# taz.de -- Radikalisierung von Jungnazis: Stille in Altdöbern | |
> In Altdöbern und Wismar werden drei Teenager festgenommen. Sie sollen | |
> Anführer einer Rechtsterrorgruppe sein. Wie konnten sie sich so | |
> radikalisieren? | |
Bild: Alles strahlt hier Bürgerlichkeit aus: Das Haus von Lenny M., das die Po… | |
Altdöbern taz | Lennys Kinderzimmer in dem neugebauten Einfamilienhaus, | |
ganz am Rande Altdöberns, steht jetzt leer. Alles strahlt hier | |
Bürgerlichkeit aus: Backsteinhaus, neben der Tür eine weiße Bank mit | |
Blumentöpfen, ein akkurat herausgeputzter Garten, weißes Familienauto | |
hinter weißem Gartenzaun. Einzig: Ein Schild warnt vor einer | |
Überwachungskamera. Klingelt man, öffnet der Vater, Kurzhaarscheitel, | |
Headset auf dem Kopf. Er könne nichts zu den Vorwürfen sagen, [1][wegen | |
derer sein 15-jähriger Sohn jetzt im Gefängnis sitzt], sagt er. Und er | |
müsse jetzt arbeiten. Dann verschwindet er sofort wieder im Haus. | |
Und es herrscht wieder Stille in Altdöbern. | |
Auch der Bürgermeister des 2.500-Einwohner Ortes im Süden Brandenburgs, | |
Peter Winzer, ein 73-jähriger SPD-Mann, seit 13 Jahren im Amt, sagt, er | |
könne zu den Festnahmen wenig sagen. Er kenne die Familie von Lenny M. | |
nicht genauer. Und er wolle auch keinen Rufmord betreiben, solange niemand | |
verurteilt sei. Der Brandanschlag auf das örtliche Kulturhaus, den | |
Kultberg, aber sei eine „Katastrophe“, sagt Winzer. Für lokale Vereine gebe | |
es nun keinen Treffpunkt mehr. Der Chef des Kegelvereins, in dem die | |
Familie von Lenny M. aktiv ist, will nicht sprechen. „Und ich hoffe, dass | |
auch niemand sonst vom Verein was dazu sagt“, sagt er. Der Präsident des | |
örtlichen Fußballvereins will auch nicht sprechen. Pfarrerin Astrid | |
Schlüter sagt, sie kenne die Familien auch nicht. Aber auch sie nennt die | |
Sache mit dem Brandanschlag „eine Katastrophe“. Eine, die viele im Ort | |
erschreckt habe. | |
Es war am 23. Oktober vergangenen Jahres, [2][als der Kultberg in Altdöbern | |
niederbrannte]. In dem Kulturhaus wurde schon vor hundert Jahren gefeiert, | |
zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Schützenhaus“. Der Sachschaden: 500.000 | |
Euro. [3][Dann folgte am 21. Mai die Festnahme von Lenny M.] – im Auftrag | |
der höchsten Ermittlungsbehörde, der Bundesanwaltschaft. Der Vorwurf: | |
Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung, der „Letzten | |
Verteidigungswelle“. Eine Gruppe, auf welche die taz [4][schon Wochen zuvor | |
hinwies]. Und bei der Lenny M. einer der Anführer gewesen sein soll. Mit 15 | |
Jahren. | |
Mit ihm festgenommen wurden sieben weitere Rechtsextreme aus Brandenburg, | |
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Hessen – der jüngste 14 | |
Jahre alt, der älteste 21. Ein zweiter Festgenommener, Jerome M., auch 15 | |
Jahre alt, kommt aus einem Vorort von Altdöbern. Bei den Razzien fanden | |
Polizisten Softairwaffen, Schlagringe und einen Gegenstand, zu dem bis | |
heute eine Sprengstoffuntersuchung läuft. | |
Erst vor einem guten Jahr hatte sich die „Letzte Verteidigungswelle“ auf | |
Tiktok und Instagram gegründet, zunächst mit einer Gruppe für | |
Mecklenburg-Vorpommern, dann mit Ablegern in anderen Bundesländern. Sie war | |
eine von vielen jungen rechtsextremen Gruppen bundesweit, [5][die ab dem | |
Frühjahr 2024 plötzlich auf Social-Media-Plattformen auftauchten]. Auf | |
ihren Fotos posieren Teenager kahlgeschoren in Bomberjacken, mit | |
