| # taz.de -- Die Bibliothek in den USA und Kanada: Auf der Grenze | |
| > Seit 100 Jahren steht die Bibliothek Haskell in Kanada und den USA. Lange | |
| > konnte man ohne Kontrollen rein und raus – bis Trump auf sie aufmerksam | |
| > wurde. | |
| Bild: Eine Grenze aus Klebeband zieht sich durch die Haskell Bibliothek | |
| Ein etwas abgewetzter Streifen Klebeband auf dem Holzfußboden, mehr ist in | |
| der „Haskell Free Library & Opera House“ nicht zu sehen von der | |
| Staatsgrenze. Seit über 100 Jahren steht die Bibliothek mit angeschlossenem | |
| Theater genau auf der Linie zwischen den USA und Kanada. Genauso hatte es | |
| die Kaufmannsfamilie Haskell beabsichtigt, als sie den viktorianischen Bau | |
| im Jahre 1901 als Ort des Lernens und der Begegnung stiftete. | |
| Als Standort wählten die Haskells ein Eckgrundstück, dessen Südseite von | |
| der Caswell Avenue im beschaulichen Örtchen Derby Line im US-Bundesstaat | |
| Vermont gesäumt wird. Die Westseite verläuft an der Church Street, die | |
| größtenteils zum Städtchen Stanstead in der kanadischen Provinz Quebec | |
| gehört. | |
| Von Beginn an galt das ungeschriebene Gesetz, dass die Quebecer die zwanzig | |
| Meter US-amerikanischen Gehwegs bis zum Haupteingang benutzen durften, ohne | |
| einen offiziellen Grenzübergang zu passieren. Doch nun hat die Bibliothek | |
| die Aufmerksamkeit von US-Präsident Donald Trump erregt. Damit ist das Aus | |
| für diese lokale Tradition besiegelt. | |
| „Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, sagte Ross Murray noch am 1. | |
| November 2024 im Haskell-Theatersaal, wenige Tage vor Trumps Wiederwahl. | |
| Murray, ein Schriftsteller aus Stanstead, moderierte damals das | |
| [1][„Borders Poetry Symposium“]. Die Bühne, auf der er dabei stand, | |
| befindet sich auf kanadischem Boden. Ein Teil des Publikums saß ebenfalls | |
| in Kanada, der größere Teil in den USA. Einige Gäste saßen in beiden | |
| Ländern gleichzeitig: Die Grenzmarkierung verläuft diagonal unter den | |
| altmodischen Holz-Sitzreihen. | |
| ## Ganz ohne Grenzanlage | |
| Eingetreten waren die Gäste allesamt durch den Haupteingang auf der | |
| amerikanischen Seite, ganz ohne Grenzanlagen oder Passkontrolle. „An | |
| Abenden wie diesem können Worte die Grenze hier unter dieser Bibliothek | |
| überwinden“, fuhr Murray fort. Mit keinem Wort erwähnte er Trumps scharfe | |
| Rhetorik über Grenzen, Migranten und „America First“. Doch im kunstvoll | |
| verzierten Theatersaal lag die Frage förmlich in der Luft: Was sind Worte | |
| gegen Schlagbäume? | |
| Ganz so frei wie zu Zeiten der Haskells war auch schon vor Trumps zweiter | |
| Amtszeit der Zugang zu Bibliothek und Theater nicht mehr. Nach den | |
| Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September | |
| 2001 waren rings um die Bibliothek Überwachungskameras installiert worden. | |
| Seitdem ist auch ein Wagen der U. S. Customs and Border Protection ständig | |
| in Sichtweite postiert; auf der Quebecer Seite sind öfters Mounties | |
| beziehungsweise Police montée zu sehen – Beamte der kanadischen | |
| Bundespolizei. Die Church Street wurde durch kniehohe Steinquader | |
