# taz.de -- „Lash“ an der Deutschen Oper Berlin: Der Augapfel verrottet zue… | |
> Frauen, Körper, Tod: „Lash – Acts of Love“ von der Komponistin Rebecca | |
> Saunders und dem Künstler Ed Atkins ist ein multimediales | |
> Gesamtkunstwerk. | |
Bild: Gigantische Gesichtspartien in „Lash“, Premiere am 25. Juni 2025 in d… | |
Man könnte schreiben: Die erste Oper der Komponistin Rebecca Saunders | |
erlebte an der Deutschen Oper Berlin ihre fulminante Uraufführung. Doch | |
diese Produktion als „Oper“ zu bezeichnen, scheint gar nicht so angemessen; | |
„Lash“ ist ein Gesamtkunstwerk in einem entschieden weiteren Sinne. | |
Auf Basis eines Textes [1][des britischen Multikünstlers Ed Atkins] hat | |
Saunders ein musikalisches Werk geschaffen, das durch die Regie des | |
Zweier-Kollektivs Dead Centre, die Videoarbeit Sébastien Dupoeys, die | |
Ausstattung Nina Wetzels weitere sinnliche Dimensionen erhält, in denen | |
sich Musik und Text im direkten Erleben brechen, vervielfältigen, spiegeln. | |
Und es ist wohl genau dieser Vorgang, dieses Herunterbrechen auf | |
Bedeutungs- und Identitätsfragmente, der „Lash“ im Kern ausmacht – falls | |
sich in diesem Zusammenhang überhaupt von einem solchen sprechen lässt. | |
Eine Schauspielerin (Katja Kolm) und drei Sängerinnen (Anna Prohaska, Nora | |
Frenkel, Sarah Maria Sun), alles Virtuosinnen ihrer jeweiligen Zunft, | |
stehen die meiste Zeit gemeinsam auf der Bühne, in verschiedenen | |
Konstellationen. In vierfacher Gestalt sind sie eine einzige Frau, die zu | |
Beginn des Stückes in einem Bett..... ja, was tut? So gern dieser Satz mit | |
„erwacht“ fortgesetzt würde, macht die Soundkulisse doch von vornherein | |
fühlbar, dass es sich beim Bühnengeschehen womöglich eher um das Gegenteil | |
eines Erwachens handelt. Das Libretto spricht von „pink noise“, und | |
Saunders überführt Atkins’ sprachpoetische Begrifflichkeit in einen Klang, | |
der gleichzeitig jenseitig und sinnlich wirkt, ein seltsam flimmerndes, | |
hintergründiges Rauschen. | |
## Das riesenhafte Clise-Up einer Wimper | |
In einem fulminanten Solo lässt Katja Kolm aus fast sprachlosem | |
Artikulieren (eines der wenigen verständlichen Wörter ist „stroke“) Sprac… | |
erwachsen und schließlich die erste klar formulierte Aussage: „I wanted to | |
ask if finding an eyelash under your skin was significant“. Das wird zu | |
einem Mantra des Versäumt-Habens: „I wanted to ask…“. Ein riesenhaftes | |
Close-up einer Wimper (eine, aber nicht die einzige Bedeutung von „lash“) | |
hatte vor Beginn der Vorstellung den Bühnenhimmel gefüllt. Wimpern, Münder, | |
Augen durchziehen in Projektionen das Stück. „Eyeballs, the first thing to | |
rot in death“, singt N. | |
N ist die Altistin Nora Frenkel, und auch die anderen Bühnen-Personae sind | |
nach ihren Darstellerinnen benannt – K, A, S. Denn Saunders hat ihnen ihre | |
Partien gleichsam auf den Leib komponiert. A(nna Prohaska) etwa leitet mit | |
einer Reihe seltsam zitternder Skalen, näherungsweise Verzierungen der | |
Renaissancemusik nachempfunden, eine eindrucksvoll gespenstische Passage | |
ein, in der A’s Tonabfolgen von S(arah Maria Sun) aufgenommen werden, dann | |
von einzelnen Instrumenten. Und aus dem anfänglich rudimentären Material | |
entsteht unten im Orchestergraben (betreut von Enno Poppe) ein ganzer | |
musikalischer Echoraum, der die Sängerinnen schließlich fast tröstlich | |
umgibt. | |
Die Art, wie Saunders Klangräume um menschliche Stimmen herum baut, hat | |
etwas sehr konkret Körperliches, Physisches. Nimmt ein Instrument einen Ton | |
auf, den zuvor eine Sängerin intoniert hat, entsteht eine physikalische | |
Verbindung über die Gleichartigkeit der Schwingungen; aus der | |
Unterschiedlichkeit der Klangfarben aber erwächst eine weitere | |
klangräumliche Dimension, eine schwebende Ursuppe für die Evolution neuer | |
musikalischer Gestalten. | |
## Wessen Leben geht hier zu Ende? | |
Diese multimediale Verdichtung der menschlichen Physis in „Lash“ geschieht | |
im Moment des Todes, das Stück spielt in einer Art Limbo. Zumindest ist das | |
eine Lesart, die Atkins’ Text ermöglicht, zugleich ist er jedoch nach | |
anderen Seiten hin offen. Ein Leben, so viel nur steht fest, geht hier zu | |
Ende. Wessen Leben? Das Leben des „I“ oder das des oft angesprochenen | |
„You“, und wenn ja, wer ist „Du“? | |
So präsent [2][Sexualität, Begehren, Körperlichkeit] im Text auch sind, so | |
vage bleibt die Existenz eines geliebten Gegenüber. „To you“ steht auf | |
einem Brief, der oft groß projiziert wird. Aber die vier Personae reichen | |
sich ihn doch nur gegenseitig hin und her. Der Rest ist pink noise. | |
23 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Ed-Atkins-im-Berliner-Gropiusbau/!5458705 | |
[2] /Freie-Liebe-oder-Maennermord/!6092667 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Deutsche Oper | |
Berlin | |
Bildende Kunst | |
Neue Musik | |
Performance | |
Filmrezension | |
Operette | |
Musik | |
Martin-Gropius-Bau | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Komödie „Freaky Tales“ in den Kinos: Ode an Oakland | |
Anna Boden und Ryan Fleck haben mit dem Film „Freaky Tales“ ein filmisches | |
Mixtape urbaner Subversion in der San Francisco Bay Area der 1980er Jahre | |
geschaffen. | |
Operette „Ab in den Ring!“: Zwischen Rave und Commedia dell’Arte | |
Die Operette hat eine subversive Vergangenheit. An der Deutschen Oper | |
Berlin holt das Kollektiv tutti d*amore sie aus der walzerseligen | |
Piefigkeit. | |
Iannis Xenakis auf dem Musikfest Berlin: Stochastische Schönheit | |
Vom Komponisten Iannis Xenakis kamen viele Impulse für spätere Musik. Das | |
Musikfest Berlin feiert den Pionier mit mehreren Konzerten. | |
Ausstellung im Martin-Gropius-Bau: Den Tränen ist nicht zu trauen | |
So viel Gefühl: Ed Atkins präsentiert im Martin-Gropius-Bau mit „Old Food“ | |
ein Kammerspiel über Schein und Sein im digitalen Zeitalter. |