# taz.de -- Ein Syrischer Arzt kehrt zurück: Heim nach Idlib | |
> Vor elf Jahren verließ Mustafa Fahham seine Heimat. In Deutschland baut | |
> er sich ein Leben auf. Dann fällt das Assad-Regime und Fahham kehrt | |
> zurück. | |
Bild: Aleppo liegt noch in Trümmern. Hier hat Mustafa Fahham vor Jahren sein M… | |
Der grauschimmernde Minivan, der die Schlaglöcher abfedert, überholt die | |
weißen, zerkratzten 9-Sitzer voller Menschen, die Männer vorne, die Frauen | |
hinten, Kinder überall, die entlang der Landstraße holpern. Der | |
grauschimmernde Minivan überholt das Moped, auf dem der Fahrer, ein | |
korpulenter Mann in schwarzem Gewand und roter Kefiyah, eine Frau mit | |
schwarzem Gesichtsschleier und Jacke mit Leopardenmuster sowie ein junges | |
Mädchen sitzen. | |
Im grauschimmernden Minivan sitzt Mustafa Fahham und schaut nachdenklich | |
aus dem Fenster. Auf die karge Landschaft, die trockene, rote Erde, die | |
sich in goldene und grüne Streifen am Horizont auflöst, auf die Olivenbäume | |
und Kiefern am Rand, auf die weißen Sandsteinhäuser in der Ferne. Die Luft | |
ist noch frisch, doch die ersten Sonnenstrahlen des Morgens erwärmen sie | |
bereits. | |
Fahham sitzt in grünem T-Shirt und Jeans hinten im Wagen, neben ihm hängt | |
ein blauer Anzug mit blütenweißem Hemd von einem Bügel. Fahham hat in einem | |
schönen Hotel im modernen Teil Aleppos übernachtet, doch heute Morgen einen | |
Bogen um den Frühstückstisch gemacht. Wieso, das wird er später erklären. | |
Heute ist ein wichtiger Tag im Leben des 35-jährigen Mediziners. Beruflich, | |
aber vor allem persönlich. | |
Mustafa Fahham ist Nierenarzt. Diplomiert in Aleppo, weitergebildet in | |
Hamburg. Einer der 169.280, die sich [1][seit 2011 in Deutschland] haben | |
einbürgern lassen. Weil sie in der Bundesrepublik ihre Zukunft sahen. In | |
Syrien, da wo sie und Fahham herkommen, gab es für sie keine Zukunft. Nur | |
Krieg, Repression, Folter. Und Tod, Tränen, Trauer. Verlust. | |
## Aufstehen! Assad ist gestürzt! | |
Am 8. Dezember 2024 [2][fällt nach 24 Jahren Terror das Regime] des | |
syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Eine Rebellenkoalition, angeführt | |
von der islamistischen Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), übernimmt die | |
Macht nahezu über Nacht. Und fast ohne Blutvergießen. | |
Fahham sitzt in jener Nacht vor dem Fernseher in seiner Wohnung, in einem | |
Mehrfamilienhaus in Bremerhaven-Geestendorf, das Handy in der Hand, und | |
kann nicht aufhören, die Nachrichten zu verfolgen, die pausenlos über den | |
Bildschirmen flimmern. Seine Augen sind durch tiefe Ringe gezeichnet, | |
geschlafen hat er kaum in den letzten drei Nächten. Frustriert ist er, weil | |
er den Einmarsch der Rebellen mit eigenen Augen sehen wollte. Doch nach | |
Syrien kann er jetzt nicht, im deutschen Krankenhaus wartet man auf ihn. | |
Aber dass es jetzt wirklich klappt, Assad zu stürzen? Dreizehn Jahre lang | |
haben wir es versucht, sagt er. Ohne Erfolg. | |
Bis eben war er mit seiner Frau und den zwei Kindern bei Freunden. Um 23 | |
Uhr sind sie nach Hause gegangen, bis 2 Uhr ist Fahham wach. Dann ist er so | |
müde, dass er kurz eindöst. Doch plötzlich, es ist 4 Uhr, klingelt das | |
Handy. Aufstehen! Assad ist gestürzt!, schreit ihn die Stimme am anderen | |
Ende der Leitung an. Ein unglaublich emotionaler Moment, sagt er und zeigt | |
ein Bild von sich vor dem Fernseher, Syria-TV-Nachrichten im Hintergrund | |
und ein schläfriger Fahham vorne. | |
