufigsten hormonellen Erkrankungen bei Frauen im gebärfähigen | |
Alter. [1][Bis zu zwölf Prozent sind laut Deutschem Ärzteblatt weltweit | |
betroffen]. | |
Die meisten erfahren zwischen ihrem 20. und 30. Lebensjahr von ihrer | |
Krankheit, viele andere bleiben ihr Leben lang im Ungewissen. Denn die | |
Symptome des PCO-Syndroms sind von Person zu Person unterschiedlich. Oft | |
werden sie deshalb nicht einem einheitlichen Krankheitsbild zugeordnet. | |
Als Flieter zwölf Jahre alt war, spürte sie zum ersten Mal, dass in ihrem | |
Unterleib etwas nicht stimmte. An ihren Eierstöcken war eine Zyste | |
geplatzt. Ihre damalige Gynäkologin hielt das für normal. Ihre erste | |
Periode bekam Flieter mit 14 Jahren, allerdings war ihr Zyklus schon nach | |
einem halben Jahr sehr unregelmäßig. „Als ich dann in die Oberstufe | |
gekommen bin, wurde alles immer schwieriger“, erinnert sich die 25-Jährige. | |
Innerhalb eines Jahres hat Flieter 20 Kilo zugenommen, trotz Sport und | |
vieler Diäten. | |
Auch ihre Akne wurde schlimmer, und das in einer Zeit, in der sich die Haut | |
ihrer Freundinnen längst von den hormonellen Umstellungen der Pubertät | |
erholt hatte. Viele ihrer psychischen Probleme nahmen hier ihren Anfang. | |
„Ich wurde stark gemobbt, mein Körper hat sich verändert, ich wusste nicht, | |
was mit mir los war.“ | |
Mehrmals hat Flieter [2][ihre Gynäkologin] damals nach Erklärungen für ihre | |
Beschwerden gefragt. Doch die einzige Antwort, die sie bekam, war klein, | |
rund und eingepackt in eine Blisterpackung: die Antibabypille. | |
Dass Flieter sich zu diesem Zeitpunkt bereits als lesbisch geoutet hatte, | |
weshalb Mittel zur Schwangerschaftsverhütung für sie überflüssig waren, | |
spielte keine Rolle. Denn die Pille wird aufgrund ihrer synthetischen | |
Hormone häufig auch bei Hautproblemen und Zyklusstörungen verschrieben. | |
Symptome, die für PCOS typisch sind. | |
Flieter musste früh lernen, sich selbst zu verteidigen, das merkt man ihr | |
an. Den Schmerz, den sie erlebt hat, tarnt sie durch trockenen Humor, der | |
manchmal ins Bittere kippt. „That’s so gay, I love it!“, steht auf einer | |
Tafel im Flur ihrer WG im Düsseldorfer Osten. Flieter bezeichnet sich als | |
queer. Zum Interview sitzt sie ganz in Schwarz in ihrem Zimmer, hinter ihr | |
hängen Bilder von Taylor Swift, Katzen, Pride-Flaggen und handgeschriebene | |
Buchzitate. Sie trägt schwarzen Nagellack, in ihren Haaren blitzen bunte | |
Strähnen. | |
Aufgewachsen ist Isabel Flieter in Mettmann, einer Kleinstadt zwischen | |
Wuppertal und Düsseldorf. 2018 hat sie dort Abitur gemacht. Nach einem | |
Freiwilligen Sozialen Jahr auf Usedom ist sie zum Studium nach Düsseldorf | |
gezogen. An der Heinrich-Heine-Universität studiert sie bis heute | |
Geschichte und Kunstgeschichte, „nicht besonders erfolgreich“, wie sie | |
selbst sagt. Ihre Mutter, erzählt sie, war früher bei Hausbesetzungen in | |
Bochum aktiv, ihr Vater ist Alt-Punk. Zu beiden habe sie bis heute ein | |
enges Verhältnis, regelmäßig begleiten ihre Eltern sie zu Arztterminen. | |
Dass Flieter von ihrer Erkrankung weiß, hat sie sich selbst zu verdanken. | |
Anfang 2021 stieß sie bei einer ihrer Recherchen auf einen Podcast, der | |
über das PCO-Syndrom berichtete. Eigentlich habe sie sofort gewusst, dass | |
das die Erklärung ist, sagt sie. Also verlangte sie von ihrer damaligen | |
Gynäkologin, ihre Hormonwerte mittels eines Bluttests zu untersuchen. Knapp | |