Springerstiefeln, weißen Schnürsenkeln und Hitlergrüßen – [6][wie in den | |
Baseballschlägerjahren der Neunziger]. In Kommentaren wird über „Zecken“, | |
„respektlose Migranten“ oder CSD hergezogen, immer wieder mit Gewalt | |
gedroht. | |
Anders als andere Gruppen beließ es die „Letzte Verteidigungswelle“ nicht | |
bei Gerede. Erst brannte in Altdöbern der Kultberg nieder. [7][Ein Angriff | |
auf eine Asylunterkunft im nahegelegenen Senftenberg soll kurz | |
bevorgestanden haben]. Zwei Kugelbomben hatte sich die Gruppe dafür in | |
Tschechien besorgt. Im Thüringer Schmölln war ein solcher Angriff schon | |
erfolgt: Hier filmten sich zwei Gruppenmitglieder dabei, wie sie eine | |
Feuerwerksbatterie ins Innere einer Unterkunft schossen, offenbar um einen | |
Brand zu legen, der letztlich nicht ausbrach. Zuvor wurden rechtsextreme | |
Parolen auf die Wände geschmiert. | |
Die Festnahmen sind eine Zäsur: Eine Rechtsterrorgruppe im Teenageralter, | |
das gab es bei der Bundesanwaltschaft bisher nicht. Nun bleiben Fragen. Wie | |
kann es sein, dass sich Jugendliche derart radikalisieren – innerhalb so | |
kurzer Zeit? Und wie wird darauf reagiert? | |
In Altdöbern steht auch acht Monate nach dem Brand noch die Ruine des | |
abgebrannten Kultbergs. Bauzäune umstellen die Reste des Gebäudes, der | |
frühere Saal klafft offen, nur noch die Außenmauern stehen, | |
schwarzverkohlte Balken ragen in den Himmel. Das Betreiberpaar – ein | |
gebürtiger Altdöberner und eine Thüringerin – zog vor fünf Jahren von | |
Berlin aus in den Ort und pachtete das Gebäude von der Gemeinde. Eigentlich | |
hatten sie nur ein Nebengebäude im Blick, einen früheren Jugendclub, dann | |
bat sie Bürgermeister Winzer, den ganzen Komplex zu betreiben. Jeden Tag | |
hatten sie Zeit und Geld in den Kultberg investiert, neue Bar, neue Küche, | |
neue Technik. Am Ende gab es Rockkonzerte, Familienfeiern, einen | |
Biergarten, Burger und Flammkuchen. | |
Auch das Paar will zum Brandanschlag nicht viel sagen. Die Tat, das Motiv | |
und dass all das aus der Nachbarschaft heraus passiert sei, bleibe | |
„unbegreiflich“, erklären beide nur. Politisch hätten sie sich mit dem | |
Kultberg gar nicht positioniert, seien stets für alle offen gewesen. Seit | |
dem Brand ist die Lebensgrundlage der Familie zerstört – und das | |
Sicherheitsgefühl. Direkt neben dem abgebrannten Kulturhaus steht das | |
Wohnhaus, in dem sie auch in der Nacht vom 23. Oktober mit ihrer kleinen | |
Tochter schliefen. Es fehlten nur wenige Minuten, dann hätte das Feuer auch | |
sie erreicht. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft lautet deshalb auch auf | |
versuchten Mord. | |
Die Polizei sprach nach dem Feuer zunächst von einem technischen Defekt. | |
Den Betreibern war dagegen noch in der Nacht klar, dass das nicht sein | |
kann: Die ganze Elektronik sei gerade erst erneuert worden. Dann tauchte in | |
einer Chatgruppe der „Letzten Verteidigungswelle“ ein Video auf: Ein | |
Vermummter in einem Camouflage-Anzug steht vor einem Fenster an der | |
Rückseite des Kultbergs, in der Hand eine Flasche. Es lodern Flammen, erst | |
am Fensterrahmen, dann im Inneren des Gebäudes. „1.24 hab ichs angezündet�… | |
schrieb ein Gruppenmitglied laut eines Stern-Berichts. Als die | |
Feuerwehrsirenen ertönten, sei er schon wieder „heme“ gewesen. Den Laden | |
würden „Zecken“ betreiben, ergänzte ein anderes Mitglied. Die Polizei wei… | |