| abgeblockt; daneben wurden Schilder errichtet: Stop. Do not cross. It is | |
| illegal to enter Canada from here und No Loitering, kein Herumlungern, in | |
| Englisch und Französisch, aber auch in Farsi, Haitianischem Kreol, | |
| Rumänisch und Russisch. | |
| Direkt am Eingang informiert ein weiteres Schild, dass die Bibliothek kein | |
| Grenzübergang sei. Wenn aus Quebec kommende Büchereibesucher danach noch in | |
| Derby Line, Einwohnerzahl knapp 900, Bekannte besuchen oder einkaufen | |
| wollen, müssen sie erst zurück auf die kanadische Seite und dann über den | |
| offiziellen Grenzübergang in die USA einreisen. | |
| Ein Donnerstagmorgen Anfang Mai 2025. Deborah Bishop telefoniert; jemand | |
| von der BBC hat angerufen. Seit gut einem Jahr ist Bishop Direktorin der | |
| Haskell Library. Als einzige internationale Bibliothek zieht die seit | |
| Langem viel Interesse auf sich, wurde schon im Life Magazin und im Canadian | |
| Geographic beschrieben. Der Medienansturm der letzten Monate ist jedoch | |
| eine andere Liga. | |
| Trotzdem ist es ruhig an diesem Maimorgen, insbesondere in der | |
| Kinderbibliothek: ihre Hauptnutzer und -nutzerinnen sind in der Schule, | |
| die einen in Vermont, die anderen in Quebec. In dem menschenleeren Raum | |
| sticht der schwarze Streifen auf dem hellen Holzfußboden besonders deutlich | |
| hervor. Gleich links neben dem Haupteingang gelegen, befindet sich der | |
| Großteil der Kinderbibliothek in den USA. In den Regalen stehen Bücher und | |
| Spiele in Englisch und Französisch. | |
| Am Tresen im Hauptraum beendet eine junge Mitarbeiterin gerade ein | |
| Telefonat auf Englisch und beantwortet einen Moment später Fragen des | |
| Besuchers vor ihr auf Französisch. Die junge Frau war auch hier, als zehn | |
| Tage nach Trumps Amtsantritt seine Heimatschutzministerin Kristi Noem samt | |
| Sicherheitsstab der Bibliothek einen unangemeldeten Besuch abstattete. | |
| Sie erzählt, wie Noem sich auf der US-amerikanischen Seite des schwarzen | |
| Streifens aufbaute und verkündete „USA Number One“, dann theatralisch auf | |
| die kanadische Seite trat und kundtat, sie befinde sich jetzt im | |
| einundfünfzigsten Bundesstaat. Ihre Entourage klatschte lachend Beifall; | |
| die junge Bibliotheksmitarbeiterin, Kanadierin wie alle an dem Tag | |
| anwesenden Kolleginnen, bewahrte mit Mühe ihr professionelles Gesicht. | |
| ## Spenden für einen kanadischen Eingang | |
| Wenige Tage nach dem Besuch der Ministerin wurde Deborah Bishop vom | |
| Heimatschutzministerium über neue Auflagen informiert. Büchereibesucher aus | |
| Kanada dürften nur noch mit gültigem Mitgliedsausweis den Gehweg auf | |
| amerikanischem Boden zum Haupteingang benutzen. Ohne Ausweis dürfen das nur | |
| noch Bibliotheksangestellte – vorerst. Ab Oktober 2025 ist auch damit | |
| Schluss, dann müssen alle Besucher aus Kanada den offiziellen Grenzübergang | |
| benutzen. | |
| Zwar gibt es in der Parallelstraße zur Church Street einen kleinen, | |
| zweispurigen Grenzübergang. Verglichen mit den dystopisch anmutenden | |
| Betonbauten an den großen Übergängen der Interstate Highways – einer | |