zehn Jahre nach den ersten Beschwerden im Unterleib erhielt sie schließlich | |
ihre Diagnose. | |
## Rotterdam-Kriterien | |
PCOS lässt sich anhand der Rotterdam-Kriterien diagnostizieren. Der Name | |
geht auf ein Expertentreffen in der niederländischen Stadt zurück. Drei | |
Symptome sind sehr typisch für PCOS. Erstens: Der Zyklus ist unregelmäßig | |
oder nicht vorhanden. Zweitens: der Körper produziert überdurchschnittlich | |
viele männliche Hormone, Androgene. | |
Betroffene leiden unter Akne, Haarausfall am Kopf oder starkem Haarwuchs an | |
der Brust, dem Bauch oder dem Rücken. Drittens: An den Eierstöcken sammeln | |
sich viele kleine, unreife Eibläschen an, im Ultraschall sehen sie aus wie | |
Zysten, daher der Name „polyzystisch“. Wenn auf eine Person zwei dieser | |
drei Merkmale zutreffen und andere Krankheiten mit ähnlichen Symptomen | |
ausgeschlossen werden können, geht man davon aus, dass sie PCOS hat. | |
Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Begleiterscheinungen, die oft in | |
Zusammenhang mit dem Syndrom auftreten: Angst- und Essstörungen, | |
Depressionen, soziale Phobien, Insulinresistenz, Typ-2-Diabetes oder | |
Fettleibigkeit, auch Adipositas genannt. PCOS wirkt im Körper ähnlich wie | |
ein verschobenes Zahnrad in einem fein abgestimmten Uhrwerk. Gerät der | |
Hormonhaushalt aus dem Takt, kann das nach und nach auch andere Bereiche | |
aus dem Gleichgewicht bringen. | |
Mit welchen körperlichen und psychischen Beschwerden PCOS einhergehen kann, | |
sollte eigentlich bekannt sein. Bereits sei[3][t 2018 gibt es eine | |
internationale Leitlinie zur Diagnose und Behandlung der Erkrankung,] die | |
2023 umfassend überarbeitet wurde. In der Theorie ist sie kostenlos und | |
frei verfügbar. In der deutschen Praxis allerdings bleibt sie ein | |
weitgehend unbenutztes Archiv. | |
Die Gründe dafür sind vielfältig und lassen sich nicht abschließend klären. | |
Laut Expert*innen trägt die Sprachbarriere dazu bei, dass viele | |
Fachkräfte ausschließlich mit deutschsprachigen Materialien arbeiten – und | |
das in einer Zeit, in der Übersetzungsprogramme in anderen Bereichen | |
bereits gut funktionieren. | |
Auch strukturelle Faktoren spielen eine Rolle: PCOS betrifft ausschließlich | |
Menschen mit Eierstöcken, also überwiegend Frauen, was in der Medizin | |
womöglich zu einer geringeren Priorisierung führt. Hinzu kommt die | |
fachliche Komplexität des Syndroms, das mehrere Disziplinen wie | |
Gynäkologie, Endokrinologie und Psychosomatik umfasst. In der ärztlichen | |
Ausbildung wird PCOS bislang kaum behandelt. | |
Wie systematisch Frauen vom Gesundheitswesen benachteiligt werden, beweist | |
der sogenannte Gender Health Gap. Herzinfarkte zum Beispiel verlaufen bei | |
Frauen anders als bei Männern, werden jedoch bis heute vorrangig an | |
männlichen Körpern erforscht. Auch werden Schmerzen von Frauen in | |
ärztlichen Gesprächen häufiger relativiert oder psychologisiert, wie unter | |
anderem [4][die Studie „The girl who cried pain“] aufzeigt. Nur rund 2,5 | |
Prozent des weltweiten Gesundheitsbudgets fließen in die Forschung zu | |
frauenspezifischen Krankheiten. | |
Dabei bedeutet die Erkrankung an PCOS ein erhebliches medizinisches Risiko | |
für Betroffene. Bleibt der Eisprung über längere Zeit aus – wie es bei PCOS | |
häufig der Fall ist, da sich unreife Eibläschen im Eierstock ansammeln, | |
ohne zu springen –, kommt es oft auch nicht zur Regelblutung. | |
Die Gebärmutterschleimhaut wird in solchen Fällen immer weiter aufgebaut, | |