davon nur, weil [8][eine Stern-Reporterin undercover in der Gruppe | |
eingeschleust war] und die Inhalte weitergab. | |
Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass Lenny M. der | |
Nachrichtenschreiber war – und der Brandstifter. Und dass auch Jerome M. | |
vor Ort war. Sie werteten ihre Handys aus, die Chats und Aufnahmen von | |
Überwachungskameras. Der Kultberg ist nur wenige Hundert Meter von Lenny | |
M.s Wohnhaus entfernt. In einem weiteren Video vor der Tat soll er andere | |
Gruppenmitglieder zu ähnlichen Taten aufgerufen haben. | |
Vor Ort heißt es, Lenny sei völlig unauffällig gewesen, kaum zu sehen. Er | |
ging in einer Nachbarstadt ins Gymnasium. Noch vor wenigen Jahren, zu | |
Coronazeiten, beteiligte sich der damals 10-Jährige an einem bundesweiten | |
Geschichtsprojekt zur Pandemie, sandte dafür eine Collage mit Fotos | |
abgesperrter Spielplätze und leerer Straßen in Altdöbern ein. | |
Wer dieser Tage durch die Stadt läuft, begegnet auch da wenigen Menschen. | |
Viele ziehen sich in ihre Gärten zurück. Vor vielen Jahren gab es mal einen | |
Jugendtreff, den Club am Weinberg, in dem sich alle getroffen hätten, | |
berichten Anwohnende. Da hätte man gemerkt, wenn einer abdriftet. So ein | |
Ort fehlt heute, auch für Lenny M. Stattdessen tauchen online unter seinem | |
Namen ab Mitte 2023 Social-Media-Profile mit Reichsadlerflagge oder einem | |
Wehrmachtpanzer auf, ein Profilname lautet „German Patriot“. Offenbar zog | |
sich der Teenager von seinem Kinderzimmer aus in die Onlineszene der | |
Jungnazi-Gruppen zurück – bis er dort selbst zum Anführer wurde. | |
Auch die Eltern von Lenny M. gelten im Ort als unauffällig, als „ganz | |
normale Leute“. Die Mutter soll in der Verwaltung arbeiten, der Vater beim | |
Zoll. Und die Familie soll mit ihrem Sohn auch den Kultberg besucht haben, | |
zu Konzerten oder zum Essen. Dann aber schrieb der Vater plötzlich in einer | |
Onlinebewertung, der Laden sei „chaotisch, unaufgeräumt und ungepflegt“. | |
Eine rechtsextreme Szene sei in Altdöbern nicht präsent, anders als | |
anderswo in der Region, wird vor Ort vielfach betont. „Sicher gibt es | |
Rechtsextreme, aber die haben sich hier nicht geoutet“, sagt Bürgermeister | |
Peter Winzer. „Und dass die gewaltbereit sind, war überhaupt nicht klar.“ | |
Tatsächlich liegen rechtsextreme Aufmärsche im Ort lange zurück, im | |
Gemeindeparlament ist die AfD nicht vertreten. Pfarrerin Astrid Schlüter | |
berichtet, es habe ein paar Aufkleber an der Friedhofsmauer gegeben, das | |
war’s. Auch am Kultberg klebten schon rechtsextreme Sticker. Bei der | |
jüngsten Bundestagswahl aber lag die AfD in Altdöbern bei 40 Prozent. Und | |
in der Coronazeit seien einige im Ort nach rechts gerutscht, hätten auf die | |
Ampel geschimpft, auf die Politik an sich, heißt es von Anwohnenden. | |
Auf das Gymnasium von Lenny M. ging auch Jerome M., der zweite | |
Festgenommene aus der Gemeinde. Die Schule ist demokratisch engagiert: | |
Gerade erst wurde dort der Anne-Frank-Gedenktag begangen und eine | |
Demokratieausstellung eröffnet. Ältere Schüler*innen veröffentlichten im | |
Mai ein Buch mit Plädoyers für die Demokratie, berichteten darin, wie sie | |
von „Faschos“ verfolgt wurden, wie die AfD auf „Hass und Spaltung“ setz… | |
wie online ein Like bei einem Video reiche, um in die rechte Szene zu | |
geraten. Aber auch die Schule will sich nicht zu den Festnahmen äußern. | |
