# taz.de -- Die Bibliothek in den USA und Kanada: Auf der Grenze | |
> Seit 100 Jahren steht die Bibliothek Haskell in Kanada und den USA. Lange | |
> konnte man ohne Kontrollen rein und raus – bis Trump auf sie aufmerksam | |
> wurde. | |
Bild: Eine Grenze aus Klebeband zieht sich durch die Haskell Bibliothek | |
Ein etwas abgewetzter Streifen Klebeband auf dem Holzfußboden, mehr ist in | |
der „Haskell Free Library & Opera House“ nicht zu sehen von der | |
Staatsgrenze. Seit über 100 Jahren steht die Bibliothek mit angeschlossenem | |
Theater genau auf der Linie zwischen den USA und Kanada. Genauso hatte es | |
die Kaufmannsfamilie Haskell beabsichtigt, als sie den viktorianischen Bau | |
im Jahre 1901 als Ort des Lernens und der Begegnung stiftete. | |
Als Standort wählten die Haskells ein Eckgrundstück, dessen Südseite von | |
der Caswell Avenue im beschaulichen Örtchen Derby Line im US-Bundesstaat | |
Vermont gesäumt wird. Die Westseite verläuft an der Church Street, die | |
größtenteils zum Städtchen Stanstead in der kanadischen Provinz Quebec | |
gehört. | |
Von Beginn an galt das ungeschriebene Gesetz, dass die Quebecer die zwanzig | |
Meter US-amerikanischen Gehwegs bis zum Haupteingang benutzen durften, ohne | |
einen offiziellen Grenzübergang zu passieren. Doch nun hat die Bibliothek | |
die Aufmerksamkeit von US-Präsident Donald Trump erregt. Damit ist das Aus | |
für diese lokale Tradition besiegelt. | |
„Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, sagte Ross Murray noch am 1. | |
November 2024 im Haskell-Theatersaal, wenige Tage vor Trumps Wiederwahl. | |
Murray, ein Schriftsteller aus Stanstead, moderierte damals das | |
[1][„Borders Poetry Symposium“]. Die Bühne, auf der er dabei stand, | |
befindet sich auf kanadischem Boden. Ein Teil des Publikums saß ebenfalls | |
in Kanada, der größere Teil in den USA. Einige Gäste saßen in beiden | |
Ländern gleichzeitig: Die Grenzmarkierung verläuft diagonal unter den | |
altmodischen Holz-Sitzreihen. | |
## Ganz ohne Grenzanlage | |
Eingetreten waren die Gäste allesamt durch den Haupteingang auf der | |
amerikanischen Seite, ganz ohne Grenzanlagen oder Passkontrolle. „An | |
Abenden wie diesem können Worte die Grenze hier unter dieser Bibliothek | |
überwinden“, fuhr Murray fort. Mit keinem Wort erwähnte er Trumps scharfe | |
Rhetorik über Grenzen, Migranten und „America First“. Doch im kunstvoll | |
verzierten Theatersaal lag die Frage förmlich in der Luft: Was sind Worte | |
gegen Schlagbäume? | |
Ganz so frei wie zu Zeiten der Haskells war auch schon vor Trumps zweiter | |
Amtszeit der Zugang zu Bibliothek und Theater nicht mehr. Nach den | |
Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September | |
2001 waren rings um die Bibliothek Überwachungskameras installiert worden. | |
Seitdem ist auch ein Wagen der U. S. Customs and Border Protection ständig | |
in Sichtweite postiert; auf der Quebecer Seite sind öfters Mounties | |
beziehungsweise Police montée zu sehen – Beamte der kanadischen | |
Bundespolizei. Die Church Street wurde durch kniehohe Steinquader | |
abgeblockt; daneben wurden Schilder errichtet: Stop. Do not cross. It is | |
illegal to enter Canada from here und No Loitering, kein Herumlungern, in | |
Englisch und Französisch, aber auch in Farsi, Haitianischem Kreol, | |
Rumänisch und Russisch. | |
Direkt am Eingang informiert ein weiteres Schild, dass die Bibliothek kein | |
Grenzübergang sei. Wenn aus Quebec kommende Büchereibesucher danach noch in | |
Derby Line, Einwohnerzahl knapp 900, Bekannte besuchen oder einkaufen | |
