| # taz.de -- Radikalisierung von Jungnazis: Stille in Altdöbern | |
| > In Altdöbern und Wismar werden drei Teenager festgenommen. Sie sollen | |
| > Anführer einer Rechtsterrorgruppe sein. Wie konnten sie sich so | |
| > radikalisieren? | |
| Bild: Alles strahlt hier Bürgerlichkeit aus: Das Haus von Lenny M., das die Po… | |
| Altdöbern taz | Lennys Kinderzimmer in dem neugebauten Einfamilienhaus, | |
| ganz am Rande Altdöberns, steht jetzt leer. Alles strahlt hier | |
| Bürgerlichkeit aus: Backsteinhaus, neben der Tür eine weiße Bank mit | |
| Blumentöpfen, ein akkurat herausgeputzter Garten, weißes Familienauto | |
| hinter weißem Gartenzaun. Einzig: Ein Schild warnt vor einer | |
| Überwachungskamera. Klingelt man, öffnet der Vater, Kurzhaarscheitel, | |
| Headset auf dem Kopf. Er könne nichts zu den Vorwürfen sagen, [1][wegen | |
| derer sein 15-jähriger Sohn jetzt im Gefängnis sitzt], sagt er. Und er | |
| müsse jetzt arbeiten. Dann verschwindet er sofort wieder im Haus. | |
| Und es herrscht wieder Stille in Altdöbern. | |
| Auch der Bürgermeister des 2.500-Einwohner Ortes im Süden Brandenburgs, | |
| Peter Winzer, ein 73-jähriger SPD-Mann, seit 13 Jahren im Amt, sagt, er | |
| könne zu den Festnahmen wenig sagen. Er kenne die Familie von Lenny M. | |
| nicht genauer. Und er wolle auch keinen Rufmord betreiben, solange niemand | |
| verurteilt sei. Der Brandanschlag auf das örtliche Kulturhaus, den | |
| Kultberg, aber sei eine „Katastrophe“, sagt Winzer. Für lokale Vereine gebe | |
| es nun keinen Treffpunkt mehr. Der Chef des Kegelvereins, in dem die | |
| Familie von Lenny M. aktiv ist, will nicht sprechen. „Und ich hoffe, dass | |
| auch niemand sonst vom Verein was dazu sagt“, sagt er. Der Präsident des | |
| örtlichen Fußballvereins will auch nicht sprechen. Pfarrerin Astrid | |
| Schlüter sagt, sie kenne die Familien auch nicht. Aber auch sie nennt die | |
| Sache mit dem Brandanschlag „eine Katastrophe“. Eine, die viele im Ort | |
| erschreckt habe. | |
| Es war am 23. Oktober vergangenen Jahres, [2][als der Kultberg in Altdöbern | |
| niederbrannte]. In dem Kulturhaus wurde schon vor hundert Jahren gefeiert, | |
| zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Schützenhaus“. Der Sachschaden: 500.000 | |
| Euro. [3][Dann folgte am 21. Mai die Festnahme von Lenny M.] – im Auftrag | |
| der höchsten Ermittlungsbehörde, der Bundesanwaltschaft. Der Vorwurf: | |
| Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung, der „Letzten | |
| Verteidigungswelle“. Eine Gruppe, auf welche die taz [4][schon Wochen zuvor | |
| hinwies]. Und bei der Lenny M. einer der Anführer gewesen sein soll. Mit 15 | |
| Jahren. | |
| Mit ihm festgenommen wurden sieben weitere Rechtsextreme aus Brandenburg, | |
| Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Hessen – der jüngste 14 | |
| Jahre alt, der älteste 21. Ein zweiter Festgenommener, Jerome M., auch 15 | |
| Jahre alt, kommt aus einem Vorort von Altdöbern. Bei den Razzien fanden | |
| Polizisten Softairwaffen, Schlagringe und einen Gegenstand, zu dem bis | |
| heute eine Sprengstoffuntersuchung läuft. | |
| Erst vor einem guten Jahr hatte sich die „Letzte Verteidigungswelle“ auf | |
| Tiktok und Instagram gegründet, zunächst mit einer Gruppe für | |
| Mecklenburg-Vorpommern, dann mit Ablegern in anderen Bundesländern. Sie war | |
| eine von vielen jungen rechtsextremen Gruppen bundesweit, [5][die ab dem | |
| Frühjahr 2024 plötzlich auf Social-Media-Plattformen auftauchten]. Auf | |
| ihren Fotos posieren Teenager kahlgeschoren in Bomberjacken, mit | |