Eine taz-Anfrage leitet sie an das Brandenburger Bildungsministerium | |
weiter, das kundtut, dass man zu den festgenommenen Schülern nichts sagen | |
könne, aus Gründen des Persönlichkeitsrechts. Die Schulleitung habe auf die | |
Festnahmen aber „schnell reagiert“ und „die gesamte Schulgemeinschaft | |
mitgenommen“. | |
Man hört am Gymnasium aber auch, dass gar nicht alle etwas von den | |
Festnahmen mitbekommen hätten. Und dass sich bereits vor einem guten Jahr | |
etwas verändert habe: Jüngere Schüler*innen seien plötzlich mit | |
rassistischen Sprüchen aufgefallen, auf den Toiletten wurden Hakenkreuze | |
geschmiert, bei einer Juniorwahl habe die Neonazi-Partei Der III. Weg vorne | |
gelegen. Die Schule versuche das aufzuarbeiten, auch deshalb seien so | |
offensiv Demokratieprojekte initiiert worden. Und diese Reaktion, so heißt | |
es, unterscheide dieses Gymnasium durchaus von anderen Schulen. | |
[9][Bereits vor zwei Jahren veröffentlichten Lehrer*innen einer Schule | |
im nahegelegenen Burg einen Brandbrief], dass sich Rechtsextremismus in den | |
Klassenzimmern breitmache. Wer widerspreche, müsse um seine Sicherheit | |
fürchten. Auch aus anderen Schulen bundesweit hört man solche Warnungen. In | |
dieser Zeit entstehen online vermehrt rechtsextreme Jugendgruppen. | |
Die „Letzte Verteidigungswelle“, die Gruppe von Lenny M., fällt zuerst in | |
Wismar auf. Auch dort ließ die Bundesanwaltschaft nun zwei Jugendliche | |
festnehmen, die sie ebenfalls als Anführer sieht: den 18-Jährigen Jason R., | |
der zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet haben soll, und Benjamin H., ein | |
16-jähriger Schüler aus dem nahen Neubukow. Auch ihre Radikalisierung | |
verlief online, aber nicht nur. Denn Wismar hat durchaus eine präsente | |
rechtsextreme Szene. Schon die NPD war hier aktiv, zuletzt Neonazigruppen | |
wie die „Division Schwerin“, „Mecklenburg Verteidigen“, „Neue Stärke… | |
„Aryan Circle“. [10][Der als „Nazidorf“ bekannt gewordene Ort Jamel ist | |
nicht weit]. Die AfD kam in Wismar zuletzt auf knapp 30 Prozent der | |
Stimmen. Aber es gibt auch einen wie Bürgermeister Thomas Beyer, ein | |
Sozialdemokrat, dessen Partei in der Stadt lange vorne lag und der das | |
Problem offen anspricht. | |
Es war bereits am 14. September vergangenen Jahres, als Jason R., | |
kahlgeschoren, in grüner Bomberjacke, und Benjamin H., gescheitelt, | |
aufgepumpte Arme, mit 200 anderen Rechtsextremen in Wismar auf der Straße | |
standen. Es wehten schwarz-weiß-rote Fahnen, Parolen wurden gegrölt. Die | |
Rechtsextremen waren angerückt, um den ersten CSD in Wismar zu stören. Am | |
Ende aber waren die anderen mehr: Gut 2.100 Menschen versammelten sich zum | |
CSD auf dem Wismarer Marktplatz, auch Bürgermeister Beyer kam. Ein | |
wahnsinniger Erfolg sei das gewesen, sagen zwei der Organisator*innen, Luis | |
Dannewitz und Rachel Hanf, zwei queere Musiker*innen. Gerade angesichts der | |
rechtsextremen Bedrohung. | |
Schon Wochen vor der Parade hatte die rechtsextreme Szene online gegen den | |
CSD mobilisiert. Dannewitz und Hanf bekamen Drohnachrichten: Am Demotag | |
werde „abgerechnet“, Wismar werde brennen. Am Tag selbst hielt die Polizei | |
die Neonazis vom CSD fern, aber es kam zu Auseinandersetzungen mit | |
anreisenden Antifaschist*innen. Die Polizei leitete mehrere | |
Ermittlungsverfahren ein. Eines richtete sich gegen den Neubukower Benjamin | |
H.: Er hatte ein verbotenes Butterflymesser und einen Schlagring dabei. | |