| befindet sich zwei Kilometer östlich – strahlt er fast dörfliche | |
| Gemütlichkeit aus. Und doch: Die Grenzbeamten in beide Richtungen nehmen | |
| ihren Job ernst. Da kann es schon mal sein, dass man die im Auto | |
| angesammelten Einkaufstaschen, Kartons, Flaschen, und Schuhe erklären oder | |
| inspizieren lassen muss. | |
| Würden Bibliotheksnutzer aus dem kanadischen Stanstead in Zukunft „mal | |
| eben“ offiziell in die USA einreisen, um ein Buch auszuleihen oder | |
| abzugeben? Würden sie weiterhin zu Lesungen oder den Treffen ihrer | |
| Buchgruppe kommen? Würden Familien mit Kindern die zusätzliche Zeit | |
| einplanen, ganz zu schweigen von den Kosten der Pässe, die sie, wie viele | |
| kanadische und US-Staatsangehörige, nicht unbedingt in der Schublade liegen | |
| haben? | |
| Deborah Bishop und ihr Team wollen es nicht darauf ankommen lassen. Bald | |
| nach dem Besuch der Heimatschutzministerin starteten sie eine | |
| Spendenaktion, um einen Eingang auf der kanadischen Seite bauen zu lassen. | |
| „Die Resonanz war umwerfend“, erzählt Bishop. Das Geld floss umgehend, die | |
| Zielsumme von 100.000 kanadischen Dollar war schnell übertroffen – unter | |
| anderem durch eine großzügige Spende der kanadischen Autorin Louise Penny, | |
| die unweit von Stanstead wohnt. | |
| Wann der neue Eingang fertig sein wird? Schwer zu sagen – Bishop erklärt, | |
| dass die Bauvorschriften beider Länder befolgt, die Pläne von Ämtern | |
| beiderseits der Grenze abgesegnet werden müssen. Das kann sich Monate | |
| hinziehen, gut möglich, dass es bis Oktober nicht zu schaffen ist. Darum | |
| hat Bishop kurzerhand veranlasst, einen Notausgang auf der kanadischen | |
| Seite so umzubauen, dass er schon jetzt als Eingang benutzt werden kann. | |
| Er liegt just an der hinteren rechten Ecke des Gebäudes, an der die | |
| Grenzlinie noch das Ein- und Austreten auf kanadischem Boden ermöglicht. | |
| Der Blick aus der Tür geht direkt auf eine Reihe von Steinquadern, die die | |
| Grenze markiert und den Parkplatz auf amerikanischem Boden vom kanadischen | |
| Nachbargrundstück samt Wohnhaus teilt. Zwischen zwei Quadern steht ein | |
| Pfosten mit einem Vogelhaus, aus dessen Dach eine Antenne ragt. Hinter der | |
| ungewöhnlich großen runden Öffnung glitzert etwas – eine Kameralinse | |
| reflektiert das Sonnenlicht. | |
| Seit Beginn seiner zweiten Amtszeit hat Donald Trump wiederholt seine | |
| Absicht geäußert, [2][die USA um Kanada zu erweitern]. Dies und die 25 | |
| Prozent Zölle auf die meisten kanadischen Importe verhalfen mit großer | |
| Wahrscheinlichkeit im April dem Trump-Kritiker [3][Mark Carney zum | |
| Wahlsieg]. Beim ersten Besuch des neuen Premiers im Oval Office beschrieb | |
| Trump die US-kanadische Grenze denn auch als artificial line – eine | |
| künstliche Linie, die eben deshalb auch wieder ausradiert werden könne und | |
| sollte. | |
| ## Das Bett teilen mit einem Elefanten | |
| „Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, hatte Ross Murray im | |
| November 2024 auf der Bühne des Haskell Theaters gesagt. Die US-kanadische | |
| Grenze hatte, wie die Binnengrenzen der EU, lange kaum Auswirkungen auf die | |