wollen, müssen sie erst zurück auf die kanadische Seite und dann über den | |
offiziellen Grenzübergang in die USA einreisen. | |
Ein Donnerstagmorgen Anfang Mai 2025. Deborah Bishop telefoniert; jemand | |
von der BBC hat angerufen. Seit gut einem Jahr ist Bishop Direktorin der | |
Haskell Library. Als einzige internationale Bibliothek zieht die seit | |
Langem viel Interesse auf sich, wurde schon im Life Magazin und im Canadian | |
Geographic beschrieben. Der Medienansturm der letzten Monate ist jedoch | |
eine andere Liga. | |
Trotzdem ist es ruhig an diesem Maimorgen, insbesondere in der | |
Kinderbibliothek: ihre Hauptnutzer und -nutzerinnen sind in der Schule, | |
die einen in Vermont, die anderen in Quebec. In dem menschenleeren Raum | |
sticht der schwarze Streifen auf dem hellen Holzfußboden besonders deutlich | |
hervor. Gleich links neben dem Haupteingang gelegen, befindet sich der | |
Großteil der Kinderbibliothek in den USA. In den Regalen stehen Bücher und | |
Spiele in Englisch und Französisch. | |
Am Tresen im Hauptraum beendet eine junge Mitarbeiterin gerade ein | |
Telefonat auf Englisch und beantwortet einen Moment später Fragen des | |
Besuchers vor ihr auf Französisch. Die junge Frau war auch hier, als zehn | |
Tage nach Trumps Amtsantritt seine Heimatschutzministerin Kristi Noem samt | |
Sicherheitsstab der Bibliothek einen unangemeldeten Besuch abstattete. | |
Sie erzählt, wie Noem sich auf der US-amerikanischen Seite des schwarzen | |
Streifens aufbaute und verkündete „USA Number One“, dann theatralisch auf | |
die kanadische Seite trat und kundtat, sie befinde sich jetzt im | |
einundfünfzigsten Bundesstaat. Ihre Entourage klatschte lachend Beifall; | |
die junge Bibliotheksmitarbeiterin, Kanadierin wie alle an dem Tag | |
anwesenden Kolleginnen, bewahrte mit Mühe ihr professionelles Gesicht. | |
## Spenden für einen kanadischen Eingang | |
Wenige Tage nach dem Besuch der Ministerin wurde Deborah Bishop vom | |
Heimatschutzministerium über neue Auflagen informiert. Büchereibesucher aus | |
Kanada dürften nur noch mit gültigem Mitgliedsausweis den Gehweg auf | |
amerikanischem Boden zum Haupteingang benutzen. Ohne Ausweis dürfen das nur | |
noch Bibliotheksangestellte – vorerst. Ab Oktober 2025 ist auch damit | |
Schluss, dann müssen alle Besucher aus Kanada den offiziellen Grenzübergang | |
benutzen. | |
Zwar gibt es in der Parallelstraße zur Church Street einen kleinen, | |
zweispurigen Grenzübergang. Verglichen mit den dystopisch anmutenden | |
Betonbauten an den großen Übergängen der Interstate Highways – einer | |
befindet sich zwei Kilometer östlich – strahlt er fast dörfliche | |
Gemütlichkeit aus. Und doch: Die Grenzbeamten in beide Richtungen nehmen | |
ihren Job ernst. Da kann es schon mal sein, dass man die im Auto | |
angesammelten Einkaufstaschen, Kartons, Flaschen, und Schuhe erklären oder | |
inspizieren lassen muss. | |
Würden Bibliotheksnutzer aus dem kanadischen Stanstead in Zukunft „mal | |
eben“ offiziell in die USA einreisen, um ein Buch auszuleihen oder | |
abzugeben? Würden sie weiterhin zu Lesungen oder den Treffen ihrer | |
Buchgruppe kommen? Würden Familien mit Kindern die zusätzliche Zeit | |
einplanen, ganz zu schweigen von den Kosten der Pässe, die sie, wie viele | |
kanadische und US-Staatsangehörige, nicht unbedingt in der Schublade liegen | |
haben? | |
Deborah Bishop und ihr Team wollen es nicht darauf ankommen lassen. Bald | |
nach dem Besuch der Heimatschutzministerin starteten sie eine | |
Spendenaktion, um einen Eingang auf der kanadischen Seite bauen zu lassen. | |
„Die Resonanz war umwerfend“, erzählt Bishop. Das Geld floss umgehend, die | |