Der Auftritt von Benjamin H. und Jason R. beim CSD in Wismar war nicht ihr | |
erster – und auch nicht ihr letzter. Als die beiden im Mai von der | |
Bundesanwaltschaft festgenommen wurden, zeigte sich Bürgermeister Beyer in | |
einem Video „ziemlich erschüttert“. Andererseits, sagte er, sei er auch | |
nicht überrascht. „Denn manches war auch bereits sichtbar.“ Die | |
Stadtgesellschaft müsse nun „sehr aufmerksam“ sein und extremistische | |
Vorfälle der Polizei melden, appellierte Beyer. | |
Auch für CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf war vieles sichtbar. | |
Rechtsextreme seien im Stadtbild präsent, es gebe eine Vielzahl an Gruppen | |
in der Region, sagt die 19-jährige Wismarerin. Lange Zeit verfolgte sie | |
auch deren Onlinekanäle mit. „Die sind dort alle stark vernetzt. Und da | |
wird unverhohlen kommuniziert. Man konnte die Radikalisierung live | |
miterleben.“ | |
Tatsächlich waren schon im Mai 2023 Jugendliche durch Wismar gezogen, | |
warfen mit Flaschen, beschädigten die Ukrainefahne am Rathaus. | |
Bürgermeister Beyer verurteilte in einem Video die Randale, appellierte an | |
die Wismarer*innen, die Polizei zu rufen, wenn sie so etwas sehen. | |
Anwohnende berichteten aber auch danach von nächtlichen „Sieg Heil“-Rufen. | |
In der Stadt tauchten Aufkleber wie „Deutsche Jugend voran“ oder „Raus mit | |
die Viecher“ auf. Die rechtsextremen Jugendlichen trafen sich im | |
Lindengarten, einem Park unweit des Bahnhofs. Die Stadt beteuert, | |
Sicherheitsdienste dorthin geschickt und den Fachdienst Jugend | |
eingeschaltet zu haben. Aber die Rechtsextremen machten weiter. 99 rechte | |
Straftaten zählte die Polizei 2024 in Wismar – 15 mehr als im Vorjahr. In | |
diesem Jahr rechne man mit ähnlichen Zahlen, so ein Polizeisprecher. | |
Ende 2023 tauchten dann auch online Instagram-Profile mit Fotos aus Wismar | |
von Jugendlichen in Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln auf, | |
Pyrofackeln schwingend, unterlegt mit Musik der Böhsen Onkelz. Spätere | |
Bilder zeigen Kahlgeschorene in Bomberjacken in einem Park, die Hände zum | |
Hitlergruß erhoben. Dann erscheint Ende 2023 ein Gruppenname: „die Letzte | |
Verteidigungswelle“. Jugendliche posieren auch dort mit Hitlergrüßen, Logos | |
zieren Totenköpfe oder SS-Symbole. Man sei „die letzte Welle, die | |
Deutschland befreit“, wird getönt. „Sieg oder Tod.“ | |
Zwei dieser Instagramprofile gehören Jason R. und Benjamin H. Letzterer | |
verschickt intern nach taz-Informationen Nachrichten mit „Sieg Heil“-Grüß… | |
oder einen Adolf Hitler, der ein Herz mit der Hand formt. Jason R. zeigt | |
auf seinen Fotos auch Waffen, ein Hitlerbild oder eine Hakenkreuzfahne. | |
Sein Zugang zur Szene erfolgte womöglich familiär: Online posiert auch ein | |
älterer Nachnamensvetter aus Wismar in rechtsextremen Shirts, mit | |
einschlägigen Tattoos. Fotos zeigen Jason R. auch mit Anführern des „Aryan | |
Circle“, die deutlich älter sind. | |
Und es bleibt auch in Wismar nicht bei Worten. Im August vergangenen Jahres | |
wird beim örtlichen Büro des Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensts die | |
Schaufensterscheibe eingeworfen, in der Plakate zur Interkulturellen Woche | |
hängen. Ermittler finden Fingerabdrücke am Tatort: Sie gehören zu Jason R. | |
Der 18-Jährige soll im Januar auch zu einer Gruppe von Jugendlichen gehört | |
haben, die in den Tierpark Wismar einbrach und mehrere Kaninchen und | |