| Menschen beiderseits – bis zum 11. September reichte meistens ein | |
| Führerschein, um sie zu überqueren. Eine mehr als 150 Jahre lange | |
| Entwicklung führte zu ihrer heutigen Gestalt, beginnend 1783 – noch 76 | |
| Jahre vor der Gründung Kanadas – mit dem Vertrag von Paris, der die | |
| amerikanische Revolution formal beendete. | |
| Im Zuge der West-Expansion der jungen USA wie auch des damaligen British | |
| North America fanden zahlreiche Zwischenverhandlungen statt, aus denen | |
| verschiedene Grenzanpassungen resultierten. Und wie nicht erst seit dem | |
| Annexionsgetöse Donald Trumps zu beobachten ist, auch die Herausbildung | |
| eines kanadischen Selbstbewusstseins. | |
| Aus europäischer Perspektive mögen die Unterschiede zwischen den beiden | |
| nordamerikanischen Riesennationen geringfügig erscheinen. Doch das sehen | |
| insbesondere die Menschen nördlich der Grenze, bei aller gegenseitigen | |
| Freundschaft und Freundlichkeit, anders. | |
| Auch vor der Ära Trump wurde ihr kanadisches Selbstgefühl oft vom großen | |
| Nachbarn im Süden herausgefordert. Der Reisejournalist Bob Fisher beschrieb | |
| schon 2009 die kulturelle, wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit | |
| als das neuronale Herzstück der kanadischen Psyche. Und auch wenn die | |
| Beziehung beider Staaten grundlegend freundschaftlich ist, so war sie | |
| keineswegs immer einfach. | |
| Der frühere kanadische Premier Pierre Trudeau beschrieb sie bei einem | |
| Besuch bei Richard Nixon in Washington im Jahre 1969 einmal so: „Neben | |
| Ihrem Land zu wohnen ist in gewisser Weise so, als würde man das Bett mit | |
| einem Elefanten teilen. Egal wie freundlich und ausgeglichen das Tier auch | |
| ist, wenn ich es so bezeichnen darf, man wird von jedem Zucken und Grunzen | |
| tangiert.“ | |
| Stanstead auf der kanadischen Seite der Haskell-Bücherei hat knapp 3.000 | |
| Einwohner. Kaum zwei Kilometer von der Library entfernt liegt das Café | |
| Auberge Le Sunshine, von den englischsprachigen Gästen Café Sunshine | |
| genannt. Das Stimmengewirr weist auf Beliebtheit bei französisch- wie | |
| englischsprachigen Gästen gleichermaßen hin. Jeder scheint hier jede zu | |
| kennen; bei jedem Öffnen der Tür entspinnt sich ein längerer oder kürzerer | |
| Austausch. | |
| Joyce Shee und Lynn Rublee sitzen an einem der runden Cocktailtische vor | |
| dampfendem Schaumkaffee und Croissants. Beide Frauen leben in Vermont, | |
| etwas südwestlich von Derby Line in Newport, und für beide | |
| US-Amerikanerinnen ist die Provinz Quebec Teil ihrer Lebenswelt. Ihnen | |
| beiden liegt die Haskell Library am Herzen, aber um sich zu unterhalten, | |
| treffen sie sich gern im Café Sunshine. In ihrer Kindheit in den 1960er und | |
| 1970er Jahren, sagt Lynn, existierte die Grenze in ihrer Wahrnehmung kaum. | |
| Newport liegt am Südende des Sees Memphremagog, einer Hinterlassenschaft | |
| des letzten Kontinentalgletschers. Der See zieht sich in unzähligen Buchten | |
| und Nebenarmen über 50 Kilometer bis zur kanadischen Ortschaft Magog. | |
| „Viele Leute aus Montreal verbrachten ihre Ferien dort“, sagt Lynn. „An | |
| beiden Seiten des Sees gab es Telefonzellen an der Stelle, wo die Grenze | |