| Springerstiefeln, weißen Schnürsenkeln und Hitlergrüßen – [6][wie in den | |
| Baseballschlägerjahren der Neunziger]. In Kommentaren wird über „Zecken“, | |
| „respektlose Migranten“ oder CSD hergezogen, immer wieder mit Gewalt | |
| gedroht. | |
| Anders als andere Gruppen beließ es die „Letzte Verteidigungswelle“ nicht | |
| bei Gerede. Erst brannte in Altdöbern der Kultberg nieder. [7][Ein Angriff | |
| auf eine Asylunterkunft im nahegelegenen Senftenberg soll kurz | |
| bevorgestanden haben]. Zwei Kugelbomben hatte sich die Gruppe dafür in | |
| Tschechien besorgt. Im Thüringer Schmölln war ein solcher Angriff schon | |
| erfolgt: Hier filmten sich zwei Gruppenmitglieder dabei, wie sie eine | |
| Feuerwerksbatterie ins Innere einer Unterkunft schossen, offenbar um einen | |
| Brand zu legen, der letztlich nicht ausbrach. Zuvor wurden rechtsextreme | |
| Parolen auf die Wände geschmiert. | |
| Die Festnahmen sind eine Zäsur: Eine Rechtsterrorgruppe im Teenageralter, | |
| das gab es bei der Bundesanwaltschaft bisher nicht. Nun bleiben Fragen. Wie | |
| kann es sein, dass sich Jugendliche derart radikalisieren – innerhalb so | |
| kurzer Zeit? Und wie wird darauf reagiert? | |
| In Altdöbern steht auch acht Monate nach dem Brand noch die Ruine des | |
| abgebrannten Kultbergs. Bauzäune umstellen die Reste des Gebäudes, der | |
| frühere Saal klafft offen, nur noch die Außenmauern stehen, | |
| schwarzverkohlte Balken ragen in den Himmel. Das Betreiberpaar – ein | |
| gebürtiger Altdöberner und eine Thüringerin – zog vor fünf Jahren von | |
| Berlin aus in den Ort und pachtete das Gebäude von der Gemeinde. Eigentlich | |
| hatten sie nur ein Nebengebäude im Blick, einen früheren Jugendclub, dann | |
| bat sie Bürgermeister Winzer, den ganzen Komplex zu betreiben. Jeden Tag | |
| hatten sie Zeit und Geld in den Kultberg investiert, neue Bar, neue Küche, | |
| neue Technik. Am Ende gab es Rockkonzerte, Familienfeiern, einen | |
| Biergarten, Burger und Flammkuchen. | |
| Auch das Paar will zum Brandanschlag nicht viel sagen. Die Tat, das Motiv | |
| und dass all das aus der Nachbarschaft heraus passiert sei, bleibe | |
| „unbegreiflich“, erklären beide nur. Politisch hätten sie sich mit dem | |
| Kultberg gar nicht positioniert, seien stets für alle offen gewesen. Seit | |
| dem Brand ist die Lebensgrundlage der Familie zerstört – und das | |
| Sicherheitsgefühl. Direkt neben dem abgebrannten Kulturhaus steht das | |
| Wohnhaus, in dem sie auch in der Nacht vom 23. Oktober mit ihrer kleinen | |
| Tochter schliefen. Es fehlten nur wenige Minuten, dann hätte das Feuer auch | |
| sie erreicht. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft lautet deshalb auch auf | |
| versuchten Mord. | |
| Die Polizei sprach nach dem Feuer zunächst von einem technischen Defekt. | |
| Den Betreibern war dagegen noch in der Nacht klar, dass das nicht sein | |
| kann: Die ganze Elektronik sei gerade erst erneuert worden. Dann tauchte in | |
| einer Chatgruppe der „Letzten Verteidigungswelle“ ein Video auf: Ein | |
| Vermummter in einem Camouflage-Anzug steht vor einem Fenster an der | |
| Rückseite des Kultbergs, in der Hand eine Flasche. Es lodern Flammen, erst | |
| am Fensterrahmen, dann im Inneren des Gebäudes. „1.24 hab ichs angezündet�… | |
| schrieb ein Gruppenmitglied laut eines Stern-Berichts. Als die | |
| Feuerwehrsirenen ertönten, sei er schon wieder „heme“ gewesen. Den Laden | |
| würden „Zecken“ betreiben, ergänzte ein anderes Mitglied. Die Polizei wei… | |