Meerschweinchen stahl, die später teils tot wiedergefunden wurden. Einer | |
Ziege wurde mit einem Messer in den Bauch gerammt, das Tier in einen Bach | |
geworfen, wo es starb. Später wird Jason R. von der Polizei mit einem | |
verbotenen Messer und Schlagring erwischt. Im März ist der 18-Jährige auch | |
bei einem Neonazi-Aufmarsch in Schwerin dabei, hier bereits tonangebend mit | |
Megafon. Wenige Wochen später erfolgt dann seine Festnahme durch die | |
Bundesanwaltschaft. | |
„Die Jugendlichen konnten an die Szenestrukturen hier andocken“, sagt | |
CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf. „Und sie haben sich immer wieder | |
gegenseitig befeuert. Lange, ohne dass ihnen wirklich etwas drohte.“ | |
Bürgermeister Beyer sei zwar engagiert und positioniere sich offensiv gegen | |
die Rechtsextremen, so Hanf. „Aber das allein reicht nicht. Da muss auch | |
die Stadtgesellschaft mitziehen. Und es fehlt an Präventionsangeboten und | |
Aufklärung, wie stark der Rechtsextremismus hier wirklich ist.“ | |
Die Stadt Wismar teilt mit, dass es nach den Festnahmen der | |
Bundesanwaltschaft keine rechtsextremen Vorkommnisse mehr gegeben habe. | |
Rachel Hanf sieht die Neonaziszene dagegen wenig beeindruckt. „Sie sind | |
natürlich weiter da und auch online präsent.“ Erst zuletzt am Hafenfest | |
seien auch Rechtsextreme wieder aufgetaucht. | |
Den nächsten CSD will Rachel Hanf dieses Jahr nun nicht in Wismar, sondern | |
am 13. September im benachbarten Grevesmühlen veranstalten, einer | |
rechtsextremen Hochburg – es wird erneut eine Premiere. „Gerade da braucht | |
es ein Bekenntnis für Vielfalt“, sagt Hanf. Aber die rechtsextreme Szene | |
mobilisiert bereits wieder. Es habe nur wenige Stunden gedauert, nachdem | |
ihr Plan bekannt wurde, da habe es schon Onlinekommentare gegen den CSD | |
gegeben, erzählt Hanf. „Aber wir ziehen das durch.“ | |
In Altdöbern blieb die Gemeindespitze still nach dem Brand im Kultberg – | |
und auch nach den Festnahmen der Bundesanwaltschaft. Es sind die Betreiber | |
schließlich selbst, die zu einer „Andacht“ einladen, um an das | |
niedergebrannte Kulturhaus zu erinnern, das im Ort eine jahrzehntelange | |
Tradition hatte. Die Gemeinde ruft schließlich zu Spenden auf – aber nicht | |
für die Familie, sondern für den „möglichen Wiederaufbau“ des Hauses. Das | |
Betreiberpaar startet daraufhin einen eigenen Spendenaufruf. | |
Brandenburgs neuer Innenminister René Wilke, einst ein Linker, nun | |
parteilos und erst seit drei Wochen im Amt, [11][sagte kürzlich der taz], | |
es gebe zwei Wege, mit rechtsextremen Taten umzugehen: Der erste sei, zu | |
schweigen und schnell zum nächsten Thema überzugehen, um Aufmerksamkeit zu | |
vermeiden. Der zweite sei: Das Problem offensiv ansprechen und die | |
Bevölkerung sensibilisieren. Wilke plädiert für den zweiten Weg. In | |
Altdöbern scheinen sie sich anders entschieden zu haben. | |
Noch am Tag nach dem Brandanschlag auf den Kultberg verkündete die | |
Gemeinde, dass das Haus wiederaufgebaut werden soll. In eine Taskforce für | |
den Wiederaufbau wurde auch die Betreiberfamilie einbezogen. Dann aber | |
erfolgt ein Kurswechsel: Im März kündigt die Gemeinde den Vertrag mit der | |
Familie, wie Bürgermeister Winzer bestätigt. Es gebe ja nun keine | |
Pachtsache mehr, sagt er. Am Mittwochabend beschloss die Gemeindevertretung | |
den Abriss des kompletten Komplexes – ohne vorher nochmal mit den | |