Zielsumme von 100.000 kanadischen Dollar war schnell übertroffen – unter | |
anderem durch eine großzügige Spende der kanadischen Autorin Louise Penny, | |
die unweit von Stanstead wohnt. | |
Wann der neue Eingang fertig sein wird? Schwer zu sagen – Bishop erklärt, | |
dass die Bauvorschriften beider Länder befolgt, die Pläne von Ämtern | |
beiderseits der Grenze abgesegnet werden müssen. Das kann sich Monate | |
hinziehen, gut möglich, dass es bis Oktober nicht zu schaffen ist. Darum | |
hat Bishop kurzerhand veranlasst, einen Notausgang auf der kanadischen | |
Seite so umzubauen, dass er schon jetzt als Eingang benutzt werden kann. | |
Er liegt just an der hinteren rechten Ecke des Gebäudes, an der die | |
Grenzlinie noch das Ein- und Austreten auf kanadischem Boden ermöglicht. | |
Der Blick aus der Tür geht direkt auf eine Reihe von Steinquadern, die die | |
Grenze markiert und den Parkplatz auf amerikanischem Boden vom kanadischen | |
Nachbargrundstück samt Wohnhaus teilt. Zwischen zwei Quadern steht ein | |
Pfosten mit einem Vogelhaus, aus dessen Dach eine Antenne ragt. Hinter der | |
ungewöhnlich großen runden Öffnung glitzert etwas – eine Kameralinse | |
reflektiert das Sonnenlicht. | |
Seit Beginn seiner zweiten Amtszeit hat Donald Trump wiederholt seine | |
Absicht geäußert, [2][die USA um Kanada zu erweitern]. Dies und die 25 | |
Prozent Zölle auf die meisten kanadischen Importe verhalfen mit großer | |
Wahrscheinlichkeit im April dem Trump-Kritiker [3][Mark Carney zum | |
Wahlsieg]. Beim ersten Besuch des neuen Premiers im Oval Office beschrieb | |
Trump die US-kanadische Grenze denn auch als artificial line – eine | |
künstliche Linie, die eben deshalb auch wieder ausradiert werden könne und | |
sollte. | |
## Das Bett teilen mit einem Elefanten | |
„Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, hatte Ross Murray im | |
November 2024 auf der Bühne des Haskell Theaters gesagt. Die US-kanadische | |
Grenze hatte, wie die Binnengrenzen der EU, lange kaum Auswirkungen auf die | |
Menschen beiderseits – bis zum 11. September reichte meistens ein | |
Führerschein, um sie zu überqueren. Eine mehr als 150 Jahre lange | |
Entwicklung führte zu ihrer heutigen Gestalt, beginnend 1783 – noch 76 | |
Jahre vor der Gründung Kanadas – mit dem Vertrag von Paris, der die | |
amerikanische Revolution formal beendete. | |
Im Zuge der West-Expansion der jungen USA wie auch des damaligen British | |
North America fanden zahlreiche Zwischenverhandlungen statt, aus denen | |
verschiedene Grenzanpassungen resultierten. Und wie nicht erst seit dem | |
Annexionsgetöse Donald Trumps zu beobachten ist, auch die Herausbildung | |
eines kanadischen Selbstbewusstseins. | |
Aus europäischer Perspektive mögen die Unterschiede zwischen den beiden | |
nordamerikanischen Riesennationen geringfügig erscheinen. Doch das sehen | |
insbesondere die Menschen nördlich der Grenze, bei aller gegenseitigen | |
Freundschaft und Freundlichkeit, anders. | |
Auch vor der Ära Trump wurde ihr kanadisches Selbstgefühl oft vom großen | |
Nachbarn im Süden herausgefordert. Der Reisejournalist Bob Fisher beschrieb | |
schon 2009 die kulturelle, wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit | |
als das neuronale Herzstück der kanadischen Psyche. Und auch wenn die | |
Beziehung beider Staaten grundlegend freundschaftlich ist, so war sie | |
keineswegs immer einfach. | |
Der frühere kanadische Premier Pierre Trudeau beschrieb sie bei einem | |
Besuch bei Richard Nixon in Washington im Jahre 1969 einmal so: „Neben | |
Ihrem Land zu wohnen ist in gewisser Weise so, als würde man das Bett mit | |