In jenen zwei Stunden, als Fahham schläft, marschieren die Rebellen durch | |
die Straßen von Damaskus. Anführer Ahmed al-Scharaa spricht noch am selben | |
Tag aus der antiken Umayyad-Moschee an die Nation, er spricht von „Sieg“ | |
und „neuer Geschichte“. Assad hat in den frühen Morgenstunden das Land an | |
Bord eines Flugzeugs in Richtung Russland verlassen. Seine Soldaten haben | |
ihre Stellungen aufgegeben und sind zu ihren Liebsten nach Hause geflohen. | |
Es ist ein neuer Tag, es ist ein neues Syrien. | |
## Er beschließt seine Rückkehr | |
Fast vier Monate später, am 15. März, wieder in Fahhams Wohnung in | |
Bremerhaven: Es ist genau 15 Jahre her, dass ein erster Protest den Beginn | |
der Syrischen Revolution markiert. Es ist Ramadan und Fahham fastet, öffnet | |
aber eine Packung Hanuta für den zweijährigen Mohammad, den jüngsten Sohn, | |
ein Kleinkind in buntem Pyjama und Socken, mit blauen Augen und | |
dunkelblonden Haaren, der ihn Baba nennt. | |
Im Wohnzimmer liegen Teppiche mit Blumenmuster unter den weinroten Sofas, | |
das Bild von einem Holzsteg im Sonnenuntergang hängt an der Wand – typisch | |
norddeutsch. Auf der anderen Seite stehen weiße arabische Laternen und ein | |
Ramadan-Kalender. Ein blumiger Duft liegt in der Luft. Die zwei Kinder | |
kreischen und spielen Fangen zwischen den Sofas, das jüngere nibbelt ab und | |
zu an seiner Schokowaffel. | |
Noch lässt nichts erahnen, dass sich die Familie gerade auf eine der | |
wichtigsten Reisen ihres Lebens vorbereitet. An jener Nacht im Dezember hat | |
Fahham beschlossen, nach über elf Jahren Abwesenheit in die vom Krieg | |
zerrüttete Heimat zurückzukehren. Für ein paar Wochen zumindest. | |
Fahham zieht den Kindern Wollmützen und Schals an, sie rennen zur Tür. | |
Raus, zum See, wenige Hundert Meter von der Wohnung entfernt, in die kühle | |
Morgenluft. In Bremerhaven gibt es nicht so viel Grün, nicht so viel Natur | |
wie auf den Feldern und in den Obstgärten um seine Heimatstadt Idlib. „Wir | |
sind bekannt für Olivenbäume, Feigenbäume“, sagt er. | |
## Freude und Angst | |
In Deutschland hat sich Fahham ein schönes Leben aufgebaut. Er meistert die | |
Sprache, dafür hat er sich in den ersten Jahren Mühe gegeben, hat Freunde, | |
wenn auch die engeren aus Syrien stammen, kennt die besten syrischen | |
Restaurants in Bremen und Bremerhaven, wenn das Heimweh mal wieder | |
anklopft. Er hat sich eingelebt. Sein ältestes Kind spricht akzentfreies | |
Deutsch. Doch der Gedanke an die Heimat, der ist nie ganz erloschen. | |
Vierhundert Meter und drei Straßen weiter erstreckt sich ein kleiner See, | |
umgeben von bunten, noch nicht ganz aufgegangenen Frühlingskrokussen und | |
leeren Sitzbänken. Eine Ente lässt sich auf der Wasseroberfläche treiben, | |
eine Trauerweide streckt die Zweige gen Wasser. Fahham setzt sich auf eine | |
Bank am Deich, allein, und denkt nach. Verschiedene Emotionen kämpfen in | |
ihm. Freude, nach so vielen Jahren, nach so langer Zeit nach Syrien | |
zurückzukehren, seine Heimatstadt wiederzusehen. Aber auch Angst. | |
Fünfhundert Syrer*innen sind inzwischen aus Deutschland langfristig | |
zurückgekehrt, viele mehr kurzfristig, auch in Fahhams Umfeld. Und sie | |
sagen: ‚Du wirst ein anderes Syrien erleben. Du wirst deine Heimatstadt | |
nicht wiedererkennen. Viele Orte, die du kennst, sind nicht mehr da.‘ | |
Jetzt sitzt Fahham an diesem Aprilmorgen im grauschimmernden Minivan | |
Richtung Heimat, und denkt nach. Über seine Rede, über den Vortrag, den er | |