aber nicht regelmäßig abgestoßen. Auf Dauer kann das zu einer krankhaften | |
Verdickung der Schleimhaut führen, im schlimmsten Fall sogar zu | |
Gebärmutterschleimhautkrebs. Das Ziel muss daher sein, entweder einen | |
regelmäßigen Eisprung zu erreichen, oder eine sogenannte Abbruchblutung | |
durch Medikamente auszulösen. | |
Isabel Flieter blutet durchschnittlich zweimal im Jahr und das höchstens | |
zwei Tage lang, trotz Medikamenten, die versprechen, eine Abbruchblutung | |
einzulösen. „Wenn meine Brüste anfangen zu spannen, mein unterer Rücken | |
schmerzt und da unten mal wieder nichts passiert, sitze ich wie ein | |
Häufchen Elend auf der Toilette, weil ich kein Plan habe, was ich noch tun | |
soll.“ | |
Spricht Flieter über ihre Krankheit, wird sie oft sarkastisch. „Natürlich | |
war ich nie dünn, aber so ein Platzbuttergesicht wie dieses hier?“, sie | |
deutet mit beiden Händen auf ihre geröteten Wangen und grinst. „Das ist ja | |
wirklich nicht normal.“ Eine große transparente Box steht auf ihrem | |
Schreibtisch, sie ist bis obenhin mit Medikamenten vollgestopft. In | |
Gedanken ist Flieter schon bei ihrer Endokrinologin, bei der sie heute | |
ihren jährlichen Kontrolltermin hat. | |
## In der Praxis | |
Welche Informationen für ihre Endokrinologin relevant sind, weiß Flieter | |
genau. In ihrem Notizbuch hat sie deshalb sorgfältig dokumentiert, welche | |
Medikamente sie im vergangenen Jahr wann eingenommen hat und welche | |
Wirkungen und Nebenwirkungen diese hatten. | |
Was dort auch steht: Seit ihrem vorherigen Kontrolltermin hatte sie kein | |
einziges Mal ihre Tage. Nur Mitte Februar entdeckte Flieter als Reaktion | |
auf das Medikament Duphaston – ein künstliches Gelbkörperhormon, das eine | |
Abbruchblutung auslösen soll – einige Tage lang rote Flecken in ihrer | |
Unterhose. „Nicht wirklich erwähnenswert“, sagt sie. | |
„Das ist natürlich nicht so schön zu hören“, antwortet Susanne Hahn ruhi… | |
ohne von ihrem Blatt Papier aufzuschauen. Flieter sitzt ihrer Ärztin im | |
Besprechungszimmer gegenüber. Die Wände sind weiß gestrichen, hinter | |
Susanne Hahn steht ein Regal mit endokrinologischer Fachliteratur. | |
Kleine Schweißperlen glänzen auf Flieters Stirn, mehrmals reibt sie ihre | |
feuchten Hände an ihrer Hose ab und spielt an ihren Ringen herum, während | |
sie aufzählt, welche Medikamente sie im vergangenen Jahr eingenommen hat: | |
Spironolacton, ein Nierenmedikament. Clavella und Berberin, | |
Nahrungsergänzungsmittel, die unter anderem zur Minderung männlicher | |
Hormone beitragen sollen. Metformin, das den Blutzuckerspiegel senkt und | |
die Insulinresistenz bekämpft, unter der Isabel und viele andere | |
PCOS-Betroffene leiden – ursprünglich wurde das Medikament für die | |
Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelt. | |
Die deutschlandweit erste klinische Studie zur Wirksamkeit von Metformin | |
bei PCOS führte Susanne Hahn bereits 2003 durch. In einer Untersuchung | |
stellte sie fest, dass viele Frauen mit PCOS einen gestörten | |
Zuckerstoffwechsel haben. Von 450 Proband*innen im Alter von | |
durchschnittlich 27 Jahren waren 71 Prozent insulinresistent. Mehr als 60 | |
Prozent der PCOS-Betroffenen gelten als übergewichtig. | |
„Wenn eine Frau mit PCOS zunimmt, verstärkt sich die gesamte Symptomatik“, | |
erklärt Hahn, die heute eine Praxis für Endokrinologie in der Düsseldorfer | |
Innenstadt leitet. Denn mit steigendem Körpergewicht sinkt die | |