einem Elefanten teilen. Egal wie freundlich und ausgeglichen das Tier auch | |
ist, wenn ich es so bezeichnen darf, man wird von jedem Zucken und Grunzen | |
tangiert.“ | |
Stanstead auf der kanadischen Seite der Haskell-Bücherei hat knapp 3.000 | |
Einwohner. Kaum zwei Kilometer von der Library entfernt liegt das Café | |
Auberge Le Sunshine, von den englischsprachigen Gästen Café Sunshine | |
genannt. Das Stimmengewirr weist auf Beliebtheit bei französisch- wie | |
englischsprachigen Gästen gleichermaßen hin. Jeder scheint hier jede zu | |
kennen; bei jedem Öffnen der Tür entspinnt sich ein längerer oder kürzerer | |
Austausch. | |
Joyce Shee und Lynn Rublee sitzen an einem der runden Cocktailtische vor | |
dampfendem Schaumkaffee und Croissants. Beide Frauen leben in Vermont, | |
etwas südwestlich von Derby Line in Newport, und für beide | |
US-Amerikanerinnen ist die Provinz Quebec Teil ihrer Lebenswelt. Ihnen | |
beiden liegt die Haskell Library am Herzen, aber um sich zu unterhalten, | |
treffen sie sich gern im Café Sunshine. In ihrer Kindheit in den 1960er und | |
1970er Jahren, sagt Lynn, existierte die Grenze in ihrer Wahrnehmung kaum. | |
Newport liegt am Südende des Sees Memphremagog, einer Hinterlassenschaft | |
des letzten Kontinentalgletschers. Der See zieht sich in unzähligen Buchten | |
und Nebenarmen über 50 Kilometer bis zur kanadischen Ortschaft Magog. | |
„Viele Leute aus Montreal verbrachten ihre Ferien dort“, sagt Lynn. „An | |
beiden Seiten des Sees gab es Telefonzellen an der Stelle, wo die Grenze | |
durch den See führt. | |
Dort sollte man anhalten und sich bei der jeweiligen Grenzbehörde melden, | |
wenn man mit dem Boot auf die andere Seite fuhr oder auf einem Pfad rüber | |
wanderte.“ In den Ortschaften – wie hier zwischen Derby Line und Stanstead | |
– winkten sie als Kinder einfach den Grenzbeamten, wenn sie auf der anderen | |
Seite Süßigkeiten kaufen wollten. „Wir haben gar nicht an die Grenze | |
gedacht. Sie war kein Hindernis; wir sind einfach hin- und hergegangen.“ | |
Joyce, deren Eltern nach Quebec zogen, als sie elf war, heiratete sogar | |
einen der Urlauber aus Montreal. Später zogen beide nach Newport. Ihr Leben | |
in beiden Ländern ist in den Staatsangehörigkeiten reflektiert: Joyce | |
besitzt sowohl die kanadische wie auch die US-amerikanische. Das sei in | |
dieser Gegend nicht ungewöhnlich, erzählt sie. | |
Viele Einwohner von Stanstead zwischen 30 und 60 Jahren hätten die | |
US-Staatsbürgerschaft, weil das Krankenhaus in Newport hier das nächste | |
ist und sie dort geboren wurden. Irgendwann erkannte Kanada diese | |
US-Staatsbürgerschaften nicht mehr an. Auf Trumps To-do-Liste steht die | |
Abschaffung der birthright citizenship, der Staatsbürgerschaft jeder auf | |
amerikanischem Boden geborenen Person, sowieso. | |
Lynn Rublee leitet das grenzübergreifende Projekt CANUSA360ARTS, dessen | |
Mission es ist, künstlerische Aktivitäten auf beiden Seiten sowie den | |
Austausch zwischen Kunstschaffenden zu fördern. Das Projekt wurde 2022 ins | |
Leben gerufen, um den Austausch nach den pandemiebedingten | |
Grenzschließungen wiederzubeleben. Das „Borders Poetry Symposium“ in der | |
Haskell-Bibliothek war eine ihrer Initiativen. „Dazu kamen 80 Autorinnen | |
und Autorinnen, ungefähr gleich viele aus Vermont und Quebec, manche auch | |
von weiter her“, erzählt sie. „Das war sehr ermutigend.“ Wird es dieses | |
Jahr ein ähnliches Symposium geben? | |
Lynn hebt die Schultern. „Schwer zu sagen. Alles ist so sehr im Fluss. Aber | |
ich sehe diesen Austausch jetzt als noch wichtiger in dieser angespannten | |
