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# taz.de -- Gewalt und psychische Krankheiten: Risikomanagement ersetzt Hilfe
> Nach Angriffen von psychisch Kranken reden Politiker:innen über
> Zusammenarbeit von Gesundheits- und Sicherheitsbehörden. Doch was heißt
> das?
Bild: Polizisten sichern Spuren nach dem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof
Bremen taz | Am Dienstag hat vor dem Landgericht Bremen der Prozess gegen
eine 42-Jährige begonnen, die an Heiligabend 2024 in der Bremer Psychiatrie
ihre 20 Jahre ältere Zimmernachbarin getötet haben soll. Laut Anklage
drückte die Frau ihrer Mitpatientin zunächst ein Kissen auf das Gesicht und
würgte sie, bis sie starb. Die Schuldfähigkeit der Angeklagten soll bei der
Tat unter anderem aufgrund einer akuten psychotischen Störung erheblich
vermindert gewesen sein. Daher befindet sie sich bereits jetzt in
einstweiliger Unterbringung im Maßregelvollzug. Das ist die Haftanstalt für
psychisch Kranke.
Die Frage, [1][wie Gewalttaten psychisch Kranker] verhindert werden können,
wird seit einer Reihe von Angriffen im vergangen Jahr diskutiert. Zuletzt
hatte vor drei Wochen eine 39-jährige Frau am Hamburger Hauptbahnhof
Menschen mit einem Messer attackiert. 18 wurden dabei verletzt, vier von
ihnen lebensgefährlich. Die Tatverdächtige war am Tag zuvor aus einer
psychiatrischen Klinik entlassen worden, wo sie laut Medienberichten wegen
Wahnvorstellungen behandelt wurde.
Mitte Mai befassten sich sowohl die Gesundheits- als auch die
Innenminister:innen der Bundesländer auf ihren jeweiligen Konferenzen
mit dem Thema. [2][In einer Presseerklärung der
Gesundheitsminister:innen heißt es], es brauche einen
„ganzheitlichen Ansatz zur Verhinderung von Gewalttaten durch psychisch
erkrankte Personen“.
Hamburgs Gesundheitssenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) forderte zudem
eine bessere „Zusammenarbeit von Gesundheits- und Sicherheitsbehörden“.
Dazu gehöre ein „rechtssicherer, ressortübergreifender, auch über
Ländergrenzen hinweg praktizierter Informationsaustausch“.
Bereits im Januar nach der Tötung eines Kleinkindes und eines Erwachsenen
in Aschaffenburg durch einen Mann hatte [3][die Innenministerkonferenz
gefordert] zu prüfen, wie den Sicherheitsbehörden Zugang zu
Patient:innendaten verschafft werden könnte. Zudem sollte geprüft
werden, „wie die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten insbesondere nach
den Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKGen) der Länder angepasst bzw.
erweitert werden können“.
Diese Forderung erneuerten und [4][verschärften die
Innenminister:innen] jetzt. Sie wollen eine Zwangsbehandlung mit
Medikamenten auch für Menschen, die nicht aufgrund von Eigen- oder
Fremdgefährdung nach einem Gerichtsbeschluss in der Psychiatrie
untergebracht sind.
Was bedeutet das alles und was würde sich konkret verbessern? Wie sollen
diese Ideen mit der ärztlichen Schweigepflicht sowie der
UN-Behindertenrechtskonvention, die Zwangsbehandlungen nur in
Ausnahmefällen erlaubt, in Einklang gebracht werden? Steckt mehr hinter
diesen Ankündigungen als ein Versuch, die öffentliche Aufregung zu
beschwichtigen? Das ist unklar. Zur Einordnung liefert die taz ein paar
Fakten.
## Sind psychisch Kranke häufiger gewalttätig als Gesunde?
Nein. Dazu eine Begriffsklärung: [5][Laut Robert-Koch-Institut] erhielten
40,4 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland im Jahr 2023 die Diagnose
einer psychischen Störung. Dazu zählen neben Depressionen auch
Schlafstörungen und Demenzerkrankungen.
Eine erhöhte Gewalttätigkeit gegen andere ist nur für Menschen
nachgewiesen, die an Psychosen leiden. Dies gilt für Männer sehr viel
häufiger als für Frauen, wie eine [6][Meta-Analyse von 24 Studien] zeigte,
die sehr unterschiedliche Häufigkeiten angeben. Und: Während andere
psychische Erkrankungen in Deutschland zunehmend diagnostiziert wurden,
gingen die Diagnosen bei wahnhaften Störungen zurück: Z[7][wischen 2012 und
2022 sanken sie von 1,1 auf 0,9 Prozent].