Konzentration des wichtigen Bindungsproteins SHGB, das Testosteron im Blut | |
abfängt. | |
Ohne das SHGB bleibt mehr freies Testosteron im Körper, was zu | |
Körperbehaarung, Akne und Zyklusstörungen führen kann. Gleichzeitig sei es | |
für Betroffene besonders schwer, Gewicht zu verlieren. Sie benötigen | |
deutlich mehr Bewegung als gesunde Personen, die Empfehlung liegt bei mehr | |
als vier Stunden pro Woche. | |
Flieter hat seit ihrem vorherigen Kontrolltermin zehn Kilo abgenommen, | |
statt 120 wiegt sie jetzt 110 Kilo. Dennoch zieht sie ein ernüchterndes | |
Fazit: Die Medikamente konnten ihre Beschwerden bislang kaum lindern. Ihre | |
Wassereinlagerungen seien unerträglich, morgens könne sie manchmal ihre | |
Hände und Füße nicht mehr bewegen. Auch ihre psychischen Probleme belasten | |
ihren Alltag. | |
„Wir müssen uns jetzt fragen, was wir noch an Optionen haben“, sagt Susanne | |
Hahn. „An Medikamenten, die für PCOS empfohlen werden, haben wir schon | |
alles ausgeschöpft.“ Flieter könnte sich eine Hormonspirale einsetzen | |
lassen oder sich an einer Pille versuchen, die ein Gelbkörperhormon statt | |
Östrogen enthält. Perspektivisch käme auch eine Ausschabung der | |
Gebärmutterschleimhaut infrage. | |
Wird das oberflächliche Gewebe der Gebärmutterschleimhaut chirurgisch | |
entfernt, spricht man in der Medizin von einer Ausschabung. Die Schleimhaut | |
der Gebärmutter, auch Endometrium genannt, baut sich normalerweise im | |
Rahmen des Menstruationszyklus regelmäßig neu auf. | |
Nach dem Eingriff beginnt die Regeneration der Schleimhaut meist innerhalb | |
weniger Tage. Allerdings gilt die Methode als veraltet und birgt das Risiko | |
von Verletzungen und Infektionen – daher wird die Ausschabung nur in | |
seltenen Fällen empfohlen, etwa, wenn die Schleimhaut stark verdickt ist | |
und eine Blutung über lange Zeit ausbleibt. | |
[5][Hormonelle Verhütungsmittel] will Isabel vermeiden, auch, weil sie die | |
Pille in der Vergangenheit psychisch stark belastet habe. Susanne Hahn | |
nickt verständnisvoll, später spricht sie von einer „gewissen | |
Pillenmüdigkeit“ in Flieters Generation. | |
Hormonelle Verhütungsmittel können viele Symptome von PCOS in der Regel gut | |
in den Griff bekommen, erklärt sie. Nach dem Absetzen jedoch kehren die | |
Beschwerden meist zurück, da das hormonelle Ungleichgewicht nicht behoben | |
wird. | |
Dass Isabels Zyklus unter der aktuellen Therapie ausbleibt, ist laut Hahn | |
ungewöhnlich: „Wir sehen das nicht oft, dass die Kombination aus allen | |
Medikamenten, die Sie nehmen, gar nicht funktioniert.“ In den meisten | |
Fällen sorgen Metformin oder Mittel, die Myo-Inositol enthalten (wie | |
Clavella, das Flieter nimmt), schnell für eine Besserung. Myo-Inositol ist | |
eine Substanz, die Insulinresistenz mindern und den Fett- und | |
Glukosestoffwechsel sowie den Hormonhaushalt positiv beeinflussen soll. | |
Ein solches Mittel hat auch Elisa F. geholfen. Sie möchte nicht, dass ihr | |
voller Name in der Zeitung genannt wird. F. absolviert selbst ein | |
Medizinstudium, sie möchte irgendwann als Ärztin arbeiten. „Deshalb will | |
ich vermeiden, dass meine Patienten beim Googeln erfahren, dass ich PCOS | |
habe“, erklärt die 25-Jährige am Telefon. Ihre Diagnose hat F. vor | |
eineinhalb Jahren erhalten. | |
Wie lange sie schon erkrankt ist, wisse sie nicht. Erst als sie die Pille | |
absetzte, traten plötzlich typische Symptome auf: unreine Haut, starker | |
