# taz.de -- CSDs und die Mehrheitsgesellschaft: Queere Menschen machen es vor | |
> Die Menschen auf den CSDs demonstrieren nicht nur für Minderheiten. Ihr | |
> Protest ist Ausdruck eines Universalismus von unten. | |
Bild: Mutig gegen Rechts: Mittlerweile finden in unzähligen kleineren Städten… | |
Es ist kein Gefallen der Mehrheitsgesellschaft queeren Minderheiten | |
gegenüber, wenn sie deren Paraden zum Christopher Street Day (CSD) im | |
Zeichen der Toleranz durch die Städte ziehen lässt. Im Gegenteil, mit ihrem | |
Protest tun die Queers der Gesamtgesellschaft einen gewaltigen Gefallen. | |
In der Bundesrepublik finden in diesem Sommer so viele CSDs wie nie statt. | |
Nicht nur in Berlin, München, Hamburg und Köln gehen die Leute auf die | |
Straße, auch in unzähligen kleineren Städten. | |
Zunehmend müssen sich diese Demos jedoch gewaltbereiten Nazigruppen | |
entgegenstellen, die zu Überfällen mobilisieren – so wie im Juni [1][im | |
brandenburgischen Bad Freienwalde]. Umso beachtlicher ist der mutige, bunte | |
Antifaschismus der Prides. | |
## Strategisch verzerrtes Neutralitätsverständnis | |
Während CSDs attackiert werden und die Alltagsgewalt gegen queere und trans | |
Menschen rasant ansteigt, verbot CDU-Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, | |
dass an diesem Wochenende, anders als in den Vorjahren, die Regenbogenfahne | |
auf dem Reichstagsgebäude weht. | |
Das Netzwerk der queeren Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung darf am | |
Samstag nicht gemeinsam auf den CSD, Abgeordnete [2][mussten die | |
Regenbogenfahnen an ihren Bürofenstern abhängen]. Zur Begründung bediente | |
Klöckner sich eines strategisch verzerrten Neutralitätsverständnisses, wie | |
es die AfD ins Feld führt. Erneut nimmt die Union damit eine Strategie der | |
AfD auf. Wie schon im Februar, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine | |
Kleine Anfrage gegen die Omas gegen Rechts und andere | |
zivilgesellschaftliche Vereine richtete. | |
Gegenüber den Menschenrechten darf die Politik nicht neutral sein, das | |
bezeugt schon das Grundgesetz. Trotzdem bekräftigte CDU-Bundeskanzler | |
Friedrich Merz die Fahnen-Entscheidung Klöckners mit dem Argument, der | |
Bundestag [3][sei kein „Zirkuszelt“]. Seine Äußerung ist keine unbedachte | |
Entgleisung. Sie kommt bei uns in den queeren Communitys als eine klare | |
Ansage an, dass wir von dieser Regierung weder den notwendigen Schutz noch | |
Solidarität erwarten können. | |
In den Medien werden diese Manöver als Verweigerung des | |
Minderheitenschutzes gewertet. Doch so wahr das ist, geht es vielmehr um | |
Demokratieschutz: Die CDU unter Merz stellt sich offen gegen diejenigen, | |
die für eine demokratische Gesellschaft eintreten. Denn die Protestierenden | |
verteidigen Grundrechte, die das Leben jeder und jedes Einzelnen bedingen, | |
etwa Freiheit und Selbstbestimmung. Sich möglichst frei entfalten zu | |
können, ist ein Bedürfnis, das alle Menschen teilen, bei allen | |
Unterschieden. Queere Menschen aber mussten hart um selbstbestimmte | |
Freiheit kämpfen. | |
## Emanzipationsbewegungen schieben die Demokratie an | |
Die Emanzipationsbewegungen von Schwulen, Lesben und trans Menschen haben | |
in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Liberalisierungs- und | |
Demokratisierungsschübe gebracht, die das Leben aller freier gemacht haben. | |
Das zeigen Historikerinnen wie Dagmar Herzog und Andrea Rottmann mit ihrer | |
Forschung. | |
Dass Heterosexuelle Beziehungen nach ihrem Belieben gestalten können, | |
verdanken sie in großen Teilen den Queers, die ihr Überleben, ihre Lebens- | |
und Liebesweisen verteidigen mussten. Das gilt für das frühe 20. | |
Jahrhundert, bevor der Nationalsozialismus die mühsam errungenen Freiräume | |
mit Verfolgung überzog. Noch mehr gilt dies für die Zeit nach dem | |
Stonewall-Aufstand im New York des Jahres 1969. | |
Genauso traten Feministinnen gemeinsam mit der Lesben- und Schwulenbewegung | |