| davon nur, weil [8][eine Stern-Reporterin undercover in der Gruppe | |
| eingeschleust war] und die Inhalte weitergab. | |
| Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass Lenny M. der | |
| Nachrichtenschreiber war – und der Brandstifter. Und dass auch Jerome M. | |
| vor Ort war. Sie werteten ihre Handys aus, die Chats und Aufnahmen von | |
| Überwachungskameras. Der Kultberg ist nur wenige Hundert Meter von Lenny | |
| M.s Wohnhaus entfernt. In einem weiteren Video vor der Tat soll er andere | |
| Gruppenmitglieder zu ähnlichen Taten aufgerufen haben. | |
| Vor Ort heißt es, Lenny sei völlig unauffällig gewesen, kaum zu sehen. Er | |
| ging in einer Nachbarstadt ins Gymnasium. Noch vor wenigen Jahren, zu | |
| Coronazeiten, beteiligte sich der damals 10-Jährige an einem bundesweiten | |
| Geschichtsprojekt zur Pandemie, sandte dafür eine Collage mit Fotos | |
| abgesperrter Spielplätze und leerer Straßen in Altdöbern ein. | |
| Wer dieser Tage durch die Stadt läuft, begegnet auch da wenigen Menschen. | |
| Viele ziehen sich in ihre Gärten zurück. Vor vielen Jahren gab es mal einen | |
| Jugendtreff, den Club am Weinberg, in dem sich alle getroffen hätten, | |
| berichten Anwohnende. Da hätte man gemerkt, wenn einer abdriftet. So ein | |
| Ort fehlt heute, auch für Lenny M. Stattdessen tauchen online unter seinem | |
| Namen ab Mitte 2023 Social-Media-Profile mit Reichsadlerflagge oder einem | |
| Wehrmachtpanzer auf, ein Profilname lautet „German Patriot“. Offenbar zog | |
| sich der Teenager von seinem Kinderzimmer aus in die Onlineszene der | |
| Jungnazi-Gruppen zurück – bis er dort selbst zum Anführer wurde. | |
| Auch die Eltern von Lenny M. gelten im Ort als unauffällig, als „ganz | |
| normale Leute“. Die Mutter soll in der Verwaltung arbeiten, der Vater beim | |
| Zoll. Und die Familie soll mit ihrem Sohn auch den Kultberg besucht haben, | |
| zu Konzerten oder zum Essen. Dann aber schrieb der Vater plötzlich in einer | |
| Onlinebewertung, der Laden sei „chaotisch, unaufgeräumt und ungepflegt“. | |
| Eine rechtsextreme Szene sei in Altdöbern nicht präsent, anders als | |
| anderswo in der Region, wird vor Ort vielfach betont. „Sicher gibt es | |
| Rechtsextreme, aber die haben sich hier nicht geoutet“, sagt Bürgermeister | |
| Peter Winzer. „Und dass die gewaltbereit sind, war überhaupt nicht klar.“ | |
| Tatsächlich liegen rechtsextreme Aufmärsche im Ort lange zurück, im | |
| Gemeindeparlament ist die AfD nicht vertreten. Pfarrerin Astrid Schlüter | |
| berichtet, es habe ein paar Aufkleber an der Friedhofsmauer gegeben, das | |
| war’s. Auch am Kultberg klebten schon rechtsextreme Sticker. Bei der | |
| jüngsten Bundestagswahl aber lag die AfD in Altdöbern bei 40 Prozent. Und | |
| in der Coronazeit seien einige im Ort nach rechts gerutscht, hätten auf die | |
| Ampel geschimpft, auf die Politik an sich, heißt es von Anwohnenden. | |
| Auf das Gymnasium von Lenny M. ging auch Jerome M., der zweite | |
| Festgenommene aus der Gemeinde. Die Schule ist demokratisch engagiert: | |
| Gerade erst wurde dort der Anne-Frank-Gedenktag begangen und eine | |
| Demokratieausstellung eröffnet. Ältere Schüler*innen veröffentlichten im | |
| Mai ein Buch mit Plädoyers für die Demokratie, berichteten darin, wie sie | |
| von „Faschos“ verfolgt wurden, wie die AfD auf „Hass und Spaltung“ setz… | |
| wie online ein Like bei einem Video reiche, um in die rechte Szene zu | |
| geraten. Aber auch die Schule will sich nicht zu den Festnahmen äußern. | |