am Uniklinikum in Idlib in vier Stunden halten wird. Und sicherlich über | |
vieles anderes, seine Familie, seine Reise. Er schickt ein paar | |
Sprachnachrichten, während draußen Jugendliche Schafe weiden. Fahham | |
spricht ruhig und bedacht, stets um Freundlichkeit und Korrektheit bemüht. | |
## Beatmungsgeräte aus Deutschland | |
Heute ist der große Tag. Der Tag, an dem er nach elf Jahren als Sieger in | |
seine Heimatstadt zurückkehrt. An dem sich elf Jahre Abwesenheit in Luft | |
auflösen sollen. Der Verbindungspunkt, der den Einschnitt dieser Jahre | |
verschließt. Als frisch diplomierter Medizinstudent ist er gegangen, als | |
gestandener Oberarzt kommt er zurück. | |
Als jemand, der Konferenzen an Universitäten hält, der sich mit Ministern | |
trifft. Fahham, der eigentlich Medienschaffender sein wollte, doch keine | |
Zukunft für den Journalismus unter Assad sah, hat einen Verein | |
mitgegründet. Dieser soll das Gesundheitswesen in Syrien unterstützen. Von | |
Deutschland aus. Beatmungs- und Dialysegeräte, Workshops, Spenden, | |
Weiterbildung. Syrian German Medical Association sein Name, gut 300 | |
Mitglieder. | |
Fahham kümmert sich um die PR, die Leidenschaft für die Medien ist | |
geblieben. Auch deshalb ist er nach Aleppo und Idlib gefahren. Sich einen | |
Blick in den dortigen Krankenhäusern verschaffen, Ideen entwickeln, Treffen | |
arrangieren, Öffentlichkeitsarbeit leisten. Vorträge halten. Der 35-Jährige | |
mit den silbernen, seitlich kurz geschnitten Haaren und getrimmtem Bart | |
sieht leicht nervös aus. Dafür hat er Gründe. | |
Vierzehn Jahre zuvor kam der Frühling in Fahhams Land an. Doch nicht Blumen | |
sprossen aus der Erde, sondern Gräber. Nicht Vogelgezwitscher füllte den | |
Himmel, sondern Explosionen und Schreie. Die Revolution, von der Fahham und | |
seine Kommiliton*innen an der Universität von Aleppo geträumt hatten, | |
wandelte sich in ein Massaker. | |
## Als der Widerstand gewaltsam gebrochen wurde | |
Als sich die erste Demo in Idlib zusammenfindet, im April 2011, schauen | |
sich eine Gruppe junger Männer und Frauen in die Augen, gut 500 sind es, | |
die sich neben der Moschee versammelt haben. Ängstlich, kaum einer traut | |
sich, das laut zu rufen, was alle denken. Dass Assad wegmuss, dass die | |
Menschen genug haben vom Regime, von Terror und Korruption. Dann bricht | |
jemand das Schweigen, der Protest nimmt seinen Lauf. Die erste | |
Demonstration verläuft friedlich, doch nach und nach verschwinden viele | |
Teilnehmer*innen hinter den Gittern des Regimes. | |
Drei Proteste später, einen Monat danach, verschwinden die Menschen nicht | |
mehr leise, sie werden direkt begeschossen. Ein junger Mann stirbt, Fahham | |
ist dabei. Auf einem vergilbten Bild, das er mit nach Deutschland genommen | |
hat, sieht man zwei Männer mit einer syrischen Flagge, sie stehen auf dem | |
Vordach des Eingangstors der Universität von Aleppo, der Name ist dort in | |
arabischer Schrift gemalt. Unter ihnen jubelt eine Menschenmenge. „Hier | |
haben wir die Uni erobert“, sagt Fahham. Das Datum: 17. Mai 2012. Auf dem | |
nächsten Bild sieht man acht junge Männer in weißen Kitteln, sie essen | |
Kuchen und trinken Orangensaft. Auf dem dritten Bild trägt eine | |
Menschenmenge die Leiche eines gefolterten Medizinstudenten, der | |
Demonstrierende behandelte. | |
Vor über elf Jahren ist Fahham gegangen. Denn parallel zu den Prüfungen hat | |
er Demonstrationen gegen Assad vorbereitet. Sicher ist es für ihn nicht | |