Zudem übt der überwiegende Teil der psychotisch Erkrankten keine Gewalt
gegen andere aus – obwohl zu ihrem Krankheitsbild das [8][Gefühl starker
Bedrohung] gehört. Ein Anstieg von Gewalttaten psychisch Kranker im
öffentlichen Raum oder privaten Umfeld lässt sich derzeit nicht belegen.
Dass bundesweit die Zahl derjenigen angestiegen ist, die im Maßregelvollzug
untergebracht werden, also Straftaten begangen haben ohne schuldfähig zu
sein, kann auch andere Ursachen haben.
## Werden psychisch Kranke häufiger Opfer von Gewalt?
Ja. Das Risiko für körperliche und/oder [9][sexuelle Gewalterfahrungen] ist
für Personen mit Psychiatrieerfahrung laut einer Übersichtsarbeit aus dem
Jahr 2014 um den Faktor 1,4 bis 11,8 gegenüber der Normalbevölkerung
erhöht, [10][schreiben Forscher:innen der Universität Ulm] 2018 in einem
Beitrag. Frauen würden dabei häufiger viktimisiert als Männer. Für sie ist
auch ein erhöhtes Risiko, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, belegt.
Selbsthilfeverbände wie der [11][Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen
(BPE)] weisen darauf hin, dass die stationäre Behandlung, teilweise unter
Zwang, für alle Beteiligten gewaltfördernd wirkt. Man könnte auch
argumentieren, dass Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung
gewalttätig werden, sowohl Täter:innen als auch Opfer sind, weil sie
sich selbst schädigen.
## Welche Folgen hat die Art, wie derzeit über den Zusammenhang zwischen
Gewalt und psychischer Erkrankung diskutiert wird?
Egal, wen man derzeit fragt, die Meinung ist einhellig: Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung – vor allem die, die Psychosen kennen – sind sehr
verunsichert. Auf einem Fachtag Anfang Juni zu 50 Jahren
Psychiatrie-Enquete des deutschen Bundestags verabschiedeten die
Teilnehmenden eine Resolution, die vor Stigmatisierung und deren Folgen
warnt. Und: „Es schreckt gerade die von Hilfe ab, die sie am dringendsten
brauchen.“ Das sagte auch Thomas Bock, Gründer und ehemaliger Leiter der
Psychosenambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Ende Mai in
einem [12][Interview mit der taz].
Studien zeigen, dass die [13][Stigmatisierungerfahrungen von Menschen], die
an psychotischen Erkrankungen wie Schizophrenie leiden, zugenommen haben –
während das Verständnis für andere psychische Erkrankungen gewachsen ist.
## Hätten sich die Taten in Bremen und Hamburg verhindern lassen?
Das ist nicht abschließend geklärt und wird es möglicherweise auch nicht,
weil sich Gewalttaten nicht voraussagen lassen. Der Fall aus Bremen zeigt,
dass auch ein „Wegsperren“ keinen zuverlässigen Schutz bietet. Der
mutmaßlichen Täterin war nach einem Bericht des Weser Kuriers angeboten
worden, trotz fehlenden Behandlungsgrunds in der Klinik zu bleiben – weil
sie obdachlos war.
Das dürfen Kliniken eigentlich nicht, weil Krankenkassen keine
Wohnunterbringung finanzieren. Umgekehrt dürfen Kliniken Menschen auch
nicht unbegrenzt gegen ihren Willen festhalten, weswegen die Frau in
Hamburg trotz ihrer wohl schweren Erkrankung wieder entlassen worden war –
ebenfalls in die Obdachlosigkeit.
Das liegt daran, dass der Zwangsbehandlung von Menschen in Psychiatrien in
Deutschland enge Grenzen gesetzt sind, wobei die Regelungen der
Bundesländer voneinander abweichen. Hinzu kommen Probleme bei der
Umsetzung, weil die Gerichte und Staatsanwaltschaften in vielen Regionen so
überlastet sind, dass sie nicht zeitnah über Anträge entscheiden können.