für Gleichheit und Gleichberechtigung ein. So manch eine, die damals dabei | |
war, geht heute als Oma gegen Rechts wieder auf die Straße. | |
Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung führt vor Augen, dass | |
gleiche Rechte nicht von oben gewährt werden. Sie werden von unten | |
erstritten. Gleichheit, die keine abstrakte Gesetzesformel ist, bildet sich | |
im praktisch Gesellschaftlichen: als Gleichheit, die in Vielheit gründet; | |
als egalitäre Praxis, die darin liegt, in aller Verschiedenheit als Gleiche | |
angesehen und behandelt zu werden. | |
## Universalismus von unten | |
In den CSD-Paraden blitzt ein Universalismus von unten auf, der daran | |
erinnert, was uns trotz aller Verschiedenheit eint: dass wir als soziale | |
Wesen der Sorge und Solidarität bedürfen, dass wir in selbst gewählten | |
Beziehungen leben und uns entfalten wollen. | |
Seit einiger Zeit wird in liberalen Feuilletons und [4][bisweilen sogar in | |
linken Zeitungen] der Universalismus hochgehalten und in einen | |
unüberwindbaren Gegensatz zur „woken“ Identitätspolitik gerückt. Häufig | |
wird den verschiedenen Identitätspolitiken dabei pauschalisierend | |
unterstellt, sich auf besondere Interessen und bloße Befindlichkeiten von | |
Minderheiten zu kaprizieren, etwa der Queers. Es werde Cancel-Culture | |
betrieben, statt das große Ganze in den Blick zu nehmen. | |
Oft geht dies mit einem Plädoyer einher, man müsse zu traditionellen Themen | |
des Klassenkampfs zurückkehren und den Gedanken des Allgemeinen | |
wiederbeleben. In dieser starren, irreführenden Gegenüberstellung erscheint | |
die Idee des Universellen unvereinbar mit Identitätspolitiken. | |
## Gleichheit braucht Vielfalt | |
Es ist wichtig und richtig, in Zeiten, in denen autoritäre Akteure die | |
Menschenrechte abräumen wollen, am Gedanken des Universalismus | |
festzuhalten. Doch wir können Universalismus nicht ohne Differenz denken, | |
denn gelebte Gleichheit braucht demokratische Vielfalt. Queere Bewegungen | |
haben sich stets für mehr Gleichheit eingesetzt. Deshalb sind sie egalitär | |
und universalistisch. Sie kämpfen für die eigenen Rechte ebenso wie für die | |
Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung aller. | |
Wenn Linke Universalismus als Gegenprogramm zu Wokeness bestimmen, um so | |
gegen autoritäre Kräfte anzutreten, dann werden CSDs als | |
identitätspolitischer Nebenschauplatz abgetan. | |
Das verkennt vollends die Manöver von AfD, Orbán, Trump und anderen | |
Antidemokraten. Sie machen sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung | |
zum Kampfplatz, um von dort aus die demokratische Gesellschaft als Ganzes | |
anzugreifen. | |
Sie streben nicht bloß danach, die Selbstbestimmung einiger weniger | |
auszuhebeln, sie wollen das Prinzip an sich abschaffen – für Frauen, | |
Jüd*innen, armutsbetroffene Menschen, Menschen mit Behinderung, Menschen | |
mit Migrationsgeschichte, kurzum für die Mehrheit. Um diesen Großangriff | |
auf freies Lebens zu verschleiern, ja, perfider noch, um ihn als | |
Mehrheitsmeinung gegen angeblich übermächtige Minderheiten zu framen, | |
setzen sie auf Sündenbockrhetorik, auf eine Art negative | |
Intersektionalität. | |
## Transfeindlichkeit dient als Schleusenöffner | |
Davon zeugt die Verschwörungsideologie des „großen Austauschs“, die | |
antisemitische Erzählmuster von herbeifabulierten Eliten mit | |
antimuslimischem Rassismus und antifeministischen Ressentiments verflicht. | |
Ebenjene Elite, so der wirre, aber wirkmächtige Spin, trachte danach, weiße | |
christliche Familien durch migrantische zu ersetzen, in Komplizenschaft mit | |
Queers und Feministinnen. | |
Weil Rechtsextreme auf das gesamtgesellschaftliche Unwissen über die | |
Lebenswirklichkeit von trans Menschen setzen können, dient | |
Transfeindlichkeit als Schleusenöffner, um alte Muster der sexuellen | |
Moralpanik in eine neue Fassung zu bringen. Etwa, wenn sie angesichts von | |
queeren Lebens- und Liebesweisen Kindeswohlgefährdung unterstellen. | |