mehr. Und eine Familie zu gründen, mitten im Bürgerkrieg – kaum zu denken. | |
„Meinungsfreiheit war ein Fremdwort, Korruption war sehr verbreitet. Assad | |
hat versucht, Alawiten gegen Sunniten auszuspielen. Viele Bekannte sind | |
verhaftet worden. Was man jetzt in Sednaya gefunden hat, das kennen wir | |
schon lange.“ | |
Also geht er. 2013, als in Aleppo heftige Gefechte zwischen Rebellen und | |
Pro-Assad-Truppen die Altstadt in Schutt und Asche legen, schließt er sein | |
Medizinstudium ab. 2014 fährt er nach Istanbul, im Oktober landet er in | |
Hamburg. [3][Einer der fast 6.000 syrischen Ärzt*innen], die das deutsche | |
Gesundheitswesen mit am Leben halten. Einer, von dem der öffentliche | |
Diskurs abwechselnd sagt, er werde unsere Renten zahlen, und er solle | |
zurück in sein Heimatland. Mal ist er Rettung des deutschen | |
Gesundheitssystems, mal Bedrohung der deutschen Leitkultur. | |
## Geschmacksreise in die Vergangenheit | |
Jetzt, elf Jahre später, ist Fahham wieder da. In den Straßen Idlibs, die | |
vor Staub und Lärm strotzen, auf denen alte Mopeds an den Läden | |
vorbeituckern. Läden, in deren geschwärzte Wände sich Abgase und Zeit | |
eingefressen haben. Verkäufer stellen Obst und Waren auf dem Gehweg aus, | |
daran vorbei laufen mit schnellen Schritten Frauen in schwarzen Gewändern, | |
die Gesichtsschleier über Mund und Nase, sowie Soldaten in Tarnfleck mit | |
Kalaschnikows auf dem Rücken. Und Kinder, viele Kinder. Ein harter | |
Gegensatz zur ordentlichen Ruhe Bremerhavens. | |
Fahham ist nicht allein, vier syrische Ärzte aus Deutschland fahren mit. | |
Sie tauschen sich aus über Fußball, über Orte, an denen man US-Dollar | |
wechseln kann. Der grauschimmernde Minivan überquert einen Verkehrskreisel | |
und biegt in eine Nebenstraße ab. Fahhams Gesicht heitert sich langsam auf, | |
der Minivan nähert sich einer alten, teils zerbombten Moschee mit einem | |
unauffälligen Minarett. „Hier habe ich oft gebetet, die Wohnung von meinen | |
Großeltern lag da, hier habe ich meine Kindheit verbracht!“, ruft Fahham | |
begeistert, als er aus dem Minivan steigt. „Wenn ich mir das so ansehe, | |
kommen viele Gefühle hoch, ja“, sagt er. Seine Augen glänzen. | |
Alt und optisch nicht ansprechend ist das Viertel, das weiß Fahham. Für ihn | |
aber: wunderschön. Jetzt wird klar, wieso er heute Morgen nicht | |
gefrühstückt hat. Die fünf Ärzte, die mit ihren T-Shirts und Rucksäcken | |
eher wie Touristen als Einheimische aussehen, streben mit sicherem Schritt | |
zurück in Richtung Kreisel. An einer Straßenecke liegt ein unauffälliger | |
Laden: Patisserie Habush. | |
Die Aufschrift ist knallrot, und mit den glänzenden Neonlampen wirkt er ein | |
bisschen wie eine US-Imbissbude, vor der Kasse stehen gut ein Dutzend | |
Menschen Schlange. Ein Geruch von Butter und Zucker strömt aus dem Ofen. 15 | |
Minuten Wartezeit, während die Köche den Teig kneten, ihn mit Creme füllen | |
und Zuckersirup tränken, mit Walnüssen und Pistazien bestreuen, et voilà, | |
fertig ist Shaibiyat, das süße Gebäck, für das Idlib bekannt ist. Und auf | |
das hier Jung und Alt, Soldaten inklusive, warten. Bitteren Kardamomkaffee | |
servieren die Kellner in kleinen Plastikbechern dazu. | |
## Haus der Kindheit | |
Lange musste Fahham warten, um diesen süßen Geschmack wieder zu kosten. So | |
lange, dass die 15 Minuten wie im Wimpernschlag verfliegen. „Ich bin jetzt | |
zwölf Jahre zurückgereist“, sagt Fahham. Die Gruppe stürzt sich auf die | |