| Eine taz-Anfrage leitet sie an das Brandenburger Bildungsministerium | |
| weiter, das kundtut, dass man zu den festgenommenen Schülern nichts sagen | |
| könne, aus Gründen des Persönlichkeitsrechts. Die Schulleitung habe auf die | |
| Festnahmen aber „schnell reagiert“ und „die gesamte Schulgemeinschaft | |
| mitgenommen“. | |
| Man hört am Gymnasium aber auch, dass gar nicht alle etwas von den | |
| Festnahmen mitbekommen hätten. Und dass sich bereits vor einem guten Jahr | |
| etwas verändert habe: Jüngere Schüler*innen seien plötzlich mit | |
| rassistischen Sprüchen aufgefallen, auf den Toiletten wurden Hakenkreuze | |
| geschmiert, bei einer Juniorwahl habe die Neonazi-Partei Der III. Weg vorne | |
| gelegen. Die Schule versuche das aufzuarbeiten, auch deshalb seien so | |
| offensiv Demokratieprojekte initiiert worden. Und diese Reaktion, so heißt | |
| es, unterscheide dieses Gymnasium durchaus von anderen Schulen. | |
| [9][Bereits vor zwei Jahren veröffentlichten Lehrer*innen einer Schule | |
| im nahegelegenen Burg einen Brandbrief], dass sich Rechtsextremismus in den | |
| Klassenzimmern breitmache. Wer widerspreche, müsse um seine Sicherheit | |
| fürchten. Auch aus anderen Schulen bundesweit hört man solche Warnungen. In | |
| dieser Zeit entstehen online vermehrt rechtsextreme Jugendgruppen. | |
| Die „Letzte Verteidigungswelle“, die Gruppe von Lenny M., fällt zuerst in | |
| Wismar auf. Auch dort ließ die Bundesanwaltschaft nun zwei Jugendliche | |
| festnehmen, die sie ebenfalls als Anführer sieht: den 18-Jährigen Jason R., | |
| der zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet haben soll, und Benjamin H., ein | |
| 16-jähriger Schüler aus dem nahen Neubukow. Auch ihre Radikalisierung | |
| verlief online, aber nicht nur. Denn Wismar hat durchaus eine präsente | |
| rechtsextreme Szene. Schon die NPD war hier aktiv, zuletzt Neonazigruppen | |
| wie die „Division Schwerin“, „Mecklenburg Verteidigen“, „Neue Stärke… | |
| „Aryan Circle“. [10][Der als „Nazidorf“ bekannt gewordene Ort Jamel ist | |
| nicht weit]. Die AfD kam in Wismar zuletzt auf knapp 30 Prozent der | |
| Stimmen. Aber es gibt auch einen wie Bürgermeister Thomas Beyer, ein | |
| Sozialdemokrat, dessen Partei in der Stadt lange vorne lag und der das | |
| Problem offen anspricht. | |
| Es war bereits am 14. September vergangenen Jahres, als Jason R., | |
| kahlgeschoren, in grüner Bomberjacke, und Benjamin H., gescheitelt, | |
| aufgepumpte Arme, mit 200 anderen Rechtsextremen in Wismar auf der Straße | |
| standen. Es wehten schwarz-weiß-rote Fahnen, Parolen wurden gegrölt. Die | |
| Rechtsextremen waren angerückt, um den ersten CSD in Wismar zu stören. Am | |
| Ende aber waren die anderen mehr: Gut 2.100 Menschen versammelten sich zum | |
| CSD auf dem Wismarer Marktplatz, auch Bürgermeister Beyer kam. Ein | |
| wahnsinniger Erfolg sei das gewesen, sagen zwei der Organisator*innen, Luis | |
| Dannewitz und Rachel Hanf, zwei queere Musiker*innen. Gerade angesichts der | |
| rechtsextremen Bedrohung. | |
| Schon Wochen vor der Parade hatte die rechtsextreme Szene online gegen den | |
| CSD mobilisiert. Dannewitz und Hanf bekamen Drohnachrichten: Am Demotag | |
| werde „abgerechnet“, Wismar werde brennen. Am Tag selbst hielt die Polizei | |
| die Neonazis vom CSD fern, aber es kam zu Auseinandersetzungen mit | |
| anreisenden Antifaschist*innen. Die Polizei leitete mehrere | |
| Ermittlungsverfahren ein. Eines richtete sich gegen den Neubukower Benjamin | |
| H.: Er hatte ein verbotenes Butterflymesser und einen Schlagring dabei. | |
| Der Auftritt von Benjamin H. und Jason R. beim CSD in Wismar war nicht ihr | |
| erster – und auch nicht ihr letzter. Als die beiden im Mai von der | |
| Bundesanwaltschaft festgenommen wurden, zeigte sich Bürgermeister Beyer in | |
| einem Video „ziemlich erschüttert“. Andererseits, sagte er, sei er auch | |
| nicht überrascht. „Denn manches war auch bereits sichtbar.“ Die | |
| Stadtgesellschaft müsse nun „sehr aufmerksam“ sein und extremistische | |
| Vorfälle der Polizei melden, appellierte Beyer. | |
| Auch für CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf war vieles sichtbar. | |
| Rechtsextreme seien im Stadtbild präsent, es gebe eine Vielzahl an Gruppen | |
| in der Region, sagt die 19-jährige Wismarerin. Lange Zeit verfolgte sie | |
| auch deren Onlinekanäle mit. „Die sind dort alle stark vernetzt. Und da | |
| wird unverhohlen kommuniziert. Man konnte die Radikalisierung live | |
| miterleben.“ | |
| Tatsächlich waren schon im Mai 2023 Jugendliche durch Wismar gezogen, | |
| warfen mit Flaschen, beschädigten die Ukrainefahne am Rathaus. | |
| Bürgermeister Beyer verurteilte in einem Video die Randale, appellierte an | |
| die Wismarer*innen, die Polizei zu rufen, wenn sie so etwas sehen. | |
| Anwohnende berichteten aber auch danach von nächtlichen „Sieg Heil“-Rufen. | |
| In der Stadt tauchten Aufkleber wie „Deutsche Jugend voran“ oder „Raus mit | |
| die Viecher“ auf. Die rechtsextremen Jugendlichen trafen sich im | |
| Lindengarten, einem Park unweit des Bahnhofs. Die Stadt beteuert, | |
| Sicherheitsdienste dorthin geschickt und den Fachdienst Jugend | |
| eingeschaltet zu haben. Aber die Rechtsextremen machten weiter. 99 rechte | |
| Straftaten zählte die Polizei 2024 in Wismar – 15 mehr als im Vorjahr. In | |
| diesem Jahr rechne man mit ähnlichen Zahlen, so ein Polizeisprecher. | |
| Ende 2023 tauchten dann auch online Instagram-Profile mit Fotos aus Wismar | |
| von Jugendlichen in Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln auf, | |
| Pyrofackeln schwingend, unterlegt mit Musik der Böhsen Onkelz. Spätere | |
| Bilder zeigen Kahlgeschorene in Bomberjacken in einem Park, die Hände zum | |
| Hitlergruß erhoben. Dann erscheint Ende 2023 ein Gruppenname: „die Letzte | |
| Verteidigungswelle“. Jugendliche posieren auch dort mit Hitlergrüßen, Logos | |
| zieren Totenköpfe oder SS-Symbole. Man sei „die letzte Welle, die | |
| Deutschland befreit“, wird getönt. „Sieg oder Tod.“ | |
| Zwei dieser Instagramprofile gehören Jason R. und Benjamin H. Letzterer | |
| verschickt intern nach taz-Informationen Nachrichten mit „Sieg Heil“-Grüß… | |
| oder einen Adolf Hitler, der ein Herz mit der Hand formt. Jason R. zeigt | |
| auf seinen Fotos auch Waffen, ein Hitlerbild oder eine Hakenkreuzfahne. | |
| Sein Zugang zur Szene erfolgte womöglich familiär: Online posiert auch ein | |
| älterer Nachnamensvetter aus Wismar in rechtsextremen Shirts, mit | |
| einschlägigen Tattoos. Fotos zeigen Jason R. auch mit Anführern des „Aryan | |
| Circle“, die deutlich älter sind. | |
| Und es bleibt auch in Wismar nicht bei Worten. Im August vergangenen Jahres | |
| wird beim örtlichen Büro des Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensts die | |
| Schaufensterscheibe eingeworfen, in der Plakate zur Interkulturellen Woche | |
| hängen. Ermittler finden Fingerabdrücke am Tatort: Sie gehören zu Jason R. | |
| Der 18-Jährige soll im Januar auch zu einer Gruppe von Jugendlichen gehört | |
| haben, die in den Tierpark Wismar einbrach und mehrere Kaninchen und | |
| Meerschweinchen stahl, die später teils tot wiedergefunden wurden. Einer | |
| Ziege wurde mit einem Messer in den Bauch gerammt, das Tier in einen Bach | |
| geworfen, wo es starb. Später wird Jason R. von der Polizei mit einem | |
| verbotenen Messer und Schlagring erwischt. Im März ist der 18-Jährige auch | |
| bei einem Neonazi-Aufmarsch in Schwerin dabei, hier bereits tonangebend mit | |
| Megafon. Wenige Wochen später erfolgt dann seine Festnahme durch die | |
| Bundesanwaltschaft. | |
| „Die Jugendlichen konnten an die Szenestrukturen hier andocken“, sagt | |
| CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf. „Und sie haben sich immer wieder | |
| gegenseitig befeuert. Lange, ohne dass ihnen wirklich etwas drohte.“ | |
| Bürgermeister Beyer sei zwar engagiert und positioniere sich offensiv gegen | |
| die Rechtsextremen, so Hanf. „Aber das allein reicht nicht. Da muss auch | |
| die Stadtgesellschaft mitziehen. Und es fehlt an Präventionsangeboten und | |
| Aufklärung, wie stark der Rechtsextremismus hier wirklich ist.“ | |
| Die Stadt Wismar teilt mit, dass es nach den Festnahmen der | |
| Bundesanwaltschaft keine rechtsextremen Vorkommnisse mehr gegeben habe. | |
| Rachel Hanf sieht die Neonaziszene dagegen wenig beeindruckt. „Sie sind | |
| natürlich weiter da und auch online präsent.“ Erst zuletzt am Hafenfest | |
| seien auch Rechtsextreme wieder aufgetaucht. | |
| Den nächsten CSD will Rachel Hanf dieses Jahr nun nicht in Wismar, sondern | |
| am 13. September im benachbarten Grevesmühlen veranstalten, einer | |
| rechtsextremen Hochburg – es wird erneut eine Premiere. „Gerade da braucht | |
| es ein Bekenntnis für Vielfalt“, sagt Hanf. Aber die rechtsextreme Szene | |
| mobilisiert bereits wieder. Es habe nur wenige Stunden gedauert, nachdem | |
| ihr Plan bekannt wurde, da habe es schon Onlinekommentare gegen den CSD | |
| gegeben, erzählt Hanf. „Aber wir ziehen das durch.“ | |
| In Altdöbern blieb die Gemeindespitze still nach dem Brand im Kultberg – | |
| und auch nach den Festnahmen der Bundesanwaltschaft. Es sind die Betreiber | |
| schließlich selbst, die zu einer „Andacht“ einladen, um an das | |
| niedergebrannte Kulturhaus zu erinnern, das im Ort eine jahrzehntelange | |
| Tradition hatte. Die Gemeinde ruft schließlich zu Spenden auf – aber nicht | |
| für die Familie, sondern für den „möglichen Wiederaufbau“ des Hauses. Das | |
| Betreiberpaar startet daraufhin einen eigenen Spendenaufruf. | |
| Brandenburgs neuer Innenminister René Wilke, einst ein Linker, nun | |
| parteilos und erst seit drei Wochen im Amt, [11][sagte kürzlich der taz], | |
| es gebe zwei Wege, mit rechtsextremen Taten umzugehen: Der erste sei, zu | |
| schweigen und schnell zum nächsten Thema überzugehen, um Aufmerksamkeit zu | |
| vermeiden. Der zweite sei: Das Problem offensiv ansprechen und die | |
| Bevölkerung sensibilisieren. Wilke plädiert für den zweiten Weg. In | |
| Altdöbern scheinen sie sich anders entschieden zu haben. | |
| Noch am Tag nach dem Brandanschlag auf den Kultberg verkündete die | |
| Gemeinde, dass das Haus wiederaufgebaut werden soll. In eine Taskforce für | |
| den Wiederaufbau wurde auch die Betreiberfamilie einbezogen. Dann aber | |
| erfolgt ein Kurswechsel: Im März kündigt die Gemeinde den Vertrag mit der | |
| Familie, wie Bürgermeister Winzer bestätigt. Es gebe ja nun keine | |
| Pachtsache mehr, sagt er. Am Mittwochabend beschloss die Gemeindevertretung | |
| den Abriss des kompletten Komplexes – ohne vorher nochmal mit den | |