| durch den See führt. | |
| Dort sollte man anhalten und sich bei der jeweiligen Grenzbehörde melden, | |
| wenn man mit dem Boot auf die andere Seite fuhr oder auf einem Pfad rüber | |
| wanderte.“ In den Ortschaften – wie hier zwischen Derby Line und Stanstead | |
| – winkten sie als Kinder einfach den Grenzbeamten, wenn sie auf der anderen | |
| Seite Süßigkeiten kaufen wollten. „Wir haben gar nicht an die Grenze | |
| gedacht. Sie war kein Hindernis; wir sind einfach hin- und hergegangen.“ | |
| Joyce, deren Eltern nach Quebec zogen, als sie elf war, heiratete sogar | |
| einen der Urlauber aus Montreal. Später zogen beide nach Newport. Ihr Leben | |
| in beiden Ländern ist in den Staatsangehörigkeiten reflektiert: Joyce | |
| besitzt sowohl die kanadische wie auch die US-amerikanische. Das sei in | |
| dieser Gegend nicht ungewöhnlich, erzählt sie. | |
| Viele Einwohner von Stanstead zwischen 30 und 60 Jahren hätten die | |
| US-Staatsbürgerschaft, weil das Krankenhaus in Newport hier das nächste | |
| ist und sie dort geboren wurden. Irgendwann erkannte Kanada diese | |
| US-Staatsbürgerschaften nicht mehr an. Auf Trumps To-do-Liste steht die | |
| Abschaffung der birthright citizenship, der Staatsbürgerschaft jeder auf | |
| amerikanischem Boden geborenen Person, sowieso. | |
| Lynn Rublee leitet das grenzübergreifende Projekt CANUSA360ARTS, dessen | |
| Mission es ist, künstlerische Aktivitäten auf beiden Seiten sowie den | |
| Austausch zwischen Kunstschaffenden zu fördern. Das Projekt wurde 2022 ins | |
| Leben gerufen, um den Austausch nach den pandemiebedingten | |
| Grenzschließungen wiederzubeleben. Das „Borders Poetry Symposium“ in der | |
| Haskell-Bibliothek war eine ihrer Initiativen. „Dazu kamen 80 Autorinnen | |
| und Autorinnen, ungefähr gleich viele aus Vermont und Quebec, manche auch | |
| von weiter her“, erzählt sie. „Das war sehr ermutigend.“ Wird es dieses | |
| Jahr ein ähnliches Symposium geben? | |
| Lynn hebt die Schultern. „Schwer zu sagen. Alles ist so sehr im Fluss. Aber | |
| ich sehe diesen Austausch jetzt als noch wichtiger in dieser angespannten | |
| politischen Lage.“ Schon 2024 habe sie von einigen jungen Leuten aus Quebec | |
| gehört, sie hätten Angst, die Grenze zu überqueren; von einigen aus Vermont | |
| ebenso. Joyce kennt viele Kanadier, die aus Protest nicht mehr in die USA | |
| fahren und US-amerikanische Produkte boykottieren. | |
| Noch eine andere Entwicklung macht Lynn Sorgen: Im Zuge der Verschärfungen | |
| nach dem 11. September 2001, der allgegenwärtigen Kameras und der | |
| Grenzschließungen während der Pandemie wächst auch eine sprachliche | |
| Trennung zwischen den beiden doch so eng verbundenen Gemeinden. Als Lynn | |
| aufwuchs, wurde in Vermonter Familien mehrheitlich Französisch gesprochen. | |
| „Vermont – c’est français!“ ruft sie aus. Vermont, das klinge doch zie… | |
| französisch. Viele Ortsnamen in Vermont reflektieren die eng verflochtene | |
| Geschichte: Die Hauptstadt heißt Montpelier, ein kleiner Ort Vergennes, ein | |
| Fluss Lamoille. | |
| „Im Grunde ist das ganze nördliche Drittel von Vermont | |