Tellerchen, konzentriert und mucksmäuschenstill. | |
Wenige Minuten später sind sie wieder draußen, nach und nach trennen sich | |
ihre Wege, jeder begibt sich in eine andere Richtung, eine andere Klinik. | |
Bedürfnisse erfragen, Operationen durchführen, sich schwierige Fälle | |
ansehen. Alle gehören demselben Verein an, alle verfolgen dasselbe Ziel: | |
etwas zurückgeben von dem Glück, das sie sich erkämpft haben. Fahham weiß, | |
dass er privilegiert ist, dass er sich in Deutschland ein gutes Leben | |
aufbauen konnte. Dass ein Arzt dort gut hundert Mal so viel verdient wie | |
einer hierzulande. Dass seine Kinder nicht im dröhnenden Lärm der | |
Explosionen und Schüsse aufwachsen mussten. | |
Aber davor muss der 35-jährige Arzt noch was erledigen: noch einmal das | |
Haus seiner Kindheit sehen. Jetzt links, in die Straße rein lotst er den | |
Fahrer. In einem ruhigen Wohnviertel steht ein vierstöckiges Haus aus | |
weißem Sandstein mit Holztür. Hohe Kinderstimmen aus der Schule nebenan | |
schießen in die Luft wie Feuerwerk. Ein junger Mann lehnt sich aus dem | |
Balkon in der vierten Etage und winkt. | |
Fahham lächelt und winkt zurück, überfliegt nahezu die acht Treppen bis zu | |
Wohnungstür, schon ist er da, umarmt den jungen Mann, sie nehmen sich in | |
die Arme und lachen. Er bittet Fahham rein, der streift sich die Schuhe ab, | |
tritt durch die Tür, schaut sich um, staunend und strahlend zugleich. Jetzt | |
ist er wieder zu Hause. „Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben, das ich | |
gerade empfinde? Ich kann es nicht. Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung | |
gegangen ist. Ich hätte nie davon geträumt, dass ich meine alte Wohnung | |
wiedersehe.“ | |
## Sicher im eigenen Land | |
Als Fahham vor fünf Tagen die syrisch-libanesische Grenze überquert hat, | |
war es so dunkel, dass er kaum was sehen konnte. Gemerkt hat er nur den | |
Gesichtsausdruck des Grenzbeamten: freundlich. Ein bis dahin unbekanntes | |
Gefühl überkommt ihn: das Gefühl, im eigenen Land sicher zu sein. Die Angst | |
ist weg. Zum ersten Mal hat er eine Heimat, sagt er. | |
In Aleppo, dessen Altstadt wie ein schreckliches, doch wunderschönes | |
Denkmal teils noch in Trümmern liegt, trifft Fahham auf alte Kommilitonen | |
und Professoren, schlendert durch Hörsäle und Zimmer des Uniklinikums, in | |
denen er einst arbeitete, hält einen Vortrag, der mit dem Zeichentrickfilm | |
über einen 20-jährigen Mann beginnt, der Medizin studiert und zusieht, wie | |
ein Kommilitone Demonstranten hilft und von Assads Kräften getötet wird. | |
Die Zeichentrickfigur ist der jüngere Fahham. Dann spricht er über die | |
Arbeit seines Vereins, über das Gesundheitswesen in Syrien und Deutschland. | |
Er lächelt, beantwortet Fragen, schüttelt Hände. | |
Er sitzt am Tisch mit seinen Kollegen in einem raffinierten Restaurant | |
entlang der einstigen Kampflinie, isst Baba ganoush, Auberginenpüree, und | |
Fladenbrot mit Fleisch, spaziert am Abend durch die Altstadt, als das | |
orangene Licht des Sonnenuntergangs die Trümmer rosarot tüncht, redet frei | |
mit den Kollegen über Politik, über Wiederaufbau. „Schau mal auf | |
Deutschland nach dem Krieg“, sagt einer. Dann will Fahham früh ins Bett, | |
morgen wird ein langer Tag. Morgen geht es nach Idlib. | |
Jetzt ist er da, in Idlib, in seiner alten Wohnung, fünf Zimmer, hohe | |
Decken, rote Sofas, moderne Küche und Fahham lächelnd mittendrin. Er | |
unterhält sich mit dem entfernten Verwandten, der jetzt in seiner Wohnung | |