Haarausfall am Kopf, Haarwuchs im Gesicht. Das vergebliche Warten auf die | |
Periode. | |
Weil sie in ihrem Studium schon von PCOS gehört hatte, hegte sie schnell | |
Verdacht, der ebenso schnell bestätigt wurde. Im Ultraschall erkannte ihre | |
Ärztin viele unreife Follikel an ihren Eierstöcken, auch ihr | |
Testosteronspiegel im Blut war deutlich erhöht. „Wenn ich nicht Medizin | |
studieren würde, hätte ich wahrscheinlich das gemacht, was meine Ärztin mir | |
geraten hat: wieder die Pille nehmen. Aber ich habe mich nicht gut mit ihr | |
gefühlt, deshalb habe ich abgelehnt.“ | |
## Die Sache mit dem Stinkefinger | |
Von Monat zu Monat ging es F. schlechter, ihre körperlichen Beschwerden | |
verstärkten ihre psychischen. Ein roter, brennender Ausschlag legte sich | |
über ihr ganzes Gesicht, in dieser Zeit habe sie sich stark isoliert. | |
Besonders unangenehm sei ihr ein Moment auf dem Fahrrad, nachdem ihr ein | |
Auto die Vorfahrt genommen hatte: „Ich bin so dermaßen sauer geworden, dass | |
ich vom Fahrrad gesprungen bin, zu ihm hingegangen bin und ihm den | |
Stinkefinger gezeigt habe. Eigentlich bin ich überhaupt nicht so. Danach | |
habe ich gedacht: Oh Gott, irgendwas läuft gerade ganz schief mit mir.“ | |
F. ist weder übergewichtig noch insulinresistent und gilt damit als eher | |
ungewöhnliche PCOS-Patientin. In Rücksprache mit einer Endokrinologin | |
begann sie schließlich eine Behandlung mit Nahrungsergänzungsmitteln, die | |
den Wirkstoff Myo-Inositol enthalten. | |
Nach einigen Monaten kehrte ihre Periode zurück, inzwischen kommt sie etwa | |
alle fünf Wochen. Auch die auffälligen Follikel an ihren Eierstöcken sind | |
vollständig verschwunden. Während einer Reise durch Südostasien schreibt | |
sie: „Es geht mir wirklich sehr, sehr gut.“ | |
Belastend sei für F. nur noch ein Thema: ihr Kinderwunsch. „Als ich die | |
Diagnose bekommen habe, war das ein richtiger Schlag in die Magengrube. | |
Weil ich weiß, was alles dahintersteckt.“ Besonders bewegend sei ein | |
Praktikum in einer Praxis gewesen, in der viele PCOS-Patientinnen behandelt | |
wurden, die nicht schwanger werden konnten. | |
Wenn die Eizellen, die jeden Monat reifen sollen, in den Eibläschen | |
verkümmern und es nur selten zu einem Eisprung kommt, ist die | |
Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft bei den Betroffenen gering. Per | |
se unfruchtbar sind Personen mit PCOS aber nicht. | |
„Wenn ich schwanger werden sollte, dann nur von einer Göttin“, sagt Isabel | |
Flieter verschmitzt. Geschlechtsverkehr mit Männern hatte sie seit ihrer | |
Jugend nicht mehr. Kinder seien für sie nie ein Thema gewesen. Umso mehr | |
störe sie, dass der medizinische Blick auf PCOS sich häufig auf die | |
gefährdete Fruchtbarkeit verenge. Das gehe an der Lebensrealität vieler | |
Betroffener vorbei, findet sie. | |
Zu dieser Realität gehören auch die sozialen Auswirkungen der Erkrankung. | |
Flieter schwitzt viel und heftig, selbst wenn sie sich gerade nicht bewegt. | |
Schuld ist die Insulinresistenz. Oft erntet sie dafür angeekelte Blicke | |
oder fiese Bemerkungen. Lange hat Flieter Fußball und Volleyball gespielt, | |
inzwischen geht sie lieber schwimmen, weil man ihren Körper im Wasser | |
weniger sieht. | |
Auch im medizinischen Alltag erlebt sie immer wieder diskriminierende | |
Situationen: Ärzt*innen, die sich ungefragt Bemerkungen über ihr äußeres | |
Erscheinungsbild erlauben und ihr empfehlen, bei Heißhungerattacken einfach | |
Gurken statt Chips zu essen. | |