| französisch-kanadisch. So viele Menschen hier sind miteinander verwandt, | |
| Franko-Kanadier und US-Amerikaner“, sagt sie. Aber jetzt werde auf der | |
| Quebec-Seite immer weniger Englisch gesprochen und auf der Vermont-Seite | |
| immer weniger Französisch. „Ich finde das tragisch, weil die Sprache dann | |
| eine weitere Barriere für junge Menschen darstellt. Darum ist mir auch das | |
| Poesie-Festival so wichtig, damit wir die Menschen durch unsere gemeinsame | |
| Geschichte und Kultur zusammenbringen.“ | |
| Zurück Richtung USA wirkt der letzte Straßenblock vor dem trügerisch | |
| gemütlichen Checkpoint verlassen: leere Schaufenster und verblassende | |
| Firmennamen auf beiden Straßenseiten. „Dies war mal das Downtown von | |
| Stanstead“, sagt Lynn. Jetzt laufen hier die Strömungen sichtbar zusammen, | |
| die nicht nur die menschlichen, sondern auch die geschäftlichen Beziehungen | |
| strapazieren: 9/11, die Pandemie, die Trump’sche Grenzpolitik. | |
| Eine der Fensterfronten jedoch sieht einladend aus: Chrysalis/La Chrysalide | |
| (Schmetterlingspuppe); ein „Ort zum Treffen, sich begrüßen, und kreativ | |
| sein“. Flyer kündigen Buchgruppen, Stricktreffen und Klangbäder an. Das | |
| Chrysalide war einer der Veranstaltungsorte beim Border Poetry Symposium; | |
| die gut vernetzte Lynn Rublee stellt die Leiterin vor. | |
| ## Chöre, die auf der Grenze sangen | |
| Kim Prangley ist nicht nur eine der in Newport geborenen doppelten | |
| Staatsbürgerinnen, sondern auch die ehemalige Direktorin der Haskell Free | |
| Library. Sie übernahm den Job in den 1980er Jahren von ihrer Mutter und | |
| blieb zweieinhalb Jahrzehnte. „Die Bücherei war mein Zuhause“, erzählt si… | |
| „Meine Kinder sind dort aufgewachsen.“ | |
| Sie erinnert sich an die Zeiten, in denen Zollbeamte (einer davon ihr | |
| Ex-Ehemann) hereinkamen, um sich Bücher auszuleihen, an Picknicks auf dem | |
| Rasen vor der Bücherei, an Chöre, die auf der Grenze sangen, an | |
| Familientreffen von Mitgliedern, die sich sonst aufgrund von | |
| Visabestimmungen nicht sehen konnten. „Die Bücherei war ein Symbol für | |
| Frieden, ein Gegenpol zu dem, was in der Welt geschieht. Es war ein very | |
| sweet place.“ Jetzt gibt es keine Familientreffen mehr in der Bücherei, und | |
| „auf dem Rasen darf man sich nicht mehr unterhalten“. | |
| Kim erinnert sich auch an die Kopfschmerzen, die ihr die juristischen | |
| Besonderheiten einer Bibliothek in zwei Ländern oft bereiteten: So musste | |
| sie sich mit zwei Versicherungsfirmen befassen – was letztendlich zur | |
| Markierung der Grenze durch den schwarzen Klebstreifen führte – und sich | |
| nach 9/11 mit beiden Bürgermeistern beraten, wie die neuen Restriktionen | |
| umzusetzen seien. Als die Bücherei einen neuen Fahrstuhl brauchte, musste | |
| sichergestellt werden, dass dieser in Kanada beschafft werden konnte, da | |
| der Schaft sich im kanadischen Teil des Gebäudes befand. | |
| ## „Ein Teil von mir“ | |
| Ein Kran war jedoch nur in Derby Line zu haben, auf der amerikanischen | |
| Seite. Ihn die paar Meter nach Kanada zu fahren, hätte gigantische | |
| Einfuhrzölle mit sich gebracht. Am Ende musste der Kran so platziert | |