## Lässt sich präventiv nicht mehr machen?
Doch, mit Sicherheit. Eine Möglichkeit sind spezialisierte Unterkünfte für
obdachlose Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in
normalen Notunterkünften aufgenommen werden können, wie es sie in Bremen
und Köln gibt. Die nach dem Kölner Vorbild 2018 eröffnete Einrichtung in
Bremen hält 27 Plätze in Einzelzimmern vor mit durchgehender
sozialpädagogischer Betreuung vor Ort. Der Frauenanteil ist laut
Sozialbehörde mit zwei Dritteln überdurchschnittlich hoch. Die
durchschnittliche Verweildauer betrage 2,5 Jahre.
Träger ist die Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission. Deren Leiter Axel
Brase-Wentzell sagt, er sei froh, den Menschen diesen Ort anbieten zu
können, an dem sie die Tür hinter sich zu machen und zur Ruhe kommen
können. Es bleibe aber eine Notlösung für Menschen, die bereits durchs
Raster der Unterstützungssysteme gefallen seien – weil sie aufgrund ihrer
Erkrankung mit den Anforderungen des Hilfesystems überfordert sind. Deshalb
müsse Prävention noch davor ansetzen. Obdachlosigkeit an sich fördere
psychische Erkrankung.
„Wir brauchen Wohnraum, Wohnraum, Wohnraum“, sagt Axel Brase-Wentzell. Ohne
diesen sei auch die ambulante Behandlung zu Hause, wie sie beispielsweise
in Bremen voran getrieben wird, schwierig. „Wie wollen wir Home Treatment
umsetzen, wenn kein Home vorhanden ist?“
Die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) hat zudem
angekündigt, dass die Versorgung von psychisch Kranken mit Fluchterfahrung
verbessert werden soll. Vier der fünf Männer, die in diesem und im
vergangenen Jahr ein Attentat verübt haben, waren aus Bürgerkriegsländern
geflüchtet.
## Welche Pläne haben die Bundesländer?
Unabhängig von den Gewalttaten arbeiten Kliniken und Behörden in vielen
Bundesländern an einer besseren und koordinierteren Versorgung psychisch
Kranker mit mehr aufsuchender Hilfe. Seit den Gewaltvorfällen aus diesem
und dem letzten Jahr reden zudem sowohl die Innen- als auch die
Gesundheitsminister:innen viel davon, den Informationsaustausch
zwischen Sicherheitsbehörden und dem Hilfesystem zu verbessern.
So hatte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) im Januar für Bremen ein
„Frühwarnsystem“ versprochen. Die Innenministerkonferenz unter seinem
Vorsitz verlangte „gefährdungsrelevante Erkenntnisse zu psychisch
Erkrankten“. Was das konkret bedeutet, ist nach wie vor unklar, da
einerseits Patient:innendaten in Deutschland besonders geschützt
werden müssen und andererseits die (Be-)Handlungsoptionen begrenzt sind.
Das wird auch eine Herausforderung für das Hamburger Vorhaben. Auf
Nachfrage der taz lässt Hamburgs Gesundheitssenatorin mitteilen, eine
Fachstelle solle „frühzeitig Risikopatientinnen und -patienten
identifizieren und entsprechende Hilfsangebote koordinieren, um schwere
Krankheitsverläufe und damit verbundene Straftaten zu verhindern“. Schon in
den kommenden Wochen solle dieses „Konzept zum Risikomanagement“
vorgestellt werden.
21 Jun 2025
## LINKS
[1] /Debatte-nach-Angriffen/!6088981
[2] https://www.tmasgff.de/medienservice/artikel/gesundheitsministerkonferenz-2…
[3] https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2025_01…
[4] https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2025-06…
[5] https://www.gbe.rki.de/DE/Themen/Gesundheitszustand/PsychischeStoerungen/Ps…
[6] https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/2787197
[7] https://www.aerzteblatt.de/archiv/entwicklung-der-diagnosepraevalenz-psychi…
[8] /Psychologe-ueber-Hamburger-Messerangriff/!6090880
[9] /Sexualisierte-Gewalt-in-der-Psychiatrie/!6085227
[10] https://www.thieme-connect.de/DOI/DOI?10.1055%2Fs-0043-119484
[11] https://bpe-online.de/gegen-zwangsbehandlung/
[12] /Psychologe-ueber-Hamburger-Messerangriff/!6090880
[13] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9972325/
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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