Solche Kommentare seien kein Einzelfall, berichtet auch Endokrinologin | |
Susanne Hahn. Dass viele Betroffene sich aus Scham zurückziehen und nicht | |
offen über ihre Beschwerden sprechen, sei eine nachvollziehbare Folge. | |
## PCOS-Selbsthilfegruppe | |
„Ich hatte noch nie in meinem Leben das Gefühl, meinen Körper wirklich zu | |
mögen“, erzählt Flieter. „Aber durch die Diagnose habe ich auch noch das | |
Gefühl, er ist kaputt, er will nicht das tun, was er soll. Ich arbeite | |
mental viel an dem Gedanken, dass das nicht bedeutet, dass ich kaputt bin.“ | |
Seit Jahren ist Flieter in Therapie, auch wegen selbstverletzendem | |
Verhalten. Sie besucht zudem eine PCOS-Selbsthilfegruppe. | |
Die gibt es überall in Deutschland, so auch seit 2022 in Berlin-Mitte. Sie | |
ist heute Anlaufstelle für rund 40 Frauen im Alter von 20 bis 35 Jahren. | |
Grundsätzlich ist die Gruppe für jeden Menschen offen, betont Gründerin | |
Victoria Jahn, unabhängig von Geschlecht oder Sexualität. Wichtig ist nur | |
eine PCOS-Diagnose. | |
Jahn erfüllt wie Flieter alle Kriterien für PCOS. Monatelang bekam sie ihre | |
Periode nicht, nachdem sie 2020 nach sieben Jahren die Pille absetzte. Bis | |
heute hat sie mit Übergewicht, Essstörungen, Insulinresistenz und einem | |
unregelmäßigen Zyklus zu kämpfen. | |
In einer offenen Runde wird hier über Diagnosen, Medikamente und | |
Ärzt*innen gesprochen: Wer behandelt in welchem Bezirk? Welche neuen | |
Therapieformen gibt es? Welchen Arzt sollte man als übergewichtige Frau | |
besser meiden? Darüber hinaus gehe es vor allem um seelischen Beistand. | |
„Die Erfahrung, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein, ist für viele | |
Betroffene das Wichtigste“, sagt Jahn. „Das war es für mich damals auch.“ | |
Weil die Auswirkungen ihrer Krankheit gesellschaftlich stark stigmatisiert | |
werden, geben sich viele PCOS-Betroffene selbst die Schuld an ihrer | |
Erkrankung. Habe ich dicke Oberschenkel, weil ich zu wenig Sport gemacht | |
habe? War ich als Kind zu gestresst, habe ich zu viel gegessen oder wurde | |
mir das alles in die Wiege gelegt? Dass viele dieser Fragen offenbleiben, | |
liegt auch daran, dass die Ursachen von PCOS bis heute nicht eindeutig | |
geklärt sind. | |
Zwar ist inzwischen bekannt, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen | |
müssen, denn Mütter und Zwillinge von Betroffenen sind häufig auch | |
erkrankt. Allerdings konnte der Grund, also ein bestimmtes Gen, das für den | |
Überschuss an männlichen Hormonen verantwortlich ist, noch immer nicht | |
gefunden werden. Expert*innen vermuten, dass eine Vielzahl von Faktoren, | |
unter anderem Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. | |
Rund um mögliche Behandlungen hat sich unterdessen längst ein profitabler | |
Markt entwickelt. Abnehmspritzen für rund 320 Euro bringen den Herstellern | |
hohe Umsätze – dabei setzen die Präparate lediglich an den Symptomen an, | |
indem sie das Hungergefühl dämpfen. Nach Absetzen der Medikamente kehrt das | |
Körpergewicht meist auf das Ausgangsniveau zurück. | |
Günstige Substanzen wie Metformin hingegen bleiben wegen ihres geringen | |
Preises wirtschaftlich unattraktiv. Weil sich mit einer Zulassung als | |
PCOS-Medikament kein Gewinn erzielen lässt, verzichten Pharmahersteller auf | |
nötige Studien. Betroffene müssen ihre Medikamente und | |
Nahrungsergänzungsmittel also aus eigener Tasche bezahlen. Erst wenn | |
Begleiterkrankungen diagnostiziert werden, bewilligen viele Krankenkassen | |