In Neuruppin zum Beispiel wollten rechte Gruppen so CSD-Veranstaltungen | |
verbieten lassen. Diese Instrumentalisierung des Kinderschutzes ist | |
bis ins bürgerliche Spektrum hinein anschlussfähig. Unterdessen [5][kürzen | |
viele Kommunen queerpolitischen Demokratieprojekten die Gelder]. | |
AfD und extrem rechte Akteure trachten danach, queere Menschen als das | |
Andere der Gesellschaft und der Demokratie darzustellen, wenn sie von | |
„woker Diktatur“ raunen, wenn Nachwuchsnazis wie einst ihre Väter in den | |
Baseballschlägerjahren geifernd und gewaltbereit „Weiß, normal, hetero!“ | |
brüllen. Doch Queers sind nicht das Andere der Demokratie. Wir sind gelebte | |
Demokratie. | |
## „Kanarienvögel der Demokratie“ | |
Der Linke-Politiker Klaus Lederer hat kürzlich auf einem Stadtfest in | |
Berlin-Neukölln von queeren Menschen als „Kanarienvögeln der Demokratie“ | |
gesprochen. Damit spielte er auf die Bergarbeiter früherer Jahrzehnte an, | |
die die kleinen Vögel mit in die Grube nahmen. Wurde der Sauerstoff knapp, | |
hörten die Vögel auf zu zwitschern: ein Warnsignal, das das Überleben aller | |
sicherte. Im Testflug für die Demokratie flattern wir voran. So klein und | |
fragil Kanarienvögel wirken, so leuchtend bunt, lautstark, so schwirrend | |
flink sind sie. Wie umherschwärmende Kanarienvögel lassen die Prides die | |
Straßen bunter werden. Sie sind mehr als ein Warnzeichen. Sie sind | |
antifaschistischer Widerstand. | |
Der Rechten dient Antifeminismus als gemeinsamer Nenner mit evangelikalen | |
Netzwerken, Libertären und völkischen Nationalisten. Was wäre nun, wenn die | |
Demokrat:innen den Queerfeminismus als antifaschistisches Bindeelement | |
begriffen? Wenn wir Selbstbestimmung, egalitäre Sorge und das gute Leben | |
für alle als geteilte Grundlage antifaschistischer Kämpfe erachteten? Als | |
Grundlage, die über die bloße Verteidigung des Bestehenden hinausweisen | |
würde. | |
Wir sehen schon neue, kraftvolle Formen solch eines Antifaschismus. Die | |
Omas gegen Rechts machen es vor, genauso wie die queeren Initiativen in Bad | |
Freienwalde, Falkensee, Wittenberg und andernorts. Sie spielen keine | |
kampfbereiten Heldenfiguren nach vorne, sondern bauen auf | |
antifaschistischer Sorge auf. | |
Das zeigt sich in großen und kleinen Aufgaben von der Demoanmeldung über | |
die Breitstellung von Wasser, Müsliriegeln, Sonnenmilch und | |
Regenbogenschirmen bis hin zum Schutz, den Antifagruppen vor Ort bieten. | |
Solche antifaschistischen Schutznetze gibt es vielerorts seit der Gewalt | |
der Baseballschlägerjahre der 1990er. Nun werden sie gestärkt und | |
weitergesponnen. | |
## Es sind nicht alle auf Verbotslinie | |
Und auch in der Politik sind nicht alle auf Verbotslinie. Die | |
Regenbogenfahne weht vielerorts wie vor dem bayerischen Landtag. Der Grüne | |
Omid Nouripour und die Sozialdemokratin Josephine Ortleb gehören dem | |
Bundestagspräsidium an und eröffnen den Berliner CSD. Götz Herrmann, | |
Bürgermeister von Eberswalde, ging beim dortigen CSD auf die Bühne und | |
dankte den Protestierenden dafür, dass sie die Stadt in ihrer Vielfalt | |
bewahren. | |
Vor lauter Ohnmachtsgefühl mag der Rückzug ins Private verlocken. Doch | |
Faschismus macht nicht an der Haustür halt. Zwar bedroht er die einen mehr | |
als die anderen, doch er will nicht weniger, als das demokratische Leben | |
umzuwälzen. Er nährt sich von Angst und Vereinzelung. Dagegen hilft, das | |
Miteinander zu stärken. Queere Menschen machen seit Langem vor, wie dies | |
gelingen kann. | |
26 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Angriffe-auf-CSDs-/!6092611 | |
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[3] /Merz-gegen-Regenbogenfahne/!6094735 | |
[4] https://jungle.world/artikel/2025/21/wokeness-bildungsbuergertum-links-rech… | |
[5] https://www.siegessaeule.de/magazin/solidaritat-und-sichtbarkeit-zur-pride-… | |
## AUTOREN | |
Jule Govrin | |
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