politischen Lage.“ Schon 2024 habe sie von einigen jungen Leuten aus Quebec | |
gehört, sie hätten Angst, die Grenze zu überqueren; von einigen aus Vermont | |
ebenso. Joyce kennt viele Kanadier, die aus Protest nicht mehr in die USA | |
fahren und US-amerikanische Produkte boykottieren. | |
Noch eine andere Entwicklung macht Lynn Sorgen: Im Zuge der Verschärfungen | |
nach dem 11. September 2001, der allgegenwärtigen Kameras und der | |
Grenzschließungen während der Pandemie wächst auch eine sprachliche | |
Trennung zwischen den beiden doch so eng verbundenen Gemeinden. Als Lynn | |
aufwuchs, wurde in Vermonter Familien mehrheitlich Französisch gesprochen. | |
„Vermont – c’est français!“ ruft sie aus. Vermont, das klinge doch zie… | |
französisch. Viele Ortsnamen in Vermont reflektieren die eng verflochtene | |
Geschichte: Die Hauptstadt heißt Montpelier, ein kleiner Ort Vergennes, ein | |
Fluss Lamoille. | |
„Im Grunde ist das ganze nördliche Drittel von Vermont | |
französisch-kanadisch. So viele Menschen hier sind miteinander verwandt, | |
Franko-Kanadier und US-Amerikaner“, sagt sie. Aber jetzt werde auf der | |
Quebec-Seite immer weniger Englisch gesprochen und auf der Vermont-Seite | |
immer weniger Französisch. „Ich finde das tragisch, weil die Sprache dann | |
eine weitere Barriere für junge Menschen darstellt. Darum ist mir auch das | |
Poesie-Festival so wichtig, damit wir die Menschen durch unsere gemeinsame | |
Geschichte und Kultur zusammenbringen.“ | |
Zurück Richtung USA wirkt der letzte Straßenblock vor dem trügerisch | |
gemütlichen Checkpoint verlassen: leere Schaufenster und verblassende | |
Firmennamen auf beiden Straßenseiten. „Dies war mal das Downtown von | |
Stanstead“, sagt Lynn. Jetzt laufen hier die Strömungen sichtbar zusammen, | |
die nicht nur die menschlichen, sondern auch die geschäftlichen Beziehungen | |
strapazieren: 9/11, die Pandemie, die Trump’sche Grenzpolitik. | |
Eine der Fensterfronten jedoch sieht einladend aus: Chrysalis/La Chrysalide | |
(Schmetterlingspuppe); ein „Ort zum Treffen, sich begrüßen, und kreativ | |
sein“. Flyer kündigen Buchgruppen, Stricktreffen und Klangbäder an. Das | |
Chrysalide war einer der Veranstaltungsorte beim Border Poetry Symposium; | |
die gut vernetzte Lynn Rublee stellt die Leiterin vor. | |
## Chöre, die auf der Grenze sangen | |
Kim Prangley ist nicht nur eine der in Newport geborenen doppelten | |
Staatsbürgerinnen, sondern auch die ehemalige Direktorin der Haskell Free | |
Library. Sie übernahm den Job in den 1980er Jahren von ihrer Mutter und | |
blieb zweieinhalb Jahrzehnte. „Die Bücherei war mein Zuhause“, erzählt si… | |
„Meine Kinder sind dort aufgewachsen.“ | |
Sie erinnert sich an die Zeiten, in denen Zollbeamte (einer davon ihr | |
Ex-Ehemann) hereinkamen, um sich Bücher auszuleihen, an Picknicks auf dem | |
Rasen vor der Bücherei, an Chöre, die auf der Grenze sangen, an | |
Familientreffen von Mitgliedern, die sich sonst aufgrund von | |
Visabestimmungen nicht sehen konnten. „Die Bücherei war ein Symbol für | |
Frieden, ein Gegenpol zu dem, was in der Welt geschieht. Es war ein very | |
sweet place.“ Jetzt gibt es keine Familientreffen mehr in der Bücherei, und | |
„auf dem Rasen darf man sich nicht mehr unterhalten“. | |
Kim erinnert sich auch an die Kopfschmerzen, die ihr die juristischen | |
Besonderheiten einer Bibliothek in zwei Ländern oft bereiteten: So musste | |
sie sich mit zwei Versicherungsfirmen befassen – was letztendlich zur | |
Markierung der Grenze durch den schwarzen Klebstreifen führte – und sich | |