eine Kostenübernahme. | |
Etwas mehr als 40 Euro gibt Flieter monatlich für Medikamente aus. Dazu | |
kommen verschiedene Vitaminpräparate und Kapseln zum Aufbau ihrer | |
Darmbakterien. Zweimal hat sie in den vergangenen sechs Monaten versucht, | |
eine Brustverkleinerung zu beantragen, ohne Erfolg. Dabei können große | |
Brüste zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen. | |
Vielen PCOS-Patientinnen fällt Sport dadurch deutlich schwerer. Auch | |
psychische Beschwerden treten häufig auf. Kompressionsstrümpfe gegen ihre | |
Wassereinlagerungen bekommt Flieter ebenfalls nicht mehr bezahlt. „Meine | |
Krankenkasse und ich werden in diesem Leben keine Freunde mehr“, sagt sie. | |
Auf Anfrage teilte die AOK mit, dass PCOS zwar als behandlungswürdige | |
Erkrankung anerkannt sei, viele gängige Behandlungsansätze jedoch unter die | |
Kategorie der individuellen Gesundheitsleistungen fallen. Metformin etwa | |
ist zur Behandlung von Diabetes Typ 2 zugelassen. | |
Bei PCOS handelt es sich um eine sogenannte Off-Label-Anwendung, für die | |
nur im Einzelfall eine Kostenübernahme beantragt werden kann. Maßnahmen wie | |
eine Brustverkleinerung könnten übernommen werden, wenn eine medizinische | |
Notwendigkeit besteht. | |
Laut dem Wissenschaftlichen Institut der AOK erhielten im Jahr 2023 nur | |
0,29 Prozent der weiblichen AOK-Versicherten, die mindestens einen Tag im | |
Jahr versichert waren, die Diagnose „Syndrom der polyzystischen Ovarien“. | |
Hier werden allerdings nur Fälle erfasst, bei denen auch eine Behandlung | |
stattgefunden hat. | |
„Wir gehen von einer Unterkodierung aus“, bestätigt ein Sprecher des | |
AOK-Bundesverbandes. Denn häufig würden statt des Syndroms selbst nur | |
einzelne Symptome oder Begleiterkrankungen wie übermäßiger Haarwuchs, | |
Diabetes, Adipositas oder Sterilität dokumentiert. Verstärkt wird dieses | |
Problem dadurch, dass in Deutschland bislang keine einheitlichen | |
Diagnosekriterien gelten. Je nachdem, welche Kriterien angewendet werden, | |
verändern sich auch die Angaben zur Häufigkeit. | |
Klarheit soll die erste deutsche PCOS-Leitlinie schaffen, deren | |
Veröffentlichung noch im Sommer dieses Jahres erwartet wird. Der Entwurf | |
ist bereits an die Fachgesellschaften verschickt. Expert*innen wie | |
Susanne Hahn setzen allerdings nicht allzu große Hoffnung in sie. | |
## Was das Lexikon für Frauenheilkunde sagt | |
„Ich glaube sogar, dass sie Betroffenen weniger bietet als die | |
internationale Leitlinie“, sagt sie, denn Mittel wie Myo-Inositol sind in | |
den neuen Empfehlungen nicht aufgeführt. Auch die Übernahme von Kosten für | |
Metformin und andere Medikamente könne nicht erwartet werden. | |
Insgesamt werde das PCO-Syndrom in der Medizin „total stiefmütterlich | |
behandelt“, so Hahn. Dabei gebe es inzwischen einige spannende | |
Untersuchungen zu wirksamen Mitteln gegen die Erkrankung. Curcumin etwa, | |
ein Inhaltsstoff aus Kurkuma, kann nach aktuellen Studien den | |
Blutzuckerspiegel senken und einer Insulinresistenz entgegenwirken. | |
Allerdings wurden die positiven Effekte mit sehr hohen Dosen erzielt, die | |
im Alltag kaum dauerhaft eingenommen werden können. | |
Auch neue digitale Anwendungen wie die Paula-App wollen die Aufklärung und | |
Versorgung von PCOS-Betroffenen verbessern. Entwickelt wird sie von einem | |
Ärzt*innenteam um die promovierte Medizinerin Nadine Rohloff, die | |
bereits eine App zur Begleitung von Endometriose-Patient*innen konzipiert | |
