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# taz.de -- Die Wahrheit: Rudelbums im Freiluftzoo
> Besuch im Nest der Feiertagstiere: Ein unbeugsames Dorf im Erzgebirge
> hält eine fast vergessene Tradition hoch.
Bild: Der majestätische Mariä-Lichtmess-Beutelwolf ist leider schon ausgestor…
Grrrr, kraaah, blubb – auf dem Dorfplatz von Kleinschirma zischt, faucht
und gurrt es aus allen Richtungen. Was nach Rudelbums im Freiluftzoo
klingt, ist allerdings menschengemacht: Hinter Büschen und an Häuserecken
verschaffen die Dorfbewohner ihrem Traditionsbewusstsein geradezu
animalisch Luft. Erst auf einen straffen Pfiff vom eben noch gemütlich aus
seiner Cordjacke herausschmunzelnden Bürgermeister Gernot Seiffert
verstummt die Dorfgemeinschaft.
„So ein Affenstall ist das hier sonst nie“, versichert er uns. Die Bewohner
Kleinschirmas hätten uns nur besonders anschaulich vorführen wollen, wie
vielfältig die deutsche Festtagsfauna einst gewesen sei. Deshalb habe man
für unseren Besuch alle Sagentiere gleichzeitig aus ihren Festtagskäfigen
gelassen, aus denen sie sonst nur an ihrem Feiertag Auslauf hätten.
„Normalerweise sind wir hier nicht so detsch“, macht uns Bürgermeister
Seiffert noch mal mit Nachdruck klar, während er den immer noch aus einer
Kastanie zwitschernden Ortsbrandmeister unwirsch zum Schweigen bringt.
## Angemalte Poolnudel zur Buße
Detsch, also verrückt, sind sie hier vielleicht nicht, traditionsbewusst
aber auf jeden Fall. Denn die Bewohner dieses kleinen Dorfs am Fuße des
Erzgebirges meinen es mit der Bewahrung des beinahe vergessenen
Brauchtumsbiotops ernst: Grundschulkinder kennen bereits den 50-äugigen
Pfingstfasan, den der preußische Obrigkeitsstaat damals noch über den
heiligen Freigeist Taube setzte. Etwas verloren schwimmt im brackigen
Wasser des ehemaligen Feuerlöschteichs eine angemalte Poolnudel als
Buß-und-Bettag-Aal, der zu Gebet und Umkehr ermutigen soll. Auf einem
Wandgemälde am Schützenhaus schaut ein wütender
Augsburger-Friedensfest-Gorilla in heroischer Pose einem verängstigten
Ferdinand III. bei der Vertragsunterzeichnung über die Schulter.
Persönlich kennenlernen dürfen wir die einst nur in Volksliedern der
Bauernrepublik Dithmarschen lebendige Frauentagskuh. Die Kleinschirmaer
Variante namens Kleeblatt grast, stoisch Fliegen verscheuchend und wie in
den Erzählungen mit einem Holzbecher um den Hals, am Aussichtspunkt
oberhalb des Dorfs. „Sicher überliefert ist: Die Frauentagskuh brachte
Frauen, die von ihren Männern verdroschen worden sind, zur Beruhigung ein
Glas frische Sahne“, klärt uns Seiffert über den Hintergrund des Tiers auf.
Mehr Feminismus sei damals selbst in Märchen nicht drin gewesen.
Abgesehen von Kleeblatt sind die über das ganze Dorf verteilten Tiere
leider nur Nachbildungen, wenn auch liebevoll gestaltete. Der Unterhalt
eines ganzen Zoos sei einfach zu teuer, entschuldigt sich Seiffert. Ganz
abgesehen davon, dass einige Vorbilder wie der Mariä-Lichtmess-Beutelwolf
längst ausgestorben seien. „Umso mehr legen sich aber die Dorfbewohner ins
Zeug“, verspricht uns Seiffert.
## Biber zur Dentalbegutachtung
Beim anschließenden Rundgang durch das vor Geschäftigkeit summende Dorf
wird klar, dass er nicht gelogen hat. Hinter der Dorfkirche hoppelt ein als
Tag-der-Zahngesundheit-Biber verkleideter Junge hervor und begutachtet
kritisch unsere Beißerchen, bevor er uns mit einem Wink erlaubt
weiterzuziehen. An der Bushaltestelle reicht uns der bordeauxrote
Fronleichnamsgeier zur Erfrischung und zur Erinnerung an Leib und Blut
Christi ein Glas Kwass.
„Der Höhepunkt kommt aber noch!“, versichert uns Seiffert mit strahlenden
Augen. Der Höhepunkt heißt Familie Meisner und wohnt in einem unscheinbaren
Niedrigenergiehaus im Neubaugebiet. „Wiedervereinigung!“, ruft Vater
Michael Meisner, der uns schon am Gartentor erwartet, und erklärt auf
unsere verwirrten Blicke hin, er habe gerade einen
Wiedervereinigungstagsgecko zwischen unseren Füßen gesehen.
„Wer einen mit Schwanz sieht und ‚Wiedervereinigung‘ ruft, dem steht eine
reiche Ernte ins Haus“, erklärt Meisner unbeeindruckt vor seinem nicht
wirklich Ertrag versprechenden Ziergarten. „Familie Meisner ist extra für
die Feiertagstierpflege hergezogen“, flüstert uns Seiffert zu, als Meisner
bereits zu einem anderen herbeifantasierten Tier sprintet. „Manchmal wird
es aber auch etwas viel mit ihnen.“
## Rotwein für den Hammel der Arbeit
Denn allein die Kirche kennt über 40 Feiertage, hinzu kommen unzählige
Gedenk- und Aktionstage, fast alle mit eigenen Festtagstieren oder
Maskottchen. Und für die Meisners existieren sie alle. Da kann es schon mal
vorkommen, dass Meisner auf dem Maifest wütend wird, weil dem
Tag-der-Arbeit-Hammel kein Rotwein geopfert wurde. Oder dass die Kinder in
der Schule fehlen, weil sie am Welt-Lepra-Tag angeblich den
Welt-Lepra-Tag-Leoparden gesehen haben. „Das ist dann immer ihr Kater
Jimmy“, erklärt Seiffert leise.
„Ach wissen Sie, lassen Sie uns vielleicht doch ein andermal wiederkommen“,
raunt er uns zu und zieht uns am Arm vom Grundstück. Die Meisners scheint
die Kürze des Besuchs nicht zu stören, sie jagen im Hintergrund imaginären
Tiere hinterher oder verstecken sich vor ihnen, so genau ist das nicht zu
sagen, sie scheinen unser Verschwinden gar nicht zu bemerken.
Ein paar Straßen weiter atmet Bürgermeister Seiffert sichtlich erleichtert
auf, und auch wir sind längst geschafft von so viel Brauchtum. Bevor wir
abfahren, stellen wir noch eine Frage, die uns schon seit unserer Ankunft
unter den Nägeln brennt: Wie halten es die Kleinschirmaer mit dem
Osterhasen? Finster blickt uns Seiffert an. Den wolle man hier nicht sehen:
„Von Massentierhaltung halten wir in Kleinschirma nämlich gar nichts.“
10 Jun 2025
## AUTOREN
Ernst Jordan
## TAGS
Feiertage
Tiere
Tradition
Universum
Literatur
Die Wahrheit
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