lebt, sie sprechen über Bekannte, die ausgewandert sind, weil es kaum noch | |
Jobs gibt, essen Gebäck mit Datteln. | |
## Fahhams großer Auftritt | |
Es ist fast 12 Uhr und Fahham muss sich schnell umziehen, mit raschen | |
Bewegungen streift er sich Krawatte und Anzug über. Die Anspannung ist | |
hinter dem Lächeln sichtbar. Das Uniklinikum in Idlib ist noch teils im | |
Aufbau, der Eingang staubig, die Wände durchfressen, die Türrahmen rostig. | |
Die Patient*innen, zwischen denen sich Fahham durchschlängelt, sammeln sich | |
in den Fluren, sitzen auf Tragen und Stühlen. | |
Endlich erreicht er den Hörsaal. Hier sitzen Frauen und Männer getrennt, | |
die Frauen auf der linken Seite, die Männer auf der rechten. Die Treppe | |
dazwischen bildet eine unsichtbare Trennwand. Noch spricht sein Vorredner. | |
Fahham unterhält sich mit einigen Männern, dann geht er langsam auf das | |
Podest zu. Der Redner verabschiedet sich, einige Student*innen stehen | |
auf, einige verlassen das Auditorium. Pause. | |
Fahham checkt den Laptop, steckt den USB-Stick ein, testet sein Headset. Es | |
funktioniert nicht. Alle setzen sich wieder auf ihre Plätze, gleicht geht | |
es los. Fahhams Stimme hallt plötzlich in dem Raum. Das Zeichentrickbild | |
des jungen Mannes, der in weißem Kittel zur Uni geht, läuft die über die | |
Leinwand. Fahham lächelt. | |
Acht Tage später ist Fahham wieder in Bremerhaven. Er sitzt auf dem | |
komfortablen Sofa seines Wohnzimmers, der jüngste Sohn kreischt im | |
Hintergrund. Im Videoanruf erzählt der Nierenarzt, dass er mit der | |
Veranstaltung in Idlib zufrieden war. Stolz, auch wenn der Vortrag derselbe | |
war, den er in den anderen Städten gehalten hat. Für ihn aber hatte dieser | |
einen besonderen Geschmack. Schade, dass er dann sofort wegmusste, dass die | |
Zeit in Idlib so kurz war. | |
## Großes Glück – für kurze Zeit | |
Er erzählt aber auch, dass Kinder in Nordsyrien sterben, weil es dort keine | |
Geräte für Peritonealdialyse gibt, die Abfall aus dem Bauch herausfiltern, | |
wenn die Nieren nicht mehr arbeiten. Dass es schwer war, Ärzte nach Latakia | |
zu schicken, weil viele Angst hatten nach der [4][Gewalt an den | |
Alawit*innen im letzten Monat]. Dass die Reise viel zu kurz war, dass | |
zwölf Tage nicht fast zwölf Jahre Abwesenheit wieder gutmachen können. | |
Schon vermisst er die Lebendigkeit des syrischen Lebens, das Chaos. Es ist | |
ein Heimweh, das lange in ihm schlummerte, das tief in ihm begraben war und | |
nun wieder erweckt ist. Die Reise: wie ein Traum, aus dem er noch nicht | |
ganz aufgewacht ist. Eine neugefundene Hoffnung, so wie die Hoffnung für | |
die Zukunft, die auf den Straßen Syriens schwebte. Eine Wiedergeburt, sagt | |
Fahham. Pure Glückseligkeit. „Viele Gefühle, die in mir gestorben waren, | |
sind wieder ins Leben gekommen.“ | |
Die nächste Reise hat Fahham noch nicht gebucht, aber sie kommt bestimmt. | |
Aber für etwas Dauerhaftes müsste die Sicherheitslage in Syrien schon | |
stabiler werden. Er hat Kinder, Risiken will er nicht eingehen. Und eine | |
berufliche Perspektive dort müsste her. Aber irgendwann kehrt er zurück, | |
vielleicht für länger. | |
31 May 2025 | |
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[1] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/syrische-fluechtl… | |
[2] /Sturz-des-Assad-Regimes/!6054210 | |
[3] /Syrische-Aerzte-in-Deutschland/!6066187 | |
[4] /Syrien-nach-dem-Sturz-von-Assad/!6074900 | |
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