Betreibern gesprochen zu haben. Langfristig wolle man eine neue | |
Kulturstätte aufbauen, sagt Winzer. Aber das werde angesichts leerer Kassen | |
dauern. | |
Das Betreiberpaar fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Zumindest die Kneipe | |
neben dem niedergebrannten Saal und der Biergarten wären doch noch zu | |
retten gewesen, sagen sie. Und nur diese hatten sie formal gepachtet, diese | |
Pachtsache sei also gar nicht zerstört, die Kündigung demnach rechtswidrig. | |
Das Paar hat dieser bereits widersprochen. Kneipe und Biergarten zu | |
erhalten, sei lange eine Hoffnung gewesen, auch als Basis für einen | |
Neuanfang vor Ort, sagen die beiden. Dafür hätten sie sogar ein | |
mehrseitiges Konzept vorgelegt. Man habe immer dafür gekämpft, das | |
Kulturhaus weiterzubetreiben, auch als es schon zu Coronazeiten sehr | |
schwierig war. Von der Gemeindespitze wird dagegen bereits kolportiert, | |
dass die Familie Altdöbern verlassen wolle. Was diese nach eigener Auskunft | |
nie gesagt hat. Es sei schade, dass inzwischen „mehr über als mit uns | |
geredet wird“, sagt das Paar. Es gehe auch um ihre Rechte. Ob sie nun in | |
Altdöbern bleiben könnten, hänge von den Entwicklungen der nächsten Wochen | |
ab. | |
Fragt man Bürgermeister Winzer nach politischen Konsequenzen aus dem | |
Brandanschlag und Terrorvorwürfen, wird er einsilbig. „Ist doch logisch, | |
dass hier alle die Tat verurteilen.“ Was solle man denn tun? „Man kann in | |
die Köpfe der Leute nicht reingucken. Und wir wollen auch kein Öl ins Feuer | |
gießen.“ Demokratieprojekte? Daran würden Rechtsextreme nicht teilnehmen, | |
glaubt Winzer. Ein Jugendklub wieder vor Ort? Wäre sicher sinnvoll, aber | |
dafür fehle schon länger das Geld. „Das ist ohnehin das Grundproblem“, sa… | |
Winzer. | |
Brandenburgs Innenminister Wilke plädierte zuletzt für „Entschiedenheit“ | |
von Polizei und Justiz gegen die Jungnazis, vor allem aber für mehr | |
Prävention und Bildungsarbeit. Man müsse an die Schulen gehen, dort über | |
Extremismus und die sozialen Medien aufklären. Es dürfe nicht hingenommen | |
werden, dass die Jugendlichen sozialen Medien „schutzlos ausgeliefert“ | |
werden. Auch das Brandenburger Bildungsministerium sieht mehrere Faktoren | |
für eine Radikalisierung, ein wesentlicher seien die sozialen Medien. | |
Christian Pegel, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ein SPD-Mann, | |
nennt die Entwicklung ebenso „erschreckend“ und betont, „wie wichtig | |
frühzeitige Aufklärung und klare Grenzen sind“. | |
Lenny M. und die anderen sieben Jungterrorverdächtigen sitzen derweil | |
weiter in Haft. Was genau am Ende zu ihrer Radikalisierung führte, wird | |
womöglich nie ganz aufgeklärt: Wegen des Alters der Angeklagten werden fast | |
alle Prozesse nicht öffentlich stattfinden. | |
Und so bemüht sich die Schule von Lenny M. und Jerome M. weiter, den | |
Rechtsextremismus zurückzudrängen. Zwei Wochen stand die | |
Demokratie-Ausstellung in den Gängen, in Kürze kommt der Verfassungsschutz | |
zu einer Präventionsveranstaltung in die Aula. In Neubukow wird die Schule | |
von Benjamin H. von einem Demokratieverein beraten. | |
Und in Altdöbern geht der Alltag weiter. An der Grundschule wird bald das | |
Talentefest gefeiert, in den Vororten Heimatfeste. Und am Ortsrand soll nun | |
„zeitnah“, so Bürgermeister Winzer, die Brandruine des Kultbergs abgetragen | |
werden. | |
28 Jun 2025 | |
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