nach 9/11 mit beiden Bürgermeistern beraten, wie die neuen Restriktionen | |
umzusetzen seien. Als die Bücherei einen neuen Fahrstuhl brauchte, musste | |
sichergestellt werden, dass dieser in Kanada beschafft werden konnte, da | |
der Schaft sich im kanadischen Teil des Gebäudes befand. | |
## „Ein Teil von mir“ | |
Ein Kran war jedoch nur in Derby Line zu haben, auf der amerikanischen | |
Seite. Ihn die paar Meter nach Kanada zu fahren, hätte gigantische | |
Einfuhrzölle mit sich gebracht. Am Ende musste der Kran so platziert | |
werden, dass er über das Gebäude hinweg den Fahrstuhl auf der kanadischen | |
Seite einsetzen konnte. „Es war kein normaler Job. Du musst nicht nur | |
Bibliothekarin sein, sondern auch Diplomatin und Politikerin.“ | |
Nach 25 Jahren war sie „burned to a crisp“ – ausgebrannt wie ein zu heiß | |
getoastetes Stück Brot. Und doch, sagt sie, „dieser Ort ist ein Teil von | |
mir“. Sie vermisst die Bücherei auf der Grenze und obwohl sie kaum einen | |
Kilometer entfernt von ihr lebt und arbeitet, geht sie nicht mehr dorthin. | |
Zu belastend findet sie die immer größeren Beschränkungen. In ihrer Stimme | |
schwingt der Anflug von Tränen. | |
Zurück an der Haskell Library. Ist das Schild „no family reunions“ – kei… | |
Familientreffen – neu seit Donald Trumps Wiederwahl? Nein, erklärt Lynn | |
Rublee, aber eine Trump-Verbindung bestehe schon. Während seiner ersten | |
Amtszeit verhängte Trump einen „Muslim Travel Ban“, weswegen viele Menschen | |
aus Ländern des Mittleren Ostens nicht mehr in die USA einreisen durften. | |
Dadurch wurde die Bücherei auf der Grenze zu dem einzigen Ort, an dem | |
Familien, die durch dieses Verbot getrennt wurden, ihre Angehörigen sehen | |
konnten. | |
Lynn selbst, die eine kleine Pension in Newport betreibt, beherbergte über | |
einen Zeitraum von zwei Jahren ein Dutzend Iraner und Iranerinnen, die in | |
den USA lebten und deren Angehörige keine Einreisevisa bekamen. „So wurde | |
ich zur iranischen Connection“, erzählt sie mit einem Lächeln. „Die in den | |
USA lebenden Familienmitglieder reisten oft aus anderen Landesteilen an, | |
zwei sogar aus Kalifornien. | |
Sie verbrachten den Tag in der Bibliothek und übernachteten bei mir.“ In | |
einem Fall gab es sogar einen Heiratsantrag, der von einem freundlichen | |
Grenzbeamten fotografiert wurde. Aber der Ansturm auf die Bibliothek wurde | |
so groß, dass sie der Lage einfach nicht mehr Herr wurde und dem Ganzen ein | |
Ende setzen musste. | |
Lynn Rublee bedauert das. Aber sie versteht die Entscheidung der | |
Bibliothek, denn die wolle natürlich auch nicht ihren eh schon prekären | |
Status gefährden. | |
„Es ist jetzt eine noch größere Herausforderung, aber gleichzeitig auch | |
noch wichtiger, dass wir als border community zusammenkommen und zeigen, | |
dass wir eine große Gemeinschaft sind und dass wir einander brauchen, | |
gesellschaftlich, kulturell, und wirtschaftlich.“ Das ist es, was sie mit | |
CANUSA360ARTS bewirken möchte. Die Arbeit scheint für sie als Gegenmittel | |
zu all den Enttäuschungen und Frustrationen zu wirken, die ihre community | |
in den letzten Jahren erlebt hat. Sie selbst beschreibt sich als politisch | |
links, sucht aber den Austausch mit Mitmenschen, die Trump gewählt haben. | |
„Diese Spaltung in der Gesellschaft, das ist ein wirklich großes Ding. | |
Leute auf allen Seiten wollen im Grunde wieder dahin kommen, dass sie sich | |
wieder miteinander unterhalten können. Wir brauchen mehr Dialog, damit wir | |
zusammenkommen und Probleme lösen können.“ | |
6 Jul 2025 | |
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