hat. | |
„Die Krankheitsbilder Endometriose und PCOS sind sehr unterschiedlich, aber | |
die Rahmenbedingungen sind ähnlich schlecht“, sagt sie. Bis zur Diagnose | |
vergehe in beiden Fällen zu viel Zeit, zudem gebe es nur wenige | |
Expert*innen, die fundierte Auskunft zu den Erkrankungen geben könnten. | |
Trotz weiterer Verbreitung erhält PCOS bislang weniger öffentliche | |
Aufmerksamkeit als Endometriose. Ein Blick ins Bücherregal illustriert das | |
Problem. In einem als „neues Standardwerk der Frauenheilkunde“ beworbenen | |
Buch aus dem Jahr 2024 geht es auf fast 500 Seiten um Aspekte weiblicher | |
Gesundheit – von Menstruation bis Menopause, von Lust bis Geburt. PCOS | |
erhält darin ein kleines Unterkapitel à fünf Seiten. Über Endometriose und | |
ihren Verlauf, ihre Diagnose, Erscheinungsformen und Therapien hingegen | |
wird ausführlich aufgeklärt. | |
„Endometriose führt zu Entzündungen, die starke Schmerzen verursachen“, | |
erklärt Susanne Hahn. „Da denken sich viele berechtigterweise: die arme | |
Frau!“ Dass PCOS in der Regel keine körperlichen Schmerzen verursache, | |
ändere allerdings nichts daran, dass viele Betroffene unter einem | |
erheblichen Verlust an Lebensqualität leiden. Studien aus 2006 zeigen, dass | |
der Leidensdruck ähnlich hoch ist wie bei chronischen Schmerzpatient*innen. | |
„PCOS ist eine komplexe Diagnose, die wahnsinnig viele Fragen aufwirft. Im | |
klinischen Alltag ist für deren Klärung meist zu wenig Zeit“, sagt Nadine | |
Rohloff. Die Paula-App soll Betroffene verlässlich und niedrigschwellig in | |
ihrem Alltag begleiten, bietet medizinische Erklärungen und strukturierte | |
Tagespläne. Ergänzt wird das Angebot durch Aufklärungsvideos zu gesunder | |
Ernährung und Bewegungstipps – Maßnahmen, die in vielen Fällen zur | |
Verringerung der Symptome beitragen. | |
In einer Studie wird aktuell die Wirksamkeit der App untersucht. Isabel | |
Flieter nimmt als Mitglied der Kontrollgruppe teil. Langfristig soll die | |
App als digitale Gesundheitsanwendung zugelassen werden und auf Rezept | |
erhältlich sein. „Es ist noch viel zu tun“, sagt Rohloff mit Blick auf die | |
Versorgungslage. Auch für andere hormonelle Beschwerden wie PMS oder die | |
Wechseljahre arbeite ihr Team bereits an digitalen Angeboten. | |
Nach dem Termin bei ihrer Endokrinologin ist Flieter erschöpft. Solche | |
Gespräche seien für sie oft belastend, erzählt sie später. „Ich weiß ja, | |
dass medikamentös wenig bis gar nichts mehr zu machen ist, aber man hat ja | |
dann doch immer diesen Hoffnungsschimmer, dass es noch ein Wunder gibt.“ | |
Ein kleines Wunder gibt es drei Tage später dann tatsächlich: Eine leichte | |
Blutung setzt ein, ohne dass Flieter zuvor ein Medikament zur | |
Abbruchblutung eingenommen habe. „Es ist kein krasser Flow und ich hatte | |
auch 20 Stunden Pause, wo nichts passiert ist, aber anscheinend hat | |
irgendwas mal funktioniert“, schreibt sie. „Ich freu mich sehr.“ | |
27 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.aerzteblatt.de/archiv/polyzystisches-ovar-syndrom-der-dieb-der-… | |
[2] /Verbindungen-zu-Abtreibungsgegnern/!6085061 | |
[3] https://www.deutschesgesundheitsportal.de/2018/09/12/internationale-leitlin… | |
[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11521267/ | |
[5] /60-Jahre-Pille/!5703222 | |
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Katharina Federl | |
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