| werden, dass er über das Gebäude hinweg den Fahrstuhl auf der kanadischen | |
| Seite einsetzen konnte. „Es war kein normaler Job. Du musst nicht nur | |
| Bibliothekarin sein, sondern auch Diplomatin und Politikerin.“ | |
| Nach 25 Jahren war sie „burned to a crisp“ – ausgebrannt wie ein zu heiß | |
| getoastetes Stück Brot. Und doch, sagt sie, „dieser Ort ist ein Teil von | |
| mir“. Sie vermisst die Bücherei auf der Grenze und obwohl sie kaum einen | |
| Kilometer entfernt von ihr lebt und arbeitet, geht sie nicht mehr dorthin. | |
| Zu belastend findet sie die immer größeren Beschränkungen. In ihrer Stimme | |
| schwingt der Anflug von Tränen. | |
| Zurück an der Haskell Library. Ist das Schild „no family reunions“ – kei… | |
| Familientreffen – neu seit Donald Trumps Wiederwahl? Nein, erklärt Lynn | |
| Rublee, aber eine Trump-Verbindung bestehe schon. Während seiner ersten | |
| Amtszeit verhängte Trump einen „Muslim Travel Ban“, weswegen viele Menschen | |
| aus Ländern des Mittleren Ostens nicht mehr in die USA einreisen durften. | |
| Dadurch wurde die Bücherei auf der Grenze zu dem einzigen Ort, an dem | |
| Familien, die durch dieses Verbot getrennt wurden, ihre Angehörigen sehen | |
| konnten. | |
| Lynn selbst, die eine kleine Pension in Newport betreibt, beherbergte über | |
| einen Zeitraum von zwei Jahren ein Dutzend Iraner und Iranerinnen, die in | |
| den USA lebten und deren Angehörige keine Einreisevisa bekamen. „So wurde | |
| ich zur iranischen Connection“, erzählt sie mit einem Lächeln. „Die in den | |
| USA lebenden Familienmitglieder reisten oft aus anderen Landesteilen an, | |
| zwei sogar aus Kalifornien. | |
| Sie verbrachten den Tag in der Bibliothek und übernachteten bei mir.“ In | |
| einem Fall gab es sogar einen Heiratsantrag, der von einem freundlichen | |
| Grenzbeamten fotografiert wurde. Aber der Ansturm auf die Bibliothek wurde | |
| so groß, dass sie der Lage einfach nicht mehr Herr wurde und dem Ganzen ein | |
| Ende setzen musste. | |
| Lynn Rublee bedauert das. Aber sie versteht die Entscheidung der | |
| Bibliothek, denn die wolle natürlich auch nicht ihren eh schon prekären | |
| Status gefährden. | |
| „Es ist jetzt eine noch größere Herausforderung, aber gleichzeitig auch | |
| noch wichtiger, dass wir als border community zusammenkommen und zeigen, | |
| dass wir eine große Gemeinschaft sind und dass wir einander brauchen, | |
| gesellschaftlich, kulturell, und wirtschaftlich.“ Das ist es, was sie mit | |
| CANUSA360ARTS bewirken möchte. Die Arbeit scheint für sie als Gegenmittel | |
| zu all den Enttäuschungen und Frustrationen zu wirken, die ihre community | |
| in den letzten Jahren erlebt hat. Sie selbst beschreibt sich als politisch | |
| links, sucht aber den Austausch mit Mitmenschen, die Trump gewählt haben. | |
| „Diese Spaltung in der Gesellschaft, das ist ein wirklich großes Ding. | |
| Leute auf allen Seiten wollen im Grunde wieder dahin kommen, dass sie sich | |
| wieder miteinander unterhalten können. Wir brauchen mehr Dialog, damit wir | |
| zusammenkommen und Probleme lösen können.“ | |
| 6 Jul 2025 | |
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