| Betreibern gesprochen zu haben. Langfristig wolle man eine neue | |
| Kulturstätte aufbauen, sagt Winzer. Aber das werde angesichts leerer Kassen | |
| dauern. | |
| Das Betreiberpaar fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Zumindest die Kneipe | |
| neben dem niedergebrannten Saal und der Biergarten wären doch noch zu | |
| retten gewesen, sagen sie. Und nur diese hatten sie formal gepachtet, diese | |
| Pachtsache sei also gar nicht zerstört, die Kündigung demnach rechtswidrig. | |
| Das Paar hat dieser bereits widersprochen. Kneipe und Biergarten zu | |
| erhalten, sei lange eine Hoffnung gewesen, auch als Basis für einen | |
| Neuanfang vor Ort, sagen die beiden. Dafür hätten sie sogar ein | |
| mehrseitiges Konzept vorgelegt. Man habe immer dafür gekämpft, das | |
| Kulturhaus weiterzubetreiben, auch als es schon zu Coronazeiten sehr | |
| schwierig war. Von der Gemeindespitze wird dagegen bereits kolportiert, | |
| dass die Familie Altdöbern verlassen wolle. Was diese nach eigener Auskunft | |
| nie gesagt hat. Es sei schade, dass inzwischen „mehr über als mit uns | |
| geredet wird“, sagt das Paar. Es gehe auch um ihre Rechte. Ob sie nun in | |
| Altdöbern bleiben könnten, hänge von den Entwicklungen der nächsten Wochen | |
| ab. | |
| Fragt man Bürgermeister Winzer nach politischen Konsequenzen aus dem | |
| Brandanschlag und Terrorvorwürfen, wird er einsilbig. „Ist doch logisch, | |
| dass hier alle die Tat verurteilen.“ Was solle man denn tun? „Man kann in | |
| die Köpfe der Leute nicht reingucken. Und wir wollen auch kein Öl ins Feuer | |
| gießen.“ Demokratieprojekte? Daran würden Rechtsextreme nicht teilnehmen, | |
| glaubt Winzer. Ein Jugendklub wieder vor Ort? Wäre sicher sinnvoll, aber | |
| dafür fehle schon länger das Geld. „Das ist ohnehin das Grundproblem“, sa… | |
| Winzer. | |
| Brandenburgs Innenminister Wilke plädierte zuletzt für „Entschiedenheit“ | |
| von Polizei und Justiz gegen die Jungnazis, vor allem aber für mehr | |
| Prävention und Bildungsarbeit. Man müsse an die Schulen gehen, dort über | |
| Extremismus und die sozialen Medien aufklären. Es dürfe nicht hingenommen | |
| werden, dass die Jugendlichen sozialen Medien „schutzlos ausgeliefert“ | |
| werden. Auch das Brandenburger Bildungsministerium sieht mehrere Faktoren | |
| für eine Radikalisierung, ein wesentlicher seien die sozialen Medien. | |
| Christian Pegel, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ein SPD-Mann, | |
| nennt die Entwicklung ebenso „erschreckend“ und betont, „wie wichtig | |
| frühzeitige Aufklärung und klare Grenzen sind“. | |
| Lenny M. und die anderen sieben Jungterrorverdächtigen sitzen derweil | |
| weiter in Haft. Was genau am Ende zu ihrer Radikalisierung führte, wird | |
| womöglich nie ganz aufgeklärt: Wegen des Alters der Angeklagten werden fast | |
| alle Prozesse nicht öffentlich stattfinden. | |
| Und so bemüht sich die Schule von Lenny M. und Jerome M. weiter, den | |
| Rechtsextremismus zurückzudrängen. Zwei Wochen stand die | |
| Demokratie-Ausstellung in den Gängen, in Kürze kommt der Verfassungsschutz | |
| zu einer Präventionsveranstaltung in die Aula. In Neubukow wird die Schule | |
| von Benjamin H. von einem Demokratieverein beraten. | |
| Und in Altdöbern geht der Alltag weiter. An der Grundschule wird bald das | |
| Talentefest gefeiert, in den Vororten Heimatfeste. Und am Ortsrand soll nun | |
| „zeitnah“, so Bürgermeister Winzer, die Brandruine des Kultbergs abgetragen | |
| werden. | |
| 28 Jun 2025 | |
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