# taz.de -- Roman über Ukraine-Krieg: Was nützt deine Intelligenz an der Fron… | |
> Der Schriftsteller Szczepan Twardoch schickt einen Stadtmenschen in den | |
> Krieg. Der Roman „Die Nulllinie“ beschreibt die Verrohung im Kampf. | |
Bild: Nur Glück kann dich schützen: Eine ukrainische Haubitze feuert auf russ… | |
Es ist eine hässliche Welt nahe der Nulllinie. Die Nulllinie, das ist die | |
hypothetische Grenzziehung zwischen den russischen und den ukrainischen | |
Truppen, und der Soldat mit dem Pseudonym Koń, der auf der Seite Letzterer | |
kämpft, befindet sich mittendrin in der archaischen Sphäre an der Front. | |
Die Verletzten und Toten werden hier zu Zahlen – „Trjochsoty, also | |
Dreihunderter, bedeutet verwundet, Dwuchsoty, Zweihunderter – tot“ –, die | |
Soldaten heißen Ratte, Schakal oder Leopard, die Sprache ist dreckig, die | |
Feinde heißen „Russacken“, „Pädorussen“ oder „gefickte Moskowiter�… | |
Szczepan Twardochs Roman „Die Nulllinie“ spielt in der kriegerischen | |
Gegenwart in der Region Cherson, „Roman aus dem Krieg“ lautet der | |
Untertitel des Buchs. Sein Protagonist Koń (Ukrainisch Кінь = Pferd) ist | |
ein Akademiker, er stammt aus einer polnisch-ukrainischen Familie und hat | |
in Warschau gelebt, ehe er zunächst als Freiwilliger in den Krieg zieht. | |
An der Front trifft er Menschen, auf die er anfangs herabschaut: Ratte, der | |
keine Ausbildung hat, Leopard, ein Alkoholiker aus der Nähe von Charkiw. | |
Doch Koń lernt schnell, dass im Krieg all das, was vorher war, nicht mehr | |
gilt, dass jeder gleich wenig zählt im Angesicht des Artilleriefeuers und | |
der Bombeneinschläge. | |
## Krieg ist ein häufiges Motiv bei Szczepan Twardoch | |
Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat sich in seinen Romanen | |
bereits ausführlich mit den Kriegen und den polnischen Traumata des 20. | |
Jahrhunderts befasst, er hat über den Überfall Hitler-Deutschlands auf | |
Polen („Morphin“, 2014), die Zeit in Warschau unmittelbar zuvor [1][(„Der | |
Boxer“, 2018)] und über den Umbruch nach Ende des Ersten Weltkriegs | |
(„Demut“, 2020) geschrieben. | |
Auf dem deutschen Markt ist der 45-Jährige sehr erfolgreich, er wurde | |
vielfach ausgezeichnet, zuletzt im April mit dem Usedomer Literaturpreis | |
2025. Für seinen neuen Roman ist er mehrfach an die Front gereist und hat | |
dort recherchiert, viel Zeit in Schützengräben verbracht, wie er sagt. | |
Einerseits bildet „Die Nulllinie“ ab, wie das Dasein – von Leben mag man | |
kaum sprechen – im Krieg ist. Der Autor lässt den gebildeten Koń auf | |
Menschen aus der sogenannten Unterschicht treffen; hier an der Front kehrt | |
sich das Verhältnis um, hier sind sie die Klugen, die ihm das System Krieg | |
erklären. Es ist eine regressive Männerwelt, die Twardoch abbildet, an | |
einer Stelle heißt es über die Soldaten: „[…] am Ende suchten sie dort [im | |
Krieg] wohl auch nach ihrer Männlichkeit, die im beschaulichen Leben ihrer | |
Heimatländer nicht hatte gedeihen können.“ | |
## Mit machistischer Sprache | |
Der Roman ist recht voll von Ausdrücken wie „Fotze“ und „ficken“, die | |
Sprache ist machistisch. Eine gewisse Faszination für das Derbe scheint | |
auch beim Autor mitzuschwingen, reproduziert er den Soldatenslang, | |
Vulgarismen und Rassismen doch mehr als dies nötig wäre. Es irritiert auch, | |
dass Frauen im Krieg hier kaum vorkommen, wo man weiß, wie viele | |
Soldatinnen es auf ukrainischer Seite gibt (auch an der Front) und welche | |
wichtige Rolle sie für die Infrastruktur spielen. | |
Andererseits kann Twardoch natürlich auch nur literarisch verarbeiten, was | |
er erlebt hat. Sein Protagonist Koń muss sich in dieser Welt zurechtfinden, | |
die sein Wertesystem umkehrt, ob er will oder nicht: „Du trugst deinen | |
Rationalismus vor dir her wie Schild und Schwert, das Banner deiner | |
scharfsinnigen Intelligenz, aber was taugte das noch im Krieg, einen | |
Scheißdreck, wenn weder Vernunft noch Intelligenz noch Mut noch | |
Rechtschaffenheit noch Gemeinheit dich vor dem tödlichen Hagel der | |
Kassettenbomben schützen können, nur Glück allein, nichts sonst“, denkt er. | |
Die Du-Form zieht sich durch den Roman, der Protagonist ist im ständigen | |
inneren Zwiegespräch. Wie viele Themen Twardoch fast schon beiläufig | |
mitverhandelt, ist bemerkenswert. Er erzählt von den oftmals komplizierten | |
familiär-ethnischen Hintergründen vieler Osteuropäer:innen anhand der | |
Familie von Koń. | |
Er beschreibt, wie ukrainische Soldaten (hier wirklich meist männlich) mit | |
rechtsextremer Symbolik operieren, nur um den Feind zu „provozieren“ – und | |
sich so selbst schaden. Er findet treffende Worte über die völlig | |
gegensätzliche Entwicklung der russischen und ukrainischen Gesellschaft | |
nach 1991 („Ohne die unrussischste Eigenschaft der Freiwilligen vom Maidan, | |
nämlich ihre anarchische Freiheitsliebe, gäbe es heute keine Ukraine“). | |
## Der Krieg als Fundraiser | |
Er nennt den Krieg einen „Fundraising-Krieg“, spielt zum Beispiel auf die | |
vielen Drohnen an, die spendenfinanziert sind. Er referiert auf einen | |
„Ur-Kriegstext“, Homers „Ilias“. Und landet schließlich mitten im Jetz… | |
über Gebietsabtritte verhandelt wird. | |
In Teilen scheint der Ton etwas zu effekthascherisch, die Verhärtung an der | |
Front wird durch die verrohte Sprache verstärkt, da hätte es vielleicht | |
literarische Mittel gegeben, Kontraste zu setzen; eine andere Stimme, einen | |
anderen Ton. Über das Fortexistieren im Krieg erzählt „Die Nulllinie“ | |
zweifelsohne sehr viel. | |
Twardoch bringt einem das Auseinanderstreben zweier unvereinbarer Welten | |
nahe, der zivilen und der militärischen, indem er schildert, wie ein | |
gebildeter Stadtmensch in den Krieg zieht und zu Koń, dem Kämpfer wird. Und | |
wie furchtbar dort, nahe der Nulllinie, alles ist. Furchtbar banal und | |
furchtbar brutal